Atropa historica
»Bereits die Zauberinnen (Hekate, Kirke) in den
Sagen des griechischen Altertums waren mit den
berauschenden, erregenden und tödlichen
Wirkungen dieser Pflanze wohl vertraut (...).«
(FROHNE et PFÄNDER 1987: 236)
»Die Tollkirsche wurde bereits von den Sumerern als Heilmittel bei vielen durch Dämonen verursachten Leiden benutzt. Die alten Ägypter kannten sie nicht, wohl aber die Griechen.«
(RÄTSCH 1988: 159)
»Von großer Bedeutung war A[tropa] belladonna im
Krieg der Schotten unter Duncan I. gegen den Norwegerkönig
Sven Knut (ca. 1035 n. Chr.). Die Schotten vernichteten die
skandinavische Armee, indem sie ihr Speisen und Bier
zukommen ließen, die mit Tollkirsche vergiftet waren.«
(SCHULTES et HOFMANN 1998: 36)
Der erste Nachweis
Ab dem 15. Jahrhundert wurden den Pflanzenbeschreibungen Bilder beigefügt, um diese besser zu veranschaulichen und zu vervollständigen. So soll der venezianische Arzt und Philosoph Benedetto Rinio erstmals sein Herbarium im Jahre 1412 mit Tintenzeichnungen versehen haben. Seine 458 aufgeführten Pflanzen benennt er mit allen ihm bekannten fremdländischen Namen. Bei der »Faba inversa«, dem dritten seiner vier Nachtschattengewächse, kann anhand der beigefügten Abbildung eindeutig die Tollkirsche identifiziert werden. Dies ist damit die erste sichere Nachweisstelle.
In einem der frühesten gedruckten und bebilderten Kräuterbücher, dem »Hortus sanitatis« (Garten der Gesundheit), wird um 1485 die Tollkirsche als ein Kraut mit dunklen Beeren geschildert, das aufgrund seiner kalten Qualität gegen äußerliche und innerliche Hitze eingesetzt wurde. Hieronymus Brunschwig (etwa 1450 bis 1512) gibt in seinem Buche Anweisungen zur Destillation der Tollkirschen (SCHWAMM 1988).
Der Name
Der vom schwedischen Naturforscher Carl von LINNÉ festgelegte Gattungsname Atropa (sowie die davon abgeleitete Wirkstoffbezeichnung Atropin) ist dem Griechischen, genauer der griechischen Mythologie, entnommen und leitet sich vom Namen der Schicksalsgöttin Atropos her. Atropos ist »eine der drei Parzen, die unter dem sinnigen Bilde des Spinnens eines jeden Menschen Lebensschicksal bestimmten. Klotho spann den Lebensfaden an, Lachesis zog ihn aus und Atropos schnitt ihn ab« (SCHIMPFKY 1893: Monografie 67)2. Atropos wurde gewöhnlich als schlimme und furchterregende Schicksalsgöttin betrachtet, die ausschließlich existierte, um den Tod zu bringen. Deshalb wurde und wird sie in der mythologischen Kunst zumeist mit einer Schere in der Hand abgebildet (DEKORNE 1995: 103).
Die Artbezeichnung belladonna hat die Tollkirsche aufgrund ihrer kosmetischen Qualitäten. Der Name kommt vom italienischen ‹donna bella› (heute: bella donna) und heißt wörtlich übersetzt »Schöne« oder »Schönheit« beziehungsweise »schöne Frau«. Früher benutzten manche Damen den mydriatisch wirkenden Tollkirschsaft zur künstlichen Vergrößerung der Pupillen, um so dem damals gängigen Schönheitsideal zu entsprechen: Der italienische Kräuterbuchautor MATTHIOLUS hat als erster den Namen belladonna (...) für die Pflanze erwähnt und ihn damit erklärt, dass die Italienerinnen den gepressten Saft sich in die Augen träufelten, um schöner zu erscheinen« (RÄTSCH 1995a: 383).
Nun weist die Eigenschaft der atropininduzierten Effekte auf die Augen auch andere Vorteile auf: »Als Napoleon seine Soldatenwerber in die deutschen Lande hinausschickte, versteckten sich vor ihnen viele junge Männer in den Wäldern. Einer, der das Versteckspiel satt hatte, suchte nach einem anderen Ausweg. Er ging zu dem später berühmten Apotheker Runge und bat ihn um Hilfe: Er wollte ein Mittel, das sein Gesicht entstellte. Runge hatte kurz zuvor mit Extrakten aus der Tollkirsche experimentiert und dabei war ihm beim Verreiben der Pflanze im Mörser von dem Saft etwas ins rechte Auge gespritzt. Dies war sofort schwarz geworden und die Pupille hatte sich weit geöffnet. Deshalb riet er zur Tollkirsche.
Wenig später wurde der junge Mann von den Werbern aufgegriffen und vor einen Militärarzt geschleppt. Dieser bescheinigte ihm jedoch sofort einen ›Augenstar‹ und schrieb ihn für den Kriegsdienst untauglich« (SCHMIDSBERGER 1980: 176).
