Erde 1
Dachs
Wenn Sie sich einen Wurm in den Mund stecken, nimmt er die Hitze darin als etwas Bedrohliches wahr. Man sollte meinen, dass er dann einen Ausbruchversuch in die Tiefe unternimmt, in die schwärzere Dunkelheit, die normalerweise Heimat und Geborgenheit bedeutet, und in Richtung Ihrer Speiseröhre kriecht. Aber das tut er nicht. Er hat es auf die Lücken zwischen Ihren Zähnen abgesehen. Und in meinem Gebiss gibt es viele davon, im Sheffield der Siebzigerjahre trug niemand eine Zahnspange. Der Wurm macht sich so dünn wie ein Faden und zwängt sich hindurch. Falls ihm das misslingt, wie es bei gut gemachten Brücken der Fall ist, dreht er durch: Er schlägt wild hin und her, schleudert das Ende seines Körpers kreisförmig um seine Mitte und peitscht Ihr Zahnfleisch. Letztlich rollt er sich frustriert an der feuchtesten Stelle neben dem Zungenbändchen zusammen und überdenkt seine Lage. Aber sobald Sie den Mund wieder öffnen, prescht er los, er presst seinen Schwanz gegen den Boden Ihrer Mundhöhle wie ein Läufer, der sich vom Startblock abstößt. Das ist alles ziemlich eklig. Und ein gutes Argument für eine Feuerbestattung.
Wenn Sie zum ersten Mal in einen Wurm beißen, erwarten Sie eine Reaktion von der Art, wie sie jeder Angler kennt und hoffentlich hasst: Der Wurm krümmt und windet sich und versucht, vom Haken loszukommen.
Doch es geschieht etwas anderes. Selbst wenn Sie sich, so wie ich, nicht überwinden können, den Wurm zwischen den Backenzähnen zu zermalmen, sondern behutsam mit den Schneidezähnen daran knabbern, wird der Wurm trotzdem zerquetscht. Darin scheint der Unterschied zu liegen. Zerquetschte Tiere rühren sich nicht, sie scheinen nichts zu spüren. Als sich einmal ein ansehnliches Stück Schottland löste und auf meinen Arm krachte, tat es mir kein bisschen weh. In meinem Fall lag das daran, dass Endorphine in meinen Körper gepumpt wurden, die mich mit einem schummrigen Hochgefühl beglückten wie nach Opiumgenuss, und dass mich der Anblick der Knochensplitter und durchtrennten Nerven völlig in den Bann schlug. Möglicherweise haben Ringelwürmer ja ein krudes, auf Opiaten basierendes Schmerzregulierungssystem. Was ich aber bezweifle: Es wäre ein absurder evolutionärer Aufwand. Wie auch immer, beide Hälften des Wurms kapitulieren. Und dann kann ich den Wurm zwischen die Backenzähne schieben und zerkauen.
Regenwürmer schmecken nach Schleim und der Erde, aus der sie kommen. Sie sind der Inbegriff eines regionalen Nahrungsmittels und haben, wie Weinkenner sagen würden, ein sehr ausgeprägtes Terroir. Der Wurm aus Chablis hat einen langen, mineralischen Abgang. Sein Artgenosse aus der Picardie schmeckt muffig, nach Fäulnis und gesplittertem Holz. Würmer aus dem High Weald von Kent schmecken frisch und schnörkellos; man könnte sie zu gegrillter Seezunge empfehlen. Hingegen zeichnet den Wurm aus der Küstenebene von Somerset sein dumpfes, unzeitgemäßes Stout-Bier- und Lederaroma aus. Der Wurm aus den Black Mountains in Wales wiederum lässt sich kaum klar bestimmen; er wäre bei einer Blindverkostung eine echte Herausforderung. Ich bin nicht Angeber genug, um mich an seine Beschreibung zu wagen.
Im Allgemeinen ist der Geschmack des Körpers vorherrschend. Der Schleim schmeckt anders und kann rätselhafterweise variieren. Zum Terroir des Körpers steht er in keinem offensichtlichen Zusammenhang. Man kann den Schleim ablutschen, und beim Chablis-Schleim lässt sich zumindest im Frühjahr eine Note von Zitronengras und Schweinekot feststellen. Der Schleim des Weald hingegen erinnert an überhitzte Schleifscheiben und Mundgeruch.
Auch ändert sich der Geschmack je nach Jahreszeit, allerdings weniger stark, als man annehmen würde. Abhängig von der Saison stechen vielmehr einzelne Geschmackselemente stärker heraus: Es findet eine Verlagerung der Hauptnote statt. In Norfolk dominiert Windeleinlage gegenüber Paraffin im August stärker als im Januar, aber beide sind das ganze Jahr über vorhanden.
Die Nahrung eines Dachses besteht im Durchschnitt zu etwa fünfundachtzig Prozent aus Regenwürmern. Diese Tatsache kostet den Dachs einiges von seinem Charisma, macht ihn aber auch auf spannende Weise unzugänglich.
Für den Einstieg eignen sich Dachse einerseits bestens, andererseits überhaupt nicht. Überhaupt nicht deshalb, weil wir meinen, sie zu kennen. Die Dachsvermenschlichungen aus unserer Kindheit sind uns ganz besonders lieb und teuer, und wir finden sie sogar noch glaubwürdig, wenn wir groß und unsentimental geworden sind.
