Einleitung
Die Antike war eine Blütezeit von Siedlungen unterschiedlicher Art. Ihre Zahl scheint beinahe grenzenlos gewesen zu sein. Als vor einigen Jahren Wissenschaftler an den Universitäten in New York und Chapel Hill in North Carolina gemeinsam begannen, diese in einer digitalen Karte zu markieren, benannten sie das Projekt nach dem Sternbild Pleiades. Der Name bezeichnet treffend, was man bei einem Blick auf die Karte mit mittlerweile nahezu 36.000 Orten – deren Zahl aber täglich weiterwächst – vor Augen zu haben glaubt: einen Sternenhimmel, bestehend aus unzähligen Punkten.
Wenn man sich der digitalen Karte nähert, erscheinen wie bei einem Blick durch ein Teleskop in den Nachthimmel immer mehr Punkte und Orte. Solch eine Annäherung an einzelne Landschaften etwa Griechenlands oder Italiens ist angesichts der Dichte der Städte, Städtchen und Dörfer überwältigend. Und dabei sind in der digitalen Karte nur die größeren Siedlungen berücksichtigt. Es fehlen all die Weiler und Gutshöfe, die bei einer Kartierung nicht mehr ein Sternbild, sondern gewissermaßen Sternennebel wie in fernen Galaxien ergäben.
Noch spektakulärer wäre gleichwohl der Eindruck, wenn man diachron durch die Zeiten gleiten könnte. Gründung, Entstehung, Zerstörung und Aufgabe von Orten waren in der Antike allgegenwärtig. Statt eines Nachthimmels mit festen Sternbildern sähe man ein Glitzern und Blinken von laufend neu entstehenden und verschwindenden Orten. Da es archäologische Zeugnisse und schriftliche Nachrichten darüber gibt, wann sie entstanden und wieder untergingen, könnten wir dieses Blinken und Glitzern recht gut rekonstruieren.
Man sollte sich das Bild der zahllosen Orte zudem vielfarbig vorstellen – genauso bunt wie man den echten Sternenhimmel in starker Vergrößerung etwa durch das Hubble-Teleskop sieht. So verschiedenfarbig sind in der Nahsicht antike Orte. Keiner gleicht dem anderen, alle haben sie ihre eigene, unverwechselbare Farbe, die durch den Naturraum, die Bewohner und ihre Geschichte geprägt ist. Natürlich gab es Gemeinsamkeiten. Daher vermochten die Menschen, andere Städte und Orte zu verstehen und sich in ihnen zu orientieren. So fand sich ein syrischer Seemann im 1. Jahrhundert n. Chr. problemlos in Massalia (dem heutigen Marseille) in Südgallien zurecht. Dennoch fielen ihm selbstverständlich die Besonderheiten in Stadtbild, Architektur oder Kleidung der Bewohner auf. Und diese Einzigartigkeit ist charakteristisch: Die antike Welt der Städte und Orte war in erster Linie eine Welt der überwältigenden Unterschiedlichkeit, Diversität und Variation.
Diese vielfältige Lebens- und Erfahrungswelt und ihre zeitgenössische Wahrnehmung sind Gegenstand dieses Buches. Es geht dabei um die gesamte antike Welt. Wir reisen in den Hindukusch, nach Indien, Mesopotamien, in die Türkei, nach Nordafrika, durch Europa, weit in den Norden jenseits der Shetland-Inseln und selbst in die Unterwelt. In dieser weiten antiken Welt kann man sich immer wieder von unbekannten und unerwarteten Orten überraschen lassen. Jenseits der prominenten Städte und Orte, die heute oft in Büchern vorgestellt werden und für eine recht homogene antike Stadtkultur stehen, gibt es zahllose, aus unserer Sicht sehr eigenartige Plätze. Sie weisen überraschende, bisweilen irritierende Besonderheiten auf, die sie markant vom vielfach Bekannten unterscheiden und ihnen eine individuelle Signatur verleihen, sie einzigartig und seltsam erscheinen lassen. Wer sie besucht, kann eine antike Kultur jenseits der gängigen Vorstellungen studieren und eine antike Welt bereisen, von der mitunter selbst Fachleute nicht wissen, dass sie existierte. Wir nehmen sie als merkwürdig wahr, da sie uns auf ganz ungewöhnliche Weise wie in einem Brennspiegel die andere Seite der Antike zeigen. Über diese Orte wissen wir aus Quellen, die uns einen tiefen Einblick in den Kosmos antiken Lebens gewähren und uns Zugänge in ferne Lebenswelten eröffnen, wie sie sich andernorts nicht finden.
