Kapitel 2.3, Grundlegung einer kritischen Evaluation:
Dass die von der Bundesregierung aufgelegte IZBB-Politik in ein nationales Konsensprojekt mündete, ist unbestritten. Obwohl die bildungspolitischen Verantwortlichkeiten traditionell in den Ländern liegen, sah sich die Bundesregierung nach PISA in der Pflicht, die Probleme des deutschen Bildungswesens offensiv anzugehen. Sie überschritt dabei den föderalistischen Tatsachenbestand der bildungspolitischen Kompetenzverteilung.
Die politischen Handlungen in der Not der damaligen Stunde hatten zudem zweierlei Funktionen. Die erste Funktion war sicherlich von der Überzeugung und Anstrengung geleitet, durch die Ganztagsschulpolitik das Bildungswesen mit seiner wichtigen gesellschaftlichen Funktion zu stabilisieren.
Andererseits nutzte die IZBB-Politik, die auch eine etwas aktionistische Komponente bereithält, der Festigung der Legitimation der rot-grünen Bundesregierung. Durch die sehr zügige Problemdefinition und die Entwicklung eines Handlungsprogramms sollte die Reformfähigkeit und die eigene Unentbehrlichkeit betont werden. Die angespannte Situation nach PISA wurde vom Bund als eine strategisch vorteilhafte Situation aufgenommen und dazu genutzt, sich bei der in der Öffentlichkeit sehr wohl im Bewusstsein befindlichen Bildungspolitik als sehr relevanter Akteur, ja sogar als den eigentlichen Impulsgeber, zu inszenieren.
Es gelang ausgesprochen gut, den Anschein einer Politik der Zukunftsorientierung aufzubauen und zu verfestigen. Gauger sieht, dass das vor allem von der Bundesregierung und den SPD-regierten Ländern entfachte Interesse an der Ganztagsschule aus den Ergebnissen der PISA-E-Studie stammt, die den Bankrott der SPD-Schulpolitik belegt, denn jedes Mal sei ein deutliches Leistungsgefälle zwischen Unions-geführten und SPD-geführten Ländern festzustellen gewesen.
So sollte durch die IZBB-Politik vor dem Hintergrund der PISA-Ergebnisse vor allem vom eigenen Versagen abgelenkt werden. Der Inszenierung macht sich die Politik zum Beispiel auch durch die Erfolgsmeldungen aus den Ländern Sachsen und Thüringen verdächtig, als die Ummünzung der bestehenden Gesamtschulen mit Ganztagsschulangebot als ein politischer Erfolg der IZBB-Politik präsentiert wurde.
Manche Skeptiker argumentieren auch, dass die derzeitige Ganztagsschulpolitik keine pädagogisch motivierte Schulreform sei, sondern die Einführung von Ganztagsschulen als Reaktion auf soziale Missstände und jugendpolitische Problemlagen in Großstädten sowie als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen wie Alleinerziehende, Erwerbstätigkeit von Müttern und Erziehungsdefizite hin forciert würde.
Die pädagogischen Argumentationsstränge seien erst im Nachholverfahren von der Politik eingesetzt worden. Die Diskussionen um das „Versagen der Gegenwartsschule“ seien lediglich „Mittel zum Zweck“, um die defizitären gesellschaftlichen Bedingungen nun in der „Reparaturwerkstatt“ Ganztagsschule abzufedern.
Die Wirksamkeit des eingesetzten Steuerungsinstruments besteht bei der IZBB-Politik auf jeden Fall, wie an den hohen Zahlen der Antragsteller abzulesen ist. Die Voraussetzung der Ausgeglichenheit zwischen Regelungs- und Motivationskomponente war demnach gegeben. Ob bei der Verteilung und Investition der Finanzhilfe Mitnahme-Effekte eingetreten sind, ist schwierig zu beurteilen. Wer Schulen, die ganztätige Angebot haben, beobachtet, bemerkt, dass manche Schulen beispielsweise schon vor IZBB so genannte verlässliche Grundschulen oder diverse ganztägige Einrichtungen eingeführt hatten. Womöglich wurde auch in Gemeinden die örtliche Turnhalle renoviert, welche auch von Vereinen intensiv genutzt wird. Im zuletzt genannten Falle wurden – streng genommen - die eigentlichen Adressaten verfehlt.
