Sie sind hier
E-Book

Die unbewegliche Kirche

Franziskus und die verhinderte Revolution

AutorMarco Marzano
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl Seiten
ISBN9783451815508
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Die Kirche erlebt eine schwere Krise und Papst Franziskus, der lange als Hoffnungsträger galt, scheint handlungsunfähig. Marco Marzano, einer der besten Vatikankenner, analysiert die Lage der Kirche und den 'Mythos Franziskus'. Es gebe zwar Erfolge, doch insgesamt zeichnet Marzano das Bild einer bewegungslosen Kirche: 'In den fünf Jahren seines Pontifikats hat Franziskus keine einzige Reform durchgesetzt.' In seinem Buch nennt Marzano zahlreiche Gründe für diese Tatsache: Franziskus sei eben kein Liberaler, sondern ein Konservativer und zudem zu sprunghaft. Zugleich deckt der Autor Strukturen und Feinde auf, die den Papst an Reformen hindern, und beschreibt ein Geflecht aus Intrigen. Das Buch ist unverzichtbar für jeden, der verstehen will, was der Papst wirklich plant und warum sich die Kirche nicht endlich bewegt.

Marco Marzano, geb. 1963, ist Professor für Soziologie an der Universität Bergamo. Er hat in den letzten Jahren mehrere Bücher über die katholische Kirche und die Päpste verfasst. Er gilt aus ausgezeichneter Kenner des Vatikans.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Einleitung


Das Geheimnis eines schon heiligen Papstes


Die Idee zu vorliegendem Buch ist in der Hauptsache aus einem Staunen erwachsen: dem Staunen über das gesellschaftliche und mediale »Phänomen Franziskus«, das der Verfasser in den fünf Jahren, die seit der letzten Papstwahl vergangen sind, in zunehmendem Maße empfindet. Es ist überraschend zu sehen, wie die Gesten, die Worte und die Entscheidungen des argentinischen Papstes praktisch täglich und von einem vielfältigen und breit gefächerten Publikum aus Intellektuellen, Kommentatoren und Journalisten unweigerlich als erschütternd, entsakralisierend, innovativ und – um es mit einem Wort zu sagen, das in dieser sozial vergleichsweise friedlichen Zeit geradezu inflationär Verwendung findet – revolutionär dargestellt werden. Das Narrativ von einem Papst, der im Leben der jahrtausendealten Institution eine neue Phase einläutet, die Legende vom guten, menschlichen und lächelnden Papst, der ein unversöhnlicher Feind von Korruption, Konservatismus und Opportunismus ist und die authentischen Werte des Evangeliums wiederherstellt, haben sich in kürzester Zeit nahezu überall durchgesetzt und sind vom ersten Augenblick an, seit dem Abend seiner Wahl am 13. März 2013, zur gängigen Lesart, allgemeinen Überzeugung und breit akzeptierten Selbstverständlichkeit geworden. In den Bars und bei den Leuten zu Hause hört man ebenso davon reden wie in den Redaktionen der Tageszeitungen und in den Verlagen und unter Menschen jeder nur erdenklichen sozialen Kategorie oder Schicht, geografischen Herkunft und politischen Ausrichtung. Beinahe niemand besitzt die Kühnheit, die Eigenschaften oder die Entscheidungen eines durch einhelligen Volkswillen per Akklamation »de facto schon heiligen Papstes« infrage zu stellen. Diese Seligsprechung Papst Bergoglios schon zu Lebzeiten ist quasi Allgemeingut, vor allem aber Domäne und Privileg eines recht großen Kerns aus »progressiven« katholischen Prälaten und Intellektuellen, die unter den Pontifikaten der beiden Franziskusvorgänger eine lange Leidenszeit durchlebt und jahrzehntelang auf die Gelegenheit zur Revanche und darauf gewartet hatten, sich am gegnerischen Lager rächen zu können. Sie alle befinden sich heute in einer schwierigen Lage, weil sie in ihrer Ungeduld, den langen und schmerzlichen Marsch durch die kirchliche Wüste endlich beenden zu dürfen, dem Papst fast vom »Ende der Welt« einen immensen, aber nicht verbürgten Vertrauensvorschuss gewährt haben und sich jetzt gezwungen sehen – auch um ihren Ruf zu retten, den sie durch ihre an Fanatismus grenzende blinde Zustimmung zum »neuen Kurs« des argentinischen Papstes kompromittiert haben –, die kleine Flamme einer immer schwächeren Hoffnung auf Veränderungen, die vermutlich niemals eintreten werden, um jeden Preis am Brennen zu halten.