Blühender Zweig und frische Wurzel der Tollkirsche; Quelle: unbekannt
Gift, Futtermittel, Kosmetik und Zauberpflanze
»Weder Blätter noch Beeren weisen einen bestimmten Geruch auf. Die Blätter schmecken krautig, vielleicht ein bisschen pikant, und wirken betäubend. Die frischen Beeren schmecken kurzzeitig süßlich, sie wirken leicht adstringierend.«
(MALIZIA 2002: 363)
»In der griechischen Mythologie warfen sich die Mänaden
bei den dionysischen Orgien mit geweiteten Augen in die
Arme der Männer, die dem Gott huldigten, oder fielen mit
›flammenden Augen‹ über sie her, um sie in Stücke zu reißen
und aufzufressen. Der Wein der Bacchanale wurde
möglicherweise mit dem Saft der Tollkirsche verfälscht.
Ihre größte Bedeutung erlangte die Tollkirsche indessen
in Verbindung mit der Hexenkunst und Magie der frühren
Neuzeit. Sie bildete eine der Hauptzutaten zu den von
Hexen und Magiern benützten Tränken und Salben.«
(SCHULTES et HOFMANN 1998: 89)
Schon seit langer Zeit wird die gefürchtete Tollkirsche als Gift- und Zauberpflanze unter anderem für die Verwendung in Flug- und Hexensalben gebraucht, wegen ihrer Toxizität aber seltener als beispielsweise der verwandte Stechapfel Datura stramonium. Schon in der Steinzeit wurde die Tollkirsche in Europa als Pfeilgift verwendet, auch existieren Quellen, die davon sprechen, dass man sich mit Hilfe der Tollkirsche in Tiere verwandeln könne (Giovanni Battista DELLA PORTA 1535 bis 1615). Es kann also davon ausgegangen werden, dass seit etwa zehntausend Jahren oder gar länger von der pharmakologischen Wirkung der Atropa gewusst wird.
Auch später diente die Tollkirsche als Kriegstoxikum. Anstatt sie auf Pfeilspitzen einzusetzen, wurden Pflanzenteile alkoholischen Getränken zugefügt und damit Gegner umgebracht oder ruhiggestellt. Im Mittelalter wurde sodann der Saft der Atropa-Beeren als Kosmetik zum Schminken genutzt.
»Im Mittelalter glaubte man, dass der Genuss der Beeren den Menschen toll mache, man scheint solche Zustände beobachtet zu haben, zumal es doch auffallen musste, dass Amseln und Drosseln die süßen und saftigen Beeren ohne Schaden verzehrten. Man baute deshalb die Tollkirsche frühzeitig in Gärten an und gab sie kranken Schweinen und anderen Tieren ins Futter. (...) Die Pflanze galt in vielen Gegenden als zauberkräftig« (HERTWIG 1938: 228). Angeblich verliert die Tollkirsche »unter südamerikanischer Sonne ihre Giftigkeit und wird dort wegen ihrer verdauungsfördernden Eigenschaften verzehrt« (SCHRÖDTER 1997: 22).
Wissenschaftliche Spekulationen machten Atropa allerdings sogar für das plötzliche Aussterben der Dinosaurier verantwortlich.
Enrico MALIZIA, Experte für Hexen- und Magiekulte, kennt das Rezept für den Zaubertrank für eine niemals nachlassende Leidenschaft: »Für den Trank nimmst du: zehn Tropfen Blut von deinem rechten Ringfinger, einen Tropfen Vaginalsekret (für die Frau) oder Vorhautsekret (für den Mann). Vermisch alles mit etwas Tollkirsche (Atropa belladonna ) und Irisasche (Iris germanica). Gieß dann reichlich Sonnenblumenöl (Helianthus annuus) darüber. Im letzten Moment gibst du noch eine Prise Spanische Fliege (Lytta vesicatoria) dazu. Danach gießt du alles mit einem Dekokt von Sellerie (Apium graveolens) auf, das du vorher zubereitet hast. Vor dem Zugeben filterst du das Dekokt durch ein Leinennachthemd, das der Person gehört, die den Trank zubereitet« (MALIZIA 2002: 319).
Eine zur Hexenvertreibung zu räuchernde Mischung, der Oberbayrische ›Hexenrauch‹, wird folgendermaßen bereitet (RÄTSCH 1996a: 218 nach HÖFLER 1994: 117):
- Ruta graveolens (Weinrautenkraut)
- Sedum acre (Mauerpfeffer)
- Atropa belladonna (Tollkirschenblätter)
- Chamomilla recutita syn. Matricaria chamomilla (Kamille)
- Plantago major (Breitwegerich)
- Ferula asa-foetida (Teufelsdreck)
- Juniperus sabina (Sadebaum)
»Einige Rezepte zur Bereitung von Hexentränken und -salben sind überliefert. Man nehme (...) je vier Teile von Samen des Taumellolchs (Lolium temulentum), des Bilsenkrauts, des Schierlings, des roten und schwarzen Mohns, des Lattichs und des Portulaks und einen Teil Tollkirschensamen, presse sie aus und versetze jede Unze des Samenölgemischs mit 1.2 g Opium; oder man bereite (...) ein Teufelsmus aus 3g Önanthol, 50g Opiumextrakt, 30g Extrakt aus schwarzer Betelnuss (?), 6g Fünffingerkrautextrakt, je 15g Extrakt aus Tollkirsche, Bilsenkraut und Großem Schierling, 250g...