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Die Tempel von Shikoku

Meine Pilgerreise auf Japans heiligem Weg

AutorMarie-Édith Laval
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783492975148
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Während einer Wanderung auf dem Jakobsweg erfährt Marie-Édith Laval von einem Pilgerweg auf der japanischen Insel Shikoku. 1200 Kilometer führt dieser auf den Spuren K?kais, des Gründers des Shingon-Buddhismus, um die Insel, zu 88 Tempeln. Fasziniert von diesem exotischen Ziel, beschließt Laval, sich als »henro« - japanischer Pilger - auf das Abenteuer einzulassen. Der Weg repräsentiert die vier Stufen der Entwicklung: Erwachen, Askese, Erleuchtung und Nirwana. Und mit jedem Tag des Wanderns richtet sich auch Marie-Édith Lavals persönliche Wahrnehmung zunehmend von den äußeren Begebenheiten auf ihr Inneres, auf ihren Weg zu Frieden, Glück und Dankbarkeit. Geistreich und unterhaltsam beschreibt sie ihre Erfahrungen - ein inspirierender Pilgerbericht.

Marie-Édith Laval studierte Literaturwissenschaften und arbeitet heute als Sprachtherapeutin. Außerdem unterrichtet sie Kinder und Teenager in Entspannungsmethoden und Achtsamkeitsmeditation. Sie lebt in Paris, doch wann immer sie kann, kommt sie ihren beiden Leidenschaften nach: dem Reisen und dem Wandern.

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Leseprobe

Auftakt


Los geht’s!


Hut auf, den Mantel vom Haken,

Fäuste in die Taschen – und los.

Arthur Rimbaud

»Es gibt keine Zufälle, es gibt nur Begegnungen«, sagte Paul Éluard. Und das Leben hat mir wirklich eine ganz wunderbare Begegnung beschert.

Im August 2012 habe ich auf dem Jakobsweg in Spanien, wenige Kilometer vor der Stadt Melide, »zufällig« einen japanischen Pilger kennengelernt. Diese Begegnung war ausschlaggebend dafür, dass ich im folgenden Sommer ganz allein, nur mit einem Rucksack bepackt, aufgebrochen bin, um auf dem 1200 Kilometer langen Shikoku-Pilgerweg zu wandern, auf den Spuren eines gewissen Kūkai, von dessen Existenz ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Manchmal führt eine spontane Wendung in einer angeregten Unterhaltung mit einem Unbekannten von einem Pilgerweg zum nächsten, von einem Kontinent zum anderen. An jenem Tag habe ich von diesem buddhistischen Pilgerweg erfahren, der Shikoku, die kleinste der vier Hauptinseln des japanischen Archipels, umrundet. Was mein vorübergehender Wegbegleiter mir damals erzählte (ihm sei hiermit von Herzen gedankt!), weckte mein Interesse, und ich nahm mir vor, das Thema zu vertiefen, sobald ich wieder zu Hause in Paris wäre.

Nach den 1600 Kilometern zu Fuß auf dem Jakobsweg von Le Puy-en-Velay bis Kap Finisterre – das Kap in Galicien bildet traditionell die Verlängerung des Pilgerwegs bis ans »Ende der Welt« an der Atlantikküste – und der Heimreise mit dem Schiff nach Frankreich musste ich feststellen, dass das Leben nach einer Pilgerschaft keineswegs ein Spaziergang ist. Die Rückkehr von einer Reise hat für mich seit jeher einen bitteren Beigeschmack: Kaum zu Hause, träume ich schon wieder mit einer Weltkarte vor den Augen von neuen Ländern und berausche mich an Erzählungen aus der Ferne und dem Zauber fremdländischer Namen.