Ich muss gestehen, dass Franziskus mich nie sonderlich betört hat und dass es ihm von Anfang an nicht gelungen ist, mich mit seinen Reden oder gar mit seinen Schriften zu verzaubern. Und doch habe ich mich ein paar Jahre lang und vielleicht auch länger bewusst vorsichtig über seine Handlungen geäußert und mich in Zurückhaltung geübt, wenn es darum ging, seine Taten zu bewerten.1 Eine Zurückhaltung, wie sie den meisten und insbesondere einem Großteil jener Beobachter und Katholizismusexperten unbekannt war, die seit seinem ersten Auftritt auf der Loggia des Petersdoms emsig damit beschäftigt waren, die Zeichen der angeblichen »revolutionären Heiligkeit« des argentinischen Papstes zu erkennen. Damals, in den ersten Jahren seines Pontifikats, erschien mir das Verhalten von Jorge Bergoglio noch rätselhaft und ich mutmaßte, er wisse vielleicht nicht, was zu tun sei, und werde bei der Entscheidung, welche Richtung in der Kirche eingeschlagen werden solle, womöglich ebenso von Zweifeln gequält wie ich bei der Deutung seines Vorgehens. Ich stellte mir vor, er stehe zaudernd am Scheideweg, unschlüssig, ob er wirklich eine tiefgreifende und einschneidende Reform der Institution auf den Weg bringen solle, deren Monarch er nun – nach dem Rücktritt des deutschen Papstes – unerwarteterweise geworden war, oder ob es besser sei, eine andere Strategie zu wählen und an der Oberfläche der Dinge zu bleiben, das Neue nur in seinen Predigten, nur mit Worten zu umschmeicheln, aber nie zur Tat zu schreiten. Mit der Zeit traten – während der Chor der laikalen katholischen Apologeten mit einem zuweilen peinlichen Eifer (und einer Intensität, wie sie im katholischen Kontext sonst nur noch Johannes XXIII. vorbehalten war) weiter am Kult seiner Persönlichkeit arbeitete – an die Stelle meiner Neugierde und Vorsicht Desillusionierung und ein zunehmend deutliches Bewusstsein der enormen Begrenztheit von Bergoglios Pontifikat und gleichzeitig der Kraft und Macht einer Institution – der katholischen Kirche –, die imstande ist, über Jahrtausende hinweg, zum Guten wie zum Bösen, im triumphalen Licht der durch und durch christlichen Epochen ebenso wie im Dunkel der säkularisierten Welt des 21. Jahrhunderts, beinahe immer dieselbe zu ­bleiben.

Das war der Moment, als in mir der Wunsch aufkam, mehr zu wissen, um besser zu verstehen. Und vor diesem Hintergrund ist die Idee zu diesem Buch entstanden.

Es ist das Ergebnis einer systematischen und gründlichen Durchsicht von Artikeln aus Tages- und Wochenzeitschriften2 sowie sehr heterogenen Beiträgen der historisch-biografischen, theologischen und soziopolitischen Literatur. Ergänzend zur Textanalyse habe ich 41 lange und tiefschürfende Interviews mit privilegierten Zeugen – beinahe immer »organischen Intellektuellen« des Katholizismus – geführt. Ohne ihren Beitrag hätte dieses Buch nie das Licht der Welt erblickt.

