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Die Stalingrad-Protokolle

Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht

AutorJochen Hellbeck
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl608 Seiten
ISBN9783104020594
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Aufsehenerregend und authentisch: die Schlacht von Stalingrad aus sowjetischer Perspektive. Im Dezember 1942 reiste eine Gruppe von Moskauer Historikern nach Stalingrad. Sie wollten die seit Monaten währende Schlacht, die von der Weltöffentlichkeit mit angehaltenem Atem verfolgt wurde, für die Nachwelt festhalten, aus der Sicht der Menschen, die dort kämpften.  Sie sprachen mit Kommandeuren und einfachen Soldatinnen und Soldaten, mit Kommissaren, Scharfschützen und Sanitäterinnen. Auch Bewohner der Stadt berichteten schon während der Kämpfe von ihren Erlebnissen - offen und hautnah.  Diese einzigartigen Gesprächsprotokolle haben den Blick auf die Schlacht, die den Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg markierte, fundamental verändert. Sie enthüllen das Selbstverständnis und die Motivation der Rotarmisten und ihre Wahrnehmung der deutschen Gegner.  Nach dem Krieg gerieten die Stalingrader Protokolle unter Verschluss und verschwanden im Archiv. Siebzig Jahre nach der Schlacht wurden sie von Jochen Hellbeck in der ersten Ausgabe dieses Buches präsentiert - zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs erscheint es erneut.

Jochen Hellbeck, geboren 1966 in Bonn, hat in Berlin, Leningrad, Bloomington und New York Geschichte und Slawistik studiert und lehrt an der Rutgers University (USA). Veröffentlichungen u. a.: ?Tagebuch aus Moskau 1931-1939? (1996), ?Autobiographische Praktiken in Russland? (2004), ?Revolution on My Mind: Writing a Diary under Stalin? (2006).

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Leseprobe

Entscheidungskampf


Die Schlacht um Stalingrad markiert einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Von ihren Führern Hitler und Stalin angehalten, keinen Schritt zurückzuweichen, kämpften riesige Armeeverbände über sechs Monate hinweg um den Besitz der Stadt, die den Namen des sowjetischen Diktators trug. Die Schlacht endete mit der Einkesselung und Vernichtung einer gesamten deutschen Feldarmee. Es war die bislang größte Niederlage in der deutschen Militärgeschichte. Im Moment der Niederlage erschien Stalingrad hellsichtigen Deutschen wie ein Zeichen an der Wand.[8] Aus sowjetischer Sicht markierte Stalingrad den bisher größten Sieg über die deutschen Besatzer. Im Zuge der Schlacht rückte die Handlungsinitiative im Krieg von der deutschen auf die sowjetische Seite. Nach Stalingrad ging es fast nur noch nach Westen, Richtung Berlin.

Nach den zum Stehen gekommenen deutschen Angriffen auf Leningrad, Moskau und Sewastopol im Herbst 1941 und den sowjetischen Gegenoffensiven im Winter plante Hitler für das zweite russische Kriegsjahr eine umfassende Sommeroffensive unter dem Decknamen »Operation Blau«. Sie begann am 28. Juni 1942 mit einem Großangriff an der russisch-ukrainischen Südfront und sollte Deutschland in den Besitz wichtiger Rohstoffquellen bringen – der Kohlegebiete vom Donbass und der Ölfelder von Maikop, Grosny und Baku. Die Panzer- und motorisierten Infanterieverbände der Deutschen kamen rasch voran; ihre Zangenbewegungen griffen jedoch meist ins Leere, weil sich die Divisionen der Roten Armee rasch zurückzogen und so vor der Einschließung retten konnten. Im Glauben, dass sich die gegnerischen Truppen bereits auflösten, spaltete Hitler seine angreifenden Verbände in zwei Teile auf. Heeresgruppe A sollte geradewegs auf den Kaukasus zustoßen, Heeresgruppe B nach Nordosten abdrehen und Flankensicherung üben. Die Speerspitze in der Heeresgruppe B bildete die 6. Armee von Generaloberst Paulus. Unterstützt von rumänischen Verbänden, erhielt sie den Auftrag, die Industriestadt Stalingrad an der Wolga zu erobern.