Während ich nach meiner Wanderung auf dem Jakobsweg gegen die Trägheit steifer Glieder und die Routine des Alltags ankämpfte, der im krassen Gegensatz stand zu den erfüllten und genussvoll erlebten Augenblicken beim Pilgern, stieg der Ruf des fernen Shikoku mit vehementer Kraft in mir auf. Eine ebenso unwiderstehliche wie irrationale Faszination brach sich aus der Tiefe meiner Seele Bahn wie ein innerer Befehl. Ich saß vor meinem Computerbildschirm und wusste plötzlich: Nächsten Sommer werde ich nach Shikoku reisen!

Das Startzeichen zu einer neuen Pilgerreise war also gegeben, ein fantastisches Abenteuer im Land der aufgehenden Sonne erwartete mich. Und so kam es, dass ich am 30. Juni 2013 zu diesem Abenteuer aufbrach, mit einer »inneren Empfänglichkeit«, wie Pierre Rabhi die »Bereitschaft, Gaben und Schönheiten des Lebens mit Demut, Dankbarkeit und Freude anzunehmen«, so treffend bezeichnet hat – gleich einem auf die Fahne meines Herzens geschriebenen Motto, einem Mantra tief in meinem Innersten. Obwohl meine Pilgerfahrt nach Shikoku keine Sinnsuche war im Stil der Ritter der Tafelrunde auf der Suche nach dem Heiligen Gral, hat sich dennoch im Laufe meiner Wanderung ganz von selbst ein Sinn ergeben.

Seit vielen Jahren schon war ich fasziniert von den großen Abenteurern der Vergangenheit und Gegenwart, verschlang ihre Berichte mit Heißhunger und spürte in der lebhaften Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen eine eindringliche und anhaltende Versuchung, mein eigenes Leben in eine unaufhörliche Reise zu verwandeln.

Auf meinen Bücherregalen stehen die Werke der bedeutendsten Weltreisenden und Schriftsteller: Alexandra David-Néel, Nicolas Bouvier, Victor Segalen, Romain Gary, Bruce Chatwin, Bernard Ollivier, Sylvain Tesson und viele mehr. Ihre Schicksale sind der Stoff, aus dem meine Träume sind …

Diese großen Vorbilder flüstern mir zu, dass es möglich ist, den Alltag vor Sinnlosigkeit und einem Gefühl der Unvollständigkeit zu retten, einer Existenz zu entfliehen, die ins Stocken geraten ist, sich nach Erfüllung sehnt, dass man dem Überdruss entrinnen kann wie auch dem Gefühl der Entfremdung unter der herrschenden Routine. »Den Wanderstab und das symbolische Bündel zur Hand nehmen und losziehen! Wer den Wert und den köstlichen Geschmack der einsamen Freiheit kennt, für den ist der Aufbruch der schönste und mutigste Schritt. Ein egoistisches Glück vermutlich, aber das Glück desjenigen, der es zu genießen versteht. Allein sein, wenige Bedürfnisse haben und unerkannt bleiben, fremd und doch überall bei sich, und im Alleingang die Welt erobern!«[1]

Haben Sie nicht auch schon den unwiderstehlichen Drang verspürt, Türen und Fenster weit aufzureißen, die heimtückischen Kellerfenster, die hinterhältigen Dachfenster, weil Ihnen die Gewohnheit die Kehle zuzuschnüren scheint und Sie in Ihrem verriegelten und versiegelten Universum an Sauerstoffmangel leiden?

Kamen Sie sich auch schon vor wie die wunderschönen und anmutigen Schmetterlinge in den Schaukästen, deren Flügel man mit Nadeln festpinnt, um sie am Davonfliegen zu hindern, sie ihrer Himmelsreisen zu berauben …?

Haben Sie sich auch schon wie der Ast eines Baums gefühlt, der beschnitten, vom Lebenssaft abgetrennt ist?

