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Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. [Was bedeutet das alles?]

Bauer, Thomas - Erläuterungen; Denkanstöße; Analyse - 19492

AutorThomas Bauer
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2018
ReiheReclams Universal-Bibliothek 
Seitenanzahl104 Seiten
ISBN9783159613109
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,49 EUR
Was haben das Verschwinden von Apfelsorten, das Auftreten von Politikern in Talkshows, religiöser Fundamentalismus und der Kunst- und Musikmarkt miteinander gemeinsam? Überall wird Vielfalt reduziert, Unerwartetes und Unangepasstes zurückgedrängt. An die Stelle des eigentümlichen Inhalts rückt vermeintliche Authentizität: Nicht mehr das 'was' zählt, sondern nur noch das 'wie'. Thomas Bauer zeigt die Konsequenzen auf, sollten wir diesen fatalen Weg des Verlustes von Vielfalt weiter beschreiten.

Thomas Bauer, geb. 1961, lehrt als Arabist und Islamwissenschaftler an der Universität Münster. 2012 erhielt er den Leibnizpreis.

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Leseprobe

Kurzzeitiges Unentschieden in Genf


Zu Zeiten der Renaissance entstand ein Ambiguitätsüberschuss, also etwas, was in der europäischen Geschichte eher selten vorkommt. Während sich Kunst und Kultur in Italien auf das Prächtigste entfalteten, wollten viele die überbordende Ambiguitätstoleranz der Renaissancepäpste nicht mehr unwidersprochen hinnehmen. Das Resultat war wieder ein typisch europäisches. In anderen Weltgegenden hätte man eher Kompromisslösungen gefunden, also: Reformen statt Reformation. In Europa aber folgten Kirchenspaltungen und ein religiöser Rigorismus, wie es ihn kaum je zuvor auf so breiter Front in der Welt gegeben hatte.

Dabei gab es reichlich mahnende und versöhnliche Stimmen, wie etwa die von Erasmus von Rotterdam, und an vielen Orten viel guten Willen zum Kompromiss, so auch in Genf, wo die Reformation dann aber letztendlich eine besonders radikale Gestalt annehmen sollte. Dass es dazu kam, war zunächst alles andere als ausgemacht. Religion alleine hätte auch nicht dazu ausgereicht, in Genf eine Tyrannei der Tugend – so der Titel eines Buches von Volker Reinhardt – zu etablieren. Religiöser Rigorismus motiviert in der Regel nur Einzelne. Um daraus eine breite Bewegung entstehen zu lassen, bedarf es immer auch und vor allem politischer Motivationen und günstiger politischer Begleitumstände. Das war sowohl bei Luther als auch bei Calvin der Fall, und es ist bei den Taliban und dem IS nicht anders. Selbst tiefreligiöse Menschen wissen oder spüren zumindest unbewusst, dass Religion eine ambiguitätshaltige Angelegenheit ist, in der man nur unter völliger Selbstverleugnung letzte Gewissheit postulieren kann. Um religiösen Rigorismus auf breiter Front zu mobilisieren, ist deshalb stets auch ein Anstoß von außen nötig. Häufiger noch sind Fälle, in denen ein äußeres, politisches Motiv religiöse Energien in den Dienst der eigenen Sache stellt.

Die Reformation in Genf liefert hierfür ein gutes Beispiel: Zunächst gab es auch hier Reformbestrebungen, die aber nicht allzu rigoros durchgeführt wurden: »Leben und leben lassen«, so lautete die Devise. Das hätte lange so weitergehen können, wären da nicht politische Mächte gewesen, denen gegenüber man sich positionieren musste. Da waren die unbeliebten Herzöge von Savoyen, zu denen man durch eine pro-eidgenössische Politik Distanz schaffen wollte. Deshalb ging man 1526 mit Freiburg/Fribourg und Bern eine combourgeoisie ein. Als nun aber Bern zwei Jahre später die Reformation einführte, während Freiburg beschloss, ein Bollwerk des alten Glaubens zu bleiben, wuchs der Druck auf Genf, sich endlich für die eine oder andere Richtung zu entscheiden. Das pragmatische Bürgertum, dem religiöser Rigorismus fernlag, versuchte es mit einer geradezu klassischen ambiguitätstoleranten Lösung: Man verfolgte eine Politik des »dritten Wegs«, nämlich »den Glauben zur Angelegenheit des individuellen Gewissens zu erklären, den Geistlichen eine Predigt auf der Grundlage des reinen Gottesworts zu befehlen und ansonsten alles beim Alten zu lassen.« Auch die Fastenpredigten sollten allein auf der Bibel beruhen, während man am Gebot des Fleischverzichts festhielt. Da es nun aber schwer ist, Ambiguität aufrechtzuerhalten, da weder Katholiken noch Reformierte mit dieser Lösung zufrieden waren, und da es reichlich politische und sogar militärische Gründe gab, sich für die eine oder die andere Richtung zu entscheiden, endete dieser Versuch, einen Mittelweg zu gehen, schon wenige Jahre später, als am 8. Oktober 1535 der letzte katholische Gottesdienst in der Kathedrale gefeiert wurde. Der Prediger Guillaume Farel, der gegen die »Verunreinigung des Glaubens durch die eigennützigen römischen Erfindungen« gewettert hatte, hatte sich durchgesetzt.