Zu diesem Zeitpunkt mochte auch sowjetischen Beobachtern scheinen, dass der Krieg bereits entschieden war. Ein Blick auf die Landkarte verdeutlichte den Ernst der Lage: »Dieser Krieg im Süden, am Unterlauf der Wolga, schafft ein Gefühl, als wäre ein Messer tief in den Leib gerammt worden«, notierte der Schriftsteller Wassili Grossman[9] im August 1942 in seinem Tagebuch.[10] Die sowjetische Führung reagierte nun mit härtesten Maßnahmen. Als Rostow am Don fast kampflos in deutsche Hände fiel, erließ Stalin den berüchtigten Befehl Nr. 227 »Keinen Schritt zurück«.[11] Jeder, der fortan ohne ausdrücklichen Befehl vor dem Feind zurückwich, sollte als »Vaterlandsverräter« behandelt werden. Deserteure waren an Ort und Stelle zu erschießen. In der Schlacht um Stalingrad kam dieser drakonische Befehl erstmals zur Anwendung. Stalingrad erstreckt sich wie ein Band vierzig Kilometer längs des Westufers der Wolga. »Keinen Schritt zurück« bedeutete für die Verteidiger der Stadt, dass es für sie hinter der Wolga keine Rückzugszone gab.

Vom Beginn der Schlacht an schärfte die sowjetische Führung ihren Kämpfern den Symbolwert von Stalingrad ein. Viele Verteidiger der Stadt wussten, dass Stalin hier im russischen Bürgerkrieg die Feinde des Sowjetsystems zurückgeschlagen hatte; daher trug die Stadt auch seinen Namen. Stalingrad nun den Deutschen zu überlassen hieße, den Mythos, der sich um die Stadt und ihren Namensgeber rankte, zu beschädigen; es durfte nicht geschehen. Aus demselben Grund besaß die Stadt auch für Hitler eine herausragende Bedeutung. Er baute auf den psychologischen Schlag, den ihre Eroberung Stalin versetzen würde, und stilisierte den deutschen Angriff frühzeitig zu einem Entscheidungskampf zwischen den verfeindeten weltanschaulichen Systemen. Am 20. August 1942 notierte Joseph Goebbels[12] in seinem Tagebuch, dass der »Führer« die Stadt »besonders auf Nummer genommen« habe. »Es soll hier kein Stein auf dem anderen bleiben.«[13]

Bereits im westlichen Donbogen weit vor der Stadt stieß die deutsche 6. Armee auf schweren Widerstand der sowjetischen 62. Armee. Die Deutschen machten 57000 Gefangene und überquerten den Don am 21. August. Am 23. August erreichten die ersten deutschen Panzer 70 Kilometer entfernt die Wolga nördlich von Stalingrad und riegelten den Zugang zur Stadt vom Norden her ab. Moskau war alarmiert. Stalin ernannte drei Tage später General Georgi Schukow[14] zum Stellvertretenden Oberkommandieren der sowjetischen Streitkräfte und übertrug ihm die Verantwortung für die Kämpfe vor Ort.[15]

Bei Kriegsausbruch zählte Stalingrad knapp 500000 Einwohner. Als Industriezentrum und Waffenschmiede spielte es eine wichtige kriegswirtschaftliche Rolle. Stalingrad galt auch als eine sichere Stadt weit hinter der Front und war im Sommer 1942 von Flüchtlingen überlaufen. Vergeblich ersuchten städtische Funktionäre Stalin um Erlaubnis zur Evakuierung ihrer Betriebe und der Zivilbevölkerung. Der Prawda-Redakteur Lasar Brontman war bei einem der Gespräche zugegen und hielt in seinem Tagebuch fest, wie »der Chef [Stalin] mit finsterer Miene entgegnete: ›Wohin jetzt noch evakuieren? Die Stadt muss gehalten werden. Schluss!‹ Und schlug mit der Faust auf den Tisch.«[16] Erst nachdem eine deutsche Bomberflotte die Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte, wurde das Evakuierungsverbot für Frauen und Kinder aufgehoben.