Die Faszination, die von diesen seltsamsten Orten der Antike ausgeht, korrespondiert mit dem Interesse an seltsamen Orten in heutigen Städten und Landschaften. Die Neugierde auf Besonderes teile ich mit vielen Zeitgenossen, die mehr sehen und verstehen wollen, als ihnen handelsübliche Reiseführer und städtische Hinweisschilder über gängige Sehenswürdigkeiten verraten. Mir geht es darum, über den Alltag uniformer Stadtbilder hinauszugelangen. Mich locken Randzonen, Gegenwelten und kreative Räume, die zwar fester Bestandteil unserer Kultur, aber jenseits der eintönigen Fußgängerzonen heutiger Innenstädte mit der immer gleichen Ansammlung von Flagship-Stores zu finden sind.
Man kann versuchen, seinen Blick für das Besondere zu schulen – nicht nur, um wunderbare Erfahrungen zu machen, sondern um ein besseres Verständnis unserer Welt zu erlangen, wie es etwa Roger Willemsen in seinem Buch Die Enden der Welt oder Christoph Ransmayr in seinem Atlas eines ängstlichen Mannes gelungen ist. Man kann in seiner eigenen Umgebung und im Kleinen beginnen oder den Blick zurück in die Geschichte wenden. Dies hat in faszinierender Weise immer wieder der Osteuropahistoriker Karl Schlögel getan – als ein Beispiel sei nur auf sein Buch mit dem programmatischen Titel Im Raume lesen wir die Zeit verwiesen.
Seltsame Orte haben etwas mit der Eigenart von Denkmälern in Städten gemeinsam, wie der österreichische Schriftsteller Robert Musil 1935 in seinem Nachlaß zu Lebzeiten bemerkte: «Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.» Die Aufmerksamkeit «rinnt Wassertropfen-auf Ölbezug-artig an ihnen ab». Während wir jedes Geldstück auf der Straße sofort sähen, falle uns eine bronzene Erinnerungstafel an eine bedeutende Person erst auf, wenn wir «eines Tages nach einem hübschen Stubenmädchen ins erste Stockwerk schielt(en)». Überlebensgroße Standbilder dienten uns zur Orientierung im Raum, ohne dass wir sagen könnten, wen sie darstellen. Denkmäler, so der Schriftsteller zuspitzend, «verscheuchen geradezu das, was sie anziehen sollten».
Auch dem Fachmann fällt es nicht leicht, für seltsame Orte in den alltäglichen Welten der Antike ein spezielles Sensorium zu entwickeln. Auch wir haben uns an die Bildbände zu antiken Orten oder Kompendien zu antiken Städten gewöhnt, die immer das Gleiche zeigen. Wie sehr diese Bücher, Bilder und Postkartenmotive unser aller Blick und Wahrnehmung lenken und beherrschen, lässt sich sehr schön in Rom, Athen oder den Ruinen von Pompeii beobachten. Man muss nur jene Orte identifizieren, wo sich größere Ansammlungen von Touristen mit Selfie-Sticks finden lassen: Solche Bilder, die man ‹Ich und die allseits bekannten Orte› nennen kann, sind im jährlich wachsenden Stadttourismus die visuellen Trophäen des Urlaubs und beliebte Posts in den sozialen Netzwerken.
Mich interessiert demgegenüber das ‹scharf gestochene Fragment› und die ‹tückische Einzelheit›, wie der Autor und Filmemacher Alexander Kluge es einmal ausgedrückt hat. Diese stehen im Zentrum auch dieses Buches. Das können kleine Plätze in einer Stadt sein, aber auch historische Phasen mit eigentümlichen Entwicklungen einzelner Städte, die es schaffen, unseren Blick auf allgemeine Merkmale antiker Kulturgeschichte zu weiten. Es können mitunter Plätze sein, welche die antiken Zeitgenossen alles andere als seltsam erlebten, und solche, die nie existierten, aber für sehr real gehalten wurden.
Die Suche nach dem Besonderen und Seltsamen ist beileibe kein Kulturmerkmal der Moderne. Menschen in der Antike haben ebenfalls, und zwar selbst im Alltag, den ‹besonderen› Ort gesucht. Man hat sich von solchen Orten erzählt, hat sie als interessierter Tourist besichtigt oder, wenn man ihm eine besondere Nähe zu einer mächtigen Gottheit zuschrieb, ihn als verzweifelter Hilfesuchender und Kranker aufgesucht. In der Einheit und vielleicht auch Gleichförmigkeit des Alltags hat man dem Besonderen, dem Außergewöhnlichen und Mysteriösen geradezu nachgespürt, um sich die ganze Vielfalt der Welt und des Götterhimmels zu erschließen. Die antike Literatur über berühmte und besondere Orte, von der uns nur wenige Fragmente erhalten geblieben sind, war entsprechend umfangreich.
Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass die antiken Menschen von seltsamen Orten und Gegenwelten geradezu besessen waren. Überall in den Städten und Landschaften sah man in Gräbern, an Felsen, in Grotten und Wäldern das Wirken von Göttern, Geistern und Dämonen. Die Werke der sogenannten Paradoxographen, die von Eigentümlichkeiten der Tierwelt, des Wassers und fremder Länder kündeten, waren eine begehrte Lektüre. Das Gleiche galt für...