Eine Pfeife mit Kräutertabak klemmt gemütlich zwischen Grimbarts kräftigen, niemals ausrenkbaren Kiefern. Die Hinterbeine, bei den Pavee als Räucherschinken geschätzt und darauf ausgelegt, auf der Suche nach Würmern und Wurzeln Tausende von Kilometern durch nächtliche Wälder zurückzulegen, machen sich bestimmt gut in Moleskin-Kniebundhosen. Die Vorderpfoten, mächtig grabende und reißende Maschinen, sehen ganz danach aus, als könnten sie nach einem üppigen Sonntagsbraten eine Messinggürtelschnalle öffnen. Oft sind die Burgen der Dachse jahrhundertealt, was auf Solidität und Weisheit schließen lässt. Gebieterisch schütteln sie ihr würdevolles gestreiftes Haupt, wenn sie die Pläne leichtsinnigeren Getiers missbilligen.
Aber sie sind für den Einstieg ideal, weil Bilderstürmerei bei einem Dachs viel einfacher ist als beispielsweise bei einem Reiher, mit dem ich mich weitaus weniger beschäftigt habe. Dachsen nachzustellen ist die beste Methode, um seine Sentimentalitäten loszuwerden. Diese Tiere sind großartige Lehrer. Wenn sich die Dämmerung über den Wald herabsenkt, blicken sie einem listig in die Augen, befingern nachdenklich die Träger ihrer Cordhosen und schlitzen einem dann das Gesicht auf.
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Für mich bedeuteten Dachse Burt und die Black Mountains. Nicht weil ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen Dachsen und Mittelwales besteht; das ist nicht der Fall. Somerset, Gloucestershire oder Devon wären da naheliegender. Aber Burt hat einen Bulldozer.
Burt und ich kennen uns schon ewig. Wir haben zusammen an einigen der unangenehmsten Orten des Planeten Blut verloren, gelitten, geflucht und gezecht. Und jetzt ist er Bauer, lispelt und wandelt über das steilste und unfruchtbarste Stückchen Scholle auf den Britischen Inseln. Auf dem freien Feld sind es die Steine und das Gefälle, die verhindern, dass dort etwas Profitables wächst; in den Tälern sind die uralten, feuchten Wälder mit dem breitblättrigen Gestrüpp schuld. Doch das kümmert Burt nicht weiter. Man braucht kein Geld für selbst gemachten Cider, selbst gemachten Sex und einen tollen Ausblick.
Er holte uns am Bahnhof von Abergavenny ab. Ich hatte mein eigenes Junges dabei: Tom, acht Jahre alt. Dachse sind überaus gesellige Familientiere. Ein einsamer Dachs ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und Tom, der eine ausgeprägte Legasthenie hat und daher mit einer verblüffend holistischen Weltsicht und einem tiefen Verständnis für Zusammenhänge gesegnet ist, steht dem Dachs vermutlich viel näher als ich. Ihm ist meine Behinderung fremd: die tragische Krankheit, Dinge dann und nur dann als bedeutsam zu erkennen, wenn sie sich in einen Aussagesatz packen lassen.
Zwar können Dachse effektiv und ausgiebig kommunizieren, aber, nach allgemeiner Einschätzung, ohne die Bürde der Abstraktion. Dabei muss man sich der verhängnisvollen geschriebenen Sprache bedienen, die Dinge manchmal zu etwas ganz anderem macht, als sie eigentlich sind: Eine Wurzel verwandelt sie in das Wort »Wurzel« und häuft so viele Bedeutungsnuancen darauf, dass das eigentliche Ding darunter erstickt. Tom weiß noch, was eine Wurzel ist, und wird es immer wissen. Ebenso wie der Dachs, der gern Wurzeln verspeist, jedoch Abstraktionen verschmäht. Tom definiert »Tom« ökologisch, also im Hinblick auf das Netzwerk der Beziehungen (mit anderen Menschen und mit der Natur an sich), in dem er lebt und von dem er abstammt. Das ist exakter als mein eigenes Selbstbild, zudem gesünder, interessanter und dachsartiger. Dass es in einem Dachsbau viel morbiden Atomismus gibt, bezweifle ich. Außerdem ist Tom 1,37 Meter groß. Ich bin 1,90 Meter. Damit ist er der Weltsicht des Dachses im wahrsten Sinne des Wortes näher als ich. Farne streifen sein Gesicht, genau wie das des Dachses. Und seine Nase ist dichter über der Lauberde, von der er und ich und alle Dachse letztlich ein Teil sein werden und die dem Regenwurm seine Lebensgrundlage bietet.
Wir kletterten in Burts Land Rover, fuhren los, machten noch mal kehrt, um die hintere Stoßstange aufzuheben und wieder zu befestigen, gingen in einen Laden, wo wir uns mit Pasteten aus dem Fleisch zum Tode verdammter Kühe vollstopften (weil wir uns nicht sonderlich auf die Regenwürmer freuten), und fuhren zur Farm.
Es war vor einigen Jahren in Burts Küche gewesen, dass ich zum ersten Mal ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, ein anderes Tier zu werden. Das lag nicht daran, dass Burt ein ambiges Wesen ist und lustig zwischen Menschsein und Tiersein pendelt; dass er das tut, wusste ich längst. Es macht einen Großteil seines Charmes aus. Der Grund war auch nicht, dass seine Küche ein sich mal in die eine, mal in die andere Richtung ausdehnendes Grenzgebiet zwischen Wildnis und Peppa Wutz ist. Nein, es war wegen seiner Frau Meg. Weil sie eine Hexe ist.
Und zwar eine von der denkbar freundlichsten Sorte. Sie steckt Nadeln in Menschen, um ihnen zu helfen, und nicht in Wachspuppen, um Menschen zu schaden. Aber sie hat dieselbe Auffassung von der Vernetztheit der Dinge, die sie in merry old England auf den Scheiterhaufen gebracht hätte.
Burt ist eher ein Vertrauter als ein Ehemann; ein Gefährte...