Im ersten Kapitel stelle ich den Kernbestand an institutio­nellen und strukturellen Veränderungen des Katholizismus vor, die mir und vor allem einer Vielzahl von Gläubigen als die wichtigsten und dringlichsten erscheinen – jene zentralen Punkte also, die jeder, der die katholische Kirche verändern will, unweigerlich in Angriff nehmen müsste: die Reform der Kurie, die des Zölibats, die Rolle der Frauen und die Moral- und Sexuallehre. In allen diesen Punkten habe ich sowohl die Vorschläge der Reformer als auch die von Franziskus getroffenen Grundlagenentscheidungen rekonstruiert.

Nachdem ich gezeigt habe, dass Franziskus in keiner der großen Fragen (mit der teilweisen Ausnahme der eventuellen Zulassung der wiederverheirateten Geschiedenen zur Eucharistie) nennenswerte Reformen angestoßen oder eine Saat ausgebracht hat, deren Aufkeimen für die mehr oder weniger nahe Zukunft zu erwarten steht, bin ich im zweiten Kapitel zu der Frage übergegangen, wie dieses totale Scheitern oder, besser, diese verhinderte Anbahnung eines reformerischen Handelns zu interpretieren ist, und habe eine soziologische Interpretation vorgeschlagen, die auf der Analyse einiger Merkmale der – hier als große Bürokratie verstandenen – Kirche, der unaufhaltsamen Säkularisierung der europäischen Gesellschaften und der fortschreitenden »Verdrittweltlichung« des Weltkatholizismus basiert. Dieser Teil wird durch eine bescheidene und zusammenfassende Übung in historischer Soziologie ergänzt und endet mit der Feststellung, dass eine Veränderung der Kirche – will sagen: eine Milderung ihres klerikalen, männlichen, hierarchischen und zentralistischen Charakters – weder wahrscheinlich noch aus streng funktionaler Sicht überhaupt notwendig ist.

Das dritte Kapitel hingegen ist ganz Papst Franziskus und der Untersuchung der wichtigsten und typischsten Merkmale seines Pontifikats gewidmet, die – wie sich an diesem Punkt von selbst verstehen dürfte – nicht die Arbeitsweise der kirchlichen Struktur, die der Papst völlig unangetastet gelassen hat, sondern eher die Ausübung des Papsttums, Franziskus’ persönliche Botschaft betreffen. In unserer von der enormen Macht der Kommunikationsmittel gekennzeichneten Zeit ist der Papst nämlich nicht mehr nur ein gewählter absoluter Monarch an der Spitze einer gewaltigen Weltorganisation, sondern auch ein geistlicher und politischer Leader, der imstande ist, seine Gedanken und Überlegungen tagtäglich bekannt zu machen und durch Bilder, Worte und Gesten mit einem über die ganze Welt verteilten riesigen Publikum aus Gläubigen, Neugierigen und Beobachtern zu teilen. Franziskus hat diese Möglichkeit auf bewundernswerte Weise genutzt, und es ist ihm mit der tatkräftigen Unterstützung des medialen Systems, das immer verzweifelt nach konsumierbaren »Persönlichkeiten« sucht, gelungen, die Bühne der Kommunikation erfolgreich in Beschlag zu nehmen und dabei nicht nur den Eindruck zu erwecken, er verfüge über eine originelle und zeitgemäße politische und soziale Botschaft, sondern habe darüber hinaus eine Institution, die sehr oft mit Unbeweglichkeit und Bewahrung gleichgesetzt wird, auf den Weg tiefgreifender und dauerhafter struktureller Veränderungen gebracht.

