Kapitel 6.2, Auswirkungen der Technologie auf Arbeitsweise, Themen und Bildsprache: Befragungs-Ergebnisse:
Viele der von uns befragten Dokumentarfilmer berichten in der Tat von Produktionen, die ohne kleine Kameras und kleines Team nicht realisierbar wären und dies aus unterschiedlichen Gründen: So war beispielsweise Phillis Fermer auf die kleine unauffällige Kamera bei ihrem Dreh über Kinderarbeit in Indien angewiesen, da sie vom Staat keine Drehgenehmigung erhalten hatte. Charlotte Schwalb arbeitet an ihrem ersten Dokumentarfilm über ihre eigene Familiengeschichte ohne eine Sendezusage und setzt daher ebenfalls auf DV. Andreas Kölmel erstellte einen Film über die Beziehung zu seiner Freundin und ihren Kindern, bei der jeder der Protagonisten drehen durfte und daher eine leicht bedienbare und jederzeit verfügbare Kamera Voraussetzung war. Auch Gerd Conradt weist darauf hin, dass viele seiner Produktionen durch DV-Technik überhaupt erst möglich wurden.
Technische oder gestalterische Defizite würden zugunsten der Inhalte und Themen in Kauf genommen: „Bei all diesen Filmen ist mir dann die Technik und wie es aussieht ziemlich egal, wenn mich das Thema mitnimmt und mich daran beteiligt. […] Ob da mal etwas unscharf ist oder ein Wackler – das verzeihe ich alles“, so Kölmel. „Du hast einfach die Chance, autark, ohne große Planung, spontan an die Leute dicht ran zu kommen, mit Ein-Mann-Team. Auch das ist eine Option, die eine größere Intimität herstellt. In manchen Situationen brauchst du das, und überall dort ist DV super und hat uns einen wahnsinnigen Fundus an Themen und Herangehensweisen gebracht“.
Nähe zu den Protagonisten: Der am häufigsten genannte Grund für die Entscheidung, mit DV zu drehen, ist die Herstellung von Nähe zu den Protagonisten. So schreibt der Filmemacher Manfred Uhlig: „Grundsätzlich halte ich das DV-Format für das ‚echte’ dokumentarische Format, weil es den Filmemacher in die Lage versetzt, viel Zeit mit seinen Protagonisten zu verbringen. Und Zeit ist für das Herstellen von Nähe eine der wichtigen Voraussetzungen“. Annette Zinkant hatte sich bei ihrem Film „Hauptsache Liebe - Voll verknallt“ für DV entschieden, „weil wir eine kleinere, unauffälligere Kamera für diesen Film besser geeignet fanden, da wir viel mit Jugendlichen gedreht haben und besonders auf Partys oder in der Disko nicht so viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen wollten“. Auch für Bettine Brauns Film „Was lebst du“ war die Arbeit ohne Team mit kleiner Kamera entscheidend: „Dass ich nicht jedes Mal ein Team zusammenorganisieren musste, um drehen zu gehen und die Intimität, die auch dadurch entstanden ist, dass ich als Ein-Frau-Team dort war, das hat den Film natürlich auch inhaltlich beeinflusst“, so die Filmemacherin.
Mehr Drehzeit: Diese Intimität, von der die von uns befragten Filmemacher sprechen, lässt sich auf viele Aspekte der Arbeitsweise mit DV zurückführen. Ein Aspekt liegt darin, dass Autoren aufgrund der geringen Materialkosten mehr Drehtage realisieren und so mehr Zeit mit den Protagonisten verbringen können – wie Uhlig bereits anmerkte. Hierdurch kann sich ein anderes Verhältnis zu den Protagonisten entwickeln: Ein einzelner Dokumentarfilmer, der lange am Ort des Geschehens ist und zudem mit der kleinen Kamera nicht sonderlich auffällt, wird von den Protagonisten weniger als Außenstehender, sondern vielmehr als Teil des Geschehens wahrgenommen. Dies kommt vor allem Langzeitdokumentationen zu Gute, die auch häufig, aufgrund der hohen Anzahl der Drehtage, ohne DV gar nicht produziert werden könnten: „Zum Beispiel habe ich bei meinem ersten langen Film über zwei Jahre Drogendealer in einem Rehabilitationszentrum begleitet. Kostentechnisch wäre das nicht möglich gewesen, hätte ich mir die Kamera nicht selbst gekauft. Dies gilt natürlich auch für die digitale Schnitttechnik“, schreibt Susanne Jäger.
Unauffällige, immer einsatzbereite Kamera: Die geringere Auffälligkeit und die schnelle Verfügbarkeit der kleinen Kameras waren außerdem bei den von uns befragten Filmemachern wesentliche Kriterien für die Entscheidung, mit DV zu drehen. Durch die kleinen Kameras und die Arbeit im kleinen Team würden Situationen „weniger verfälscht“, da die Ausrüstung von vielen Protagonisten als weniger „professionell“ empfunden werde, legten diese zudem ihre Scheu vor der Kamera ab, merkt Charlotte Schwalb an. „Man kann sie schneller auspacken und einpacken, dadurch ist mehr Spontaneität möglich.“ Ein gutes Beispiel hierfür nennt Phillis Fermer. Bei ihrem Film „Buenos dias amor“, in dem es um die Heirat einer Kubanerin und eines Deutschen geht und der vor allem die Vorurteile von Freunden und Verwandten thematisiert, gelang es ihr, eine der Schlüsselszenen mehr oder minder zufällig aufzuzeichnen: „Der Abend wurde länger und länger. Und die wurden immer betrunkener […] und es war auch ein bisschen langweilig geworden. [Die Kamera] hatte ich mir auf den Schoß gelegt und auf einmal höre ich so, wie der sagt: ‚Nun will ich euch noch was sagen’.“ Es folgt das Bekenntnis des Protagonisten gegenüber seinen Eltern, dass er seine kubanische Freundin, die die Eltern erst seit wenigen Tagen kennen, heiraten will. „Es wäre nie mit einer anderen Kamera gegangen. Die hätte man zur Seite gestellt.“ Dieses Plus an Flexibilität ergäbe sich nicht nur beim Drehen allein, sondern auch bei der Arbeit im Team, da auch hier eine kleine Kamera die Umbauzeit verringere und dem Kameramann schnellere Reaktionen auf Geschehnisse ermögliche, meint Fermer. Sie schränkt jedoch ein: „Man ist [beim Dreh mit Team] ein Möbelstück in der Wohnung, man muss ein Zimmer vollständig voll stellen mit Licht und Taschen, das ist bei einer DV nicht nötig. Deren Job ist es ja dann, alles ganz perfekt zu machen. Und die sind, selbst wenn sie zu zweit oder dritt sind langsamer, als man alleine ist mit der DV, viel langsamer.“ Die Möglichkeit, schnell zu reagieren ist insbesondere bei Reportagen von Vorteil."