Wer hat noch nie von einer illusorischen Zukunft geträumt, von einem utopischen Anderswo, einem schimärenhaften Anderswie, einer Existenz des Was-wäre-wenn, die so viel glücklicher, lebendiger, vollständiger, berauschender wäre, wenn doch nur tausendundeine Bedingung erfüllt wäre (wenn ich dies hätte und jenes besäße, wenn ich von dieser oder jener Pflicht befreit wäre usw.)? Das bewegt und empört Sie gleichermaßen, wenigstens von Zeit zu Zeit, nicht wahr?

In der trägen Abfolge der Tage, die nicht vom Fleck kommen, hallt schon seit Langem der eindringliche Ruf zur Reise, dieser »quälende Juckreiz des Unbekannten«[2], wie Gauguin es empfunden hat, der jede Zelle meines Körpers besetzt und als Ruder wirkt, Kurs auf das Anderswo nimmt. Um die nächste Ecke schauen, in eine fremde Welt eintauchen – vielleicht findet sich ja ein Anker für mein Dasein und Antworten auf den ungestillten Hunger, den ich dunkel in mir spüre.

Befeuert von den Bildern und Berichten der berühmten Reiseschriftsteller, die meine Seele zum Schwingen brachten, mich von fernen Ländern träumen ließen und meinen sehnlichen Wunsch, die Welt zu erkunden, zum Leitmotiv meines Lebens machten, bin ich aufgebrochen, ohne besonderes Vorwissen über das Land der aufgehenden Sonne, seine Sitten und Bräuche und seine faszinierende, einzigartige und komplexe Kultur. Lesend der Realität entfliehen und neue Gegenden entdecken ist schön und gut, aber ich möchte hingehen und sie mir ansehen!

Ich habe nicht viel Zeit mit sorgfältigen Vorbereitungen verloren, sondern zog es vor, mich überraschen zu lassen, mich von dem, was mich in Japan erwarten würde, formen zu lassen wie eine Tonfigur. In der Überzeugung, dass »die Wege uns erfinden« und man »den Schritten freien Lauf lassen muss«[3], wie Philippe Delerm schreibt.

Ich wollte nichts planen, wollte die bevorstehende Erfahrung nicht intellektualisieren, hatte keine Lust, mich mit Wissen vollzupacken oder mich zu beruhigen, indem ich mich schon mal im Geist mit den Gegebenheiten vertraut machte, sondern zog es vor, mir nach Möglichkeit die naive und unschuldige Frische des kindlichen Blicks zu bewahren, ohne Vorurteile, frei von Glaubenssätzen und Gewissheiten, nach Entdeckungen dürstend, dem Fremden gegenüber ganz und gar empfänglich.

Ich liebe nichts so sehr wie das Neuartige. Offen für die mir unbekannten Eigenheiten der japanischen Gesellschaft und ihre unverständlichen Verhaltenscodes, die mich in meiner Art und mit meinen westlichen Gewohnheiten anfangs unweigerlich verstören würden, bin ich abgereist – ohne Erwartungen oder Prognosen.

Gleichwohl häuften sich in den Monaten vor meinem japanischen Abenteuer Erlebnisse, die ich gern als kleine Zeichen des Schicksals interpretierte, zahlreiche Sterne, die mir den künftigen Weg wiesen – Wegmarken wie die gelben Pfeile auf dem Jakobsweg in Spanien. Es war wie eine Verschwörung kleiner »Zufälle«, die alle auf den Bestimmungsort im Fernen Osten verwiesen, ein Füllhorn, in dem sich geschickt eins zum anderen fügte. Jeder meiner Schritte schien in Richtung des Pilgerwegs der 88 Tempel zu führen, der sich mit erstaunlicher Leichtigkeit vor mir auftat und mich mit offenen Armen willkommen hieß. Gewiss, der menschliche Geist giert nach Zeichen, die einen Sinn versprechen, das weiß ich wohl, aber trotzdem … Es war, als ob der japanische Pilgerweg es nicht erwarten könnte, beschritten zu werden. Türen öffneten sich mühelos, Kontakte ergaben sich ganz von selbst, die Organisation war unkompliziert, der ganze Ablauf erfolgte ...

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