So gesehen war das bemerkenswerteste Element der Aktivität des Pontifex sicherlich die von mir so bezeichnete »Politik der Freundschaft«, die er nach allen Seiten hin praktiziert: mit anderen Worten die Tendenz, die ideologischen und kulturellen Unterschiede als belanglos und die Morallehre als nebensächlich zu betrachten und stattdessen einem Irenismus den Vorzug zu geben, der letztlich sowohl der Form als auch der Substanz entbehrt. In Franziskus’ Kirche gibt es keine Schranken, weil es an echten Grundoptionen fehlt; alle Heterodoxien können ihren Platz finden, solange sie nur bereit sind, die Rolle des Hirten und Oberhaupts der gesamten Christenheit anzuerkennen, die der...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Christentum - Religion - Glaube

Transitus Mariae

E-Book Transitus Mariae
Beiträge zur koptischen Überlieferung. Mit einer Edition von P.Vindob. K. 7589, Cambridge Add 1876 8 und Paris BN Copte 129 17 ff. 28 und 29 (Neutestamentliche Apokryphen II) - Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten JahrhunderteISSN N.F. 14 Format: PDF

The discussion about the beginnings of Transitus-Mariae literature (apocryphal texts about the life and death of the Mother of Jesus) is marked by two hypotheses. The first is marked by the…

Abram - Abraham

E-Book Abram - Abraham
Kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Genesis 14, 15 und 17 - Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche WissenschaftISSN 350 Format: PDF

This substantial contribution to Pentateuch research shows paradigmatically how the politico-geographical concepts from Genesis 14 and the concepts of the theology of promise in Gen 15 are…

Sich verzehrender Skeptizismus

E-Book Sich verzehrender Skeptizismus
Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard - Kierkegaard Studies. Monograph SeriesISSN 12 Format: PDF

The study focuses on the sceptical forms of thought and expression with which Hegel and Kierkegaard link the claim for absolute truth. With his 'self-completing scepticism' (Phenomenology of…

Sich verzehrender Skeptizismus

E-Book Sich verzehrender Skeptizismus
Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard - Kierkegaard Studies. Monograph SeriesISSN 12 Format: PDF

The study focuses on the sceptical forms of thought and expression with which Hegel and Kierkegaard link the claim for absolute truth. With his 'self-completing scepticism' (Phenomenology of…

Weitere Zeitschriften

Atalanta

Atalanta

Atalanta ist die Zeitschrift der Deutschen Forschungszentrale für Schmetterlingswanderung. Im Atalanta-Magazin werden Themen behandelt wie Wanderfalterforschung, Systematik, Taxonomie und Ökologie. ...

Burgen und Schlösser

Burgen und Schlösser

aktuelle Berichte zum Thema Burgen, Schlösser, Wehrbauten, Forschungsergebnisse zur Bau- und Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Denkmalschutz Seit ihrer Gründung 1899 gibt die Deutsche ...

care konkret

care konkret

care konkret ist die Wochenzeitung für Entscheider in der Pflege. Ambulant wie stationär. Sie fasst topaktuelle Informationen und Hintergründe aus der Pflegebranche kompakt und kompetent für Sie ...

Die Versicherungspraxis

Die Versicherungspraxis

Behandlung versicherungsrelevanter Themen. Erfahren Sie mehr über den DVS. Der DVS Deutscher Versicherungs-Schutzverband e.V, Bonn, ist der Interessenvertreter der versicherungsnehmenden Wirtschaft. ...

Euphorion

Euphorion

EUPHORION wurde 1894 gegründet und widmet sich als „Zeitschrift für Literaturgeschichte“ dem gesamten Fachgebiet der deutschen Philologie. Mindestens ein Heft pro Jahrgang ist für die ...

filmdienst#de

filmdienst#de

filmdienst.de führt die Tradition der 1947 gegründeten Zeitschrift FILMDIENST im digitalen Zeitalter fort. Wir begleiten seit 1947 Filme in allen ihren Ausprägungen und Erscheinungsformen.  ...