Nach den zweiwöchigen Bombenangriffen traten die deutschen Truppen zum Sturm auf die Stadt an. Am 14. September brach ein Regiment in der Innenstadt zur Wolga durch.[17] In den schweren Straßen- und Häuserkämpfen der darauffolgenden Wochen wurden die Soldaten der 62. Armee überall in der Stadt bis ans Wolgaufer zurückgedrängt. Den Stoßtrupps der Wehrmacht folgten die deutschen Besatzungsbehörden, die in Stalingrad Kommandanturen errichteten, Kommunisten und Juden erschossen und die Deportierung der Zivilbevölkerung in die Wege leiteten. Auf der Gegenseite hielten die im westlichen Steilufer eingegrabenen sowjetischen Verteidiger bald nur noch mehrere Brückenköpfe. Sie wurden über den Fluss mit Nachschub an Soldaten und Waffen versorgt und erhielten Artillerieunterstützung von der östlichen Flussseite. Die in Stalingrad kämpfende 62. Armee war Teil der Südostfront[18], kommandiert von Generaloberst Andrei Jerjomenko[19], die aus den südlich der Stadt stationierten 64., 57. und 51. Armee, der 8. Luftflotte, den Schiffen und Matrosen der Wolga-Flottille sowie nördlich und nordwestlich von Stalingrad aus der 1. Gardearmee, der 24. und der 66. Armee bestand. Die letztgenannten Armeen unternahmen im September wiederholte vergebliche Versuche, den deutschen Nordriegel zu sprengen und zu den Verteidigern der Stadt durchzubrechen.

Der Plan zu einer umfassenden sowjetischen Gegenoffensive reifte Mitte September, während der kritischsten Phase der Verteidigung von Stalingrad. In Stalins Beisein schlugen Schukow und Generalstabschef Alexander Wassilewski[20] eine Operation vor, die das deutsche Vorbild der tiefen Umfassungsmanöver übernahm. Die kommenden zwei Monate dienten der Ausarbeitung dieses Plans: Eine zusätzliche Front unter dem Kommando von General Watutin (die Südwestfront) bezog heimlich Stellung am oberen Donverlauf, die bei Stalingrad kämpfenden Armeen (seit Ende September in zwei Fronten aufgeteilt: die Don-Front unter Kommando von Generalleutnant Konstantin Rokossowski[21] und die Stalingrader Front unter Jerjomenkos Kommando) wurden mit Soldaten und Ausrüstung aufgestockt. Der deutschen Feindaufklärung entgingen diese Manöver nicht, doch maßen die Nachrichtendienste ihnen keine besondere Bedeutung bei, weil sie die wirtschaftlichen und Menschenreserven der Sowjetunion für erschöpft hielten.[22]

Auch nach einer Reihe von massierten Vorstößen im Oktober gelang es der 6. Armee nicht, Stalingrad vollständig in Besitz zu nehmen. Deutsche Beobachter suchten nach Erklärungen für den unerwartet erbitterten Widerstand des Gegners. Die SS-Zeitung Das Schwarze Korps widmete dieser Frage ihren Leitartikel vom 29. Oktober 1942. Er begann mit einer Einschätzung des sowjetischen Kampfgeists: »Die Bolschewisten greifen an bis zur totalen Erschöpfung, und sie verteidigen sich bis zur physischen Vernichtung des letzten Mannes und der letzten Waffe. […] Der einzelne Mann kämpft mitunter auch dann noch, wenn er nach Menschenermessen nicht mehr kämpfen kann.« Alles, was die Soldaten der Wehrmacht auf ihren Feldzügen in Europa und Nordafrika erlebt hatten, nehme sich aus »wie ein kindliches Spiel gegen das Elementarereignis des Krieges im Osten«. Die Zeitung erklärte diesen Unterschied mit den Gesetzen der Rassenbiologie: Die sowjetischen Soldaten gehörten einer anderen »Art« an; sie entstammten einem »niederen, dumpfen Menschentum«, das nicht in der Lage sei, »den Sinn des Lebens zu erkennen und das Leben zu schätzen«. Aufgrund dieser fehlenden menschlichen Qualitäten kämpften die Rotarmisten mit einer Todesverachtung, die dem kulturell hochstehenden Europäer fremd sei. Die SS-Zeitung malte abschließend aus, welche Bedrohung die »Macht der entfesselten Minderwertigkeit« für Europa enthalte, und erhob die Schlacht um Stalingrad zu einer weltgeschichtlichen Schicksalsfrage: »An uns liegt es, zu entscheiden, ob wir...

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