Ein bisher nur eingeschränkt nachweisbarer Zusammenhang weist auch auf ein sozialregulatives Moment der IZBB-Policy hin. Demnach drängt sich die Frage auf, ob die IZBB-Politik für die Entwicklung der Frauenerwerbsbeteiligung einen sozialregulativen Impuls in die Gesellschaft hinein darstellt. Es wird zumindest die Möglichkeit geschaffen, dass sich tradiertes Verhalten verändert. Der nicht weiter begründungsbedürftige Wert, der eine solche politische Programmatik legitimiert, ist demnach die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Arbeitswelt. Sieht man die IZBB-Politik als ein Steuerungsmechanismus an, der versucht, das Verhalten von Erwachsenen, resp. das von Müttern als Programmklienten zu regulieren, so liegt auch eine latente sozialregulative Policy vor.
Da die meisten Ganztagsschulen auf freiwilliger Basis organisiert sind, ist die Verhaltensmodifikation der Mütter allerdings nicht von vornherein sichergestellt. Allerdings verlässt sich ein Policy-Making-System auch auf valide, reliable und repräsentative Akzeptanzumfragen, die bekanntermaßen ein solches Verhalten bei Anteilen der Schülermütter als sehr wahrscheinlich aussehen lassen.
Zum Policy-Labeling ist demnach Folgendes zu bemerken. Wäre die Ganztagsschulpolitik im Zusammenhang mit Sozial-, Familien-, Wirtschafts-, Fiskal- und Rentenpolitik thematisiert worden, so wäre die Zustimmung zurückgegangen oder eine stärker fragmentierte Politikarena entstanden. Durch den derzeit konsensfähigen, bildungspolitischen Aspekt der IZBB-Politik und die damit entstehende Verbindung zu zentralen gesellschaftlichen Wertvorstellungen einer Wissensgesellschaft erhöhte sich die Legitimation zur Verteilung von öffentlichen Mitteln in einer stark ausdifferenzierten Gesellschaft signifikant.
Es gibt also eine unterschwellige Dramaturgie darüber, welche anderen politischen Chancen die Ganztagsschul-Policy noch bereithält. Die Nachricht einer Ganztagsschul-Policy wird in der Gesellschaft als genuine Bildungspolitik gedeutet, heißt aber für Deutschland mehr als nur Ganztagsschule, wie in den vorhergehenden Kapiteln bereits aufgezeigt wurde. Die Darstellung der Komplexität der existierenden Nebeneffekte wäre für die Mehrheitsgesellschaft zu kompliziert gewesen und hätte unangenehme, konfliktförderliche Irritationen hervorgerufen.
Für die politischen Entscheidungsträger jedoch wurde die bildungspolitische Situation genutzt, um einen Befreiungsschlag bei einer Reihe von anderen Problemen zu schaffen. Es ist also zu vermuten, dass die Rechtfertigung dafür besteht, den Policy-Makern eine gewisse strategische Rationalität zu unterstellen, die in der Ganztagsschulpolitik einen Multi-Lösungs-Entwurf sieht, der bereits mehrfach zum Policy-Problem erklärte Issues unserer Gesellschaft mit zu lösen versucht.
So könnte die Ganztagsschulpolitik, aus bestimmten Perspektiven betrachtet, auch symbolische Politik sein. Policy-Labeling kann zudem gefährlich werden, sollte die Etikette vom Wähler als nicht authentisch perzipiert werden – die Unterstützung der Policy könnte erodieren und von der Agenda verschwinden."