LICHT UND DUNKEL. LIEBE UND HASS.
Versuch eines Vorworts von Joachim Ernst Berendt
1.
Der Weise beobachtet einfach, wohin sich der Fluss der Natur wendet; dann folgt er diesem Fluss. Er hat kein Ego, das den Fluss vorantreiben will … Er versucht nicht, die Natur zu besiegen; er sieht ein, dass das eine Dummheit wäre … Er wird wie eine weiße Wolke, die am Himmel zieht – ohne zu wissen, wohin … Das Ziel ist überall. Du musst die Natur nur gewähren lassen. Jeder Augenblick ist Erfüllung. Du musst es nur zulassen. Nur zulassen …“
Das sind die Worte, mit denen dieses Buch endet. Ich setze sie an den Anfang, damit der Kreis geschlossen ist. Der Kreis als Zeichen des Zen. Der Einheit und des Eins-Seins. Des Rades. Der ewigen Wiederkehr. Alles wichtige Symbole für dieses Buch, zu dessen Kernsätzen die folgenden gehören: „Alles fließt. Nichts ruht. Alles vergeht, nichts dauert … Veränderung ist das einzig Ewige. Nur der Wandel bleibt. Sonst nichts… In einem Kreis sind Anfang und Ende eins.“
Osho hat die hier vorgelegten Diskurse über die Fragmente des Heraklit im Dezember 1974 gehalten – schon damals sprach er in jener souveränen Art, die so viele, die ihn hören, in den Bann schlägt. Von der kurzen Periode des Schweigens in Oregon unterbrochen, sprach er seit fünfzehn Jahren in dieser Weise: täglich mehrere Stunden frei redend – meist ein Diskurs morgens, einer abends – ohne schriftliche Unterlagen –, nie versiegend an Einfällen, Ideen, Stories, Informationen – an Weisheit. Um die 500 Bücher sind auf diese Weise entstanden, direkt und ohne weitere Korrekturen von den Tonbandaufnahmen in das druckfertige Manuskript übertragen – ein Phänomen ohne Vergleich. Man hat gesagt: „Osho spricht wie gedruckt.“ Aber man kann den Satz auch umkehren: Der gedruckte Osho liest sich und klingt für den mit seinem inneren Ohr Mitlesenden, als ob Osho selbst spräche. Dies ist gesprochene Sprache. Der Leser ist dabei, erlebt mit, wenn ein Gedanke entsteht: wie er sich nähert, zum ersten Mal eingefangen, wieder fallen gelassen, erneut aufgegriffen, gewendet, hinterfragt, präzisiert wird und wie er schließlich jene geschliffene Form erhält, die einem Osho-Gedanken ansteht. Dies ist epische Sprache. Selbst wenn Osho abstrakte Gedanken abhandelt, klingt es, als erzähle er Geschichten.
Ich stelle mir vor, Heraklit hat ähnlich gesprochen. Geschrieben hat er nichts. Es gibt nur Fragmente. Seine Schüler und Anhänger haben sie aufgezeichnet. Da es Aufnahmegeräte nicht gab – auch keine Stenografie –, konnten sie nur Bruchstücke festhalten.
Heraklit hat im 6. Jahrhundert vor Christus in Ephesus in der heutigen Türkei gelebt, einer der prachtvollsten Städte der damaligen Welt. Denken im Abendland beginnt mit Heraklit. Es gibt nur noch einen anderen Denker, von dem man das in ähnlicher Weise sagen kann – von seinem großen Zeitgenossen Pythagoras auf der Insel Samos – nicht weit von Ephesus entfernt. Ob sich die beiden gekannt, gelegentlich besucht, miteinander Diskurse geführt und gestritten haben? Pythagoras hat als Erster die harmonikale Grundstruktur des Universums „offensichtlich“ zu machen versucht.
Heraklit liebte die „Verborgene Harmonie“. Die Alten haben ihn „den Dunklen“ genannt – ihn, dessen Gedanken von leuchtender Klarheit und Helle sind. Manche mochten ihn nicht. Er war ihnen ein Stein des Anstoßes. Über die Jahrhunderte hinweg haben sich Philologen und Philosophen über ihn geärgert. Genau so wie sich heute die Leute über Osho ärgern. Osho spricht über Heraklit, weil er die Gemeinsamkeit zwischen seinem Denken und dem des großen, „dunklen“ Griechen spürt. Nur deshalb kann er so tief in die Fragmente des Heraklit eindringen.
Vor Jahren, als ich mein Buch „Das Dritte Ohr“ schrieb, brauchte ich Informationen über Heraklits „Verborgene Harmonie“. Ich fragte einen Philosophie- und Politikdozenten von der Technischen Universität Berlin – Hans-Peter Hempel, Autor des Buches „Heidegger und Zen“. Der sprach von dem engen Zusammenhang des Denkens Heideggers und dem Oshos am Beispiel des Heraklit. Ich traute meinen Ohren nicht. Ich schwöre, Hempel hatte nichts mit Sannyasins am Hut. Er kannte selbstverständlich die Literatur und Oshos Werk, er wusste, wo man sich am besten kundig macht.
2.
Heraklit und Osho: Die beiden sind wie die Quellflüsse eines gemeinsamen Stromes – der eine fließt über die Jahrtausende hinweg, der andere in unserem Jahrhundert entsprungen und doch bereits ähnlich mächtig und reißend. Der Leser steht am Ufer und sieht und verfolgt staunend, bewegt, verunsichert, manchmal auch lachend die Gedanken – sich wandelnd, sich verzweigend, wieder zusammenfließend, in Strudeln und Katarakten – in unerschöpflicher Fülle vorbeiströmend. Es ist schön, am Ufer zu stehen und den Fluss anzuschauen. Ganz viele Osho-Leser tun das. Aber es ist auch notwendig, in den Fluss zu springen und selbst zu schwimmen. Deshalb hat Osho so oft gesagt: „Bücher müssen überschritten werden.“
Wer das Ufer überschreitet, fällt in den Fluss. Dann muss er schwimmen können. Um ein Ufer überschreiten zu können, braucht man das Ufer. Um Bücher überschreiten zu können, braucht man Bücher. Wer aus Oshos Forderung, Bücher müssen überschritten werden, folgert, er brauche keine Bücher zu lesen, hat nichts verstanden.
Ich habe in den USA einen Freund, dessen Haus direkt am Mississippi steht. Da sitzt er stundenlang am Fenster und schaut auf den sich in jeder Welle wandelnden Strom.
„Ich wohne hier schon 25 Jahre lang“, sagt er, „aber der Fluss ist jede Minute anders. Du wirst süchtig, wenn du ihn anschaust. Es ist, als siehst du das Leben selbst.“
Als junger Mann war ich süchtig nach der Sprache Nietzsches. Man kann süchtig nach Oshos Sprache werden. Ich kann diejenigen verstehen, die es werden. Man steht am Ufer und schaut den Worten, Sätzen und Gedanken zu, als seien sie Wellen. Osho schwimmt in ihnen – wie jene großen chinesischen Denker, die einmal in ihrem Leben den Gelben Fluss durchschwammen. Osho schwimmt sein Leben lang durch Ströme, die so breit sind wie der Gelbe Fluss: Den Strom Laotse. Den Strom Buddha. Den Strom Jesus. Den Strom Pythagoras. Die Ströme der großen Zen-Weisen. Den Strom Heraklit.
Wer jemals durch einen Strom geschwommen ist, hat hinterher das Gefühl: jetzt ist er mein eigener. Aber er hat auch erfahren: „Man schwimmt niemals durch den gleichen Fluss.“ Das ist einer der großen Sätze Heraklits. Über die Jahrtausende hinweg wurde er immer wieder aufgegriffen – bis hin zu Hermann Hesse.
Osho: „Irgendwie müsst ihr es verstehen lernen, dieses ewige Fließen… nichts als ein Fließen, das immer weitergeht.“
Wenn der Fluss in jeder Sekunde ein anderer ist, dann ist der Mensch noch viel mehr von Sekunde zu Sekunde ein anderer. Osho zitiert Buddha: „Es gibt nichts in dir, das Dauer hat, nichts, das Wesen hat. Du bist etwas Fließendes, ein Strom.“
Man könnte an dieser Stelle auf die moderne theoretische Physik verweisen. Der Einstein-Schüler David Bohm hat das neue physikalische Weltbild des „Holomovement“ geschaffen – von holos – ganz, und movere (lateinisch) – sich bewegen. Alles ist eins und dennoch in steter Bewegung. Das genau sagt Heraklit, das sagt Osho, das sagen heute auch die Physiker. Nachdem sie jahrhundertelang das Gegenteil dessen gesagt haben, was die spirituellen Weisen meinten, sagen sie heute genau das Gleiche.
3.
Oshos Heraklit-Buch beginnt mit dem berühmtesten Heraklit-Fragment:
„Die verborgene Harmonie
ist mächtiger
als die offensichtliche…
Die Menschen sehen nicht,
dass alles, was sich widerspricht,
dadurch mit sich in Einklang kommt.“
Diese Worte sind auch Schlüsselsätze meines eigenen Denkens. Der erste, vorstehend wiedergegebene Heraklit-Satz ist eingespannt in den Kontrast zwischen den Adjektiva „verborgen“ und „offensichtlich“. Wir kennen alle die offensichtliche Harmonie: den fröhlichen Zusammenklang zwischen Menschen – das harmlose, „harmonische“ Zusammenklingen der Töne in Tagesschlagern oder Meditationsmusik – die Übereinstimmung zwischen dir und mir, die schon morgen durch Hass ersetzt werden kann. Heraklit meint, diese „offensichtliche“ Harmonie ist zwar gut und mächtig, aber es gibt eine andere Harmonie, die noch viel besser und mächtiger ist, das ist die „verborgene“.
Was könnte mit „verborgene Harmonie“ gemeint sein? Ich glaube, es ist gut, sich Heraklit im griechischen...