Im folgenden Jahr ließ sich nun, von Farel unterstützt, Johannes Calvin in Genf nieder und setzte dort seine »Tyrannei der Tugend« durch. Wenn heute muslimische Fanatiker Ähnliches anstreben, dann heißt es immer, sie wollten einen »Gottesstaat«. Der Begriff »Gottesstaat« stammt von Augustin (De civitate Dei), der damit aber etwas ganz anderes meinte. Ein arabisches Äquivalent gibt es nicht, und im Islam kommt der Begriff ebenso wenig vor, wie er im calvinistischen Genf gebraucht wurde. Man sollte ihn also heute tunlichst vermeiden.

Jenseits dieser Begrifflichkeit gibt es aber doch auffällige Gemeinsamkeiten zwischen Calvins »Tyrannei der Tugend« und islamistischen Gesellschaftsvorstellungen. Beide lassen sich unter den Begriff des Fundamentalismus fassen, der viele Definitionen und Deutungen erfahren hat. Interessant ist dabei aber vor allem, welche seiner Elemente sich auf Ambiguitätsintoleranz zurückführen lassen, denn daran, dass eine zutiefst ausgeprägte Ambiguitätsintoleranz jedem Fundamentalismus zugrunde liegt, kann schwerlich gezweifelt werden. Hat man dieses Fundament des Fundamentalismus erkannt, wird man leicht entsprechende fundamentalistische Wesenszüge auch in gesellschaftlichen Bereichen erkennen können, in denen es bislang nicht üblich war, von Fundamentalismus zu sprechen.

Beginnen wir mit dem Begriff der Wahrheit. Wer Eindeutigkeit erstrebt, wird darauf beharren, dass es stets nur eine einzige Wahrheit geben kann und dass diese Wahrheit auch eindeutig erkennbar ist. Eine perspektivische und damit nicht-eindeutige Sichtweise auf die Welt wird abgelehnt. Für Calvin ist die Bibel in allen wichtigen Punkten absolut eindeutig und uneingeschränkt verbindlich – ohne jeden Spielraum für Interpretation. Parallelen zu heutigen fundamentalistischen Strömungen im Islam und in anderen Religionen, Weltanschauungen und politischen Ideologien sind offensichtlich.

Der Komplementärbegriff zu »Wahrheit« ist nun der der Wahrscheinlichkeit. Ein klassischer islamischer Jurist beanspruchte nicht, in seinem Gutachten die Wahrheit, sondern nur eine mit guten Gründen fundierte wahrscheinlich richtige Lösung gefunden zu haben. Auch Parlamente demokratisch verfasster Staaten verkünden keine Wahrheit, sondern suchen lediglich die aller Wahrscheinlichkeit nach angemessenste Lösung.

Wenn es nur eine einzige Wahrheit gibt, dann muss diese auch überzeitlich gültig sein. Hat man zu bestimmten Zeiten bestimmte Dinge anders gesehen und anders interpretiert, können diese Sichtweisen und Interpretationen nur falsch sein, weil es anderenfalls ja mehrere Wahrheiten geben müsste. Das zweite grundlegende Merkmal des Fundamentalismus besteht also in der Ablehnung der Geschichte. Auch Calvins »Organisationsplan einer christlichen Gemeinschaft trat mit dem ehernen Anspruch auf, nichts neu zu schaffen, sondern alles aus den ältesten und reinsten Vorbildern zu schöpfen. Was nicht von den Aposteln und ihren direkten Nachfolgern vorgelebt worden war, hatte keine Daseinsberechtigung«. Dies gilt, ersetzt man die Apostel durch den Propheten Muhammad, ebenso für den salafistischen Islam. Deshalb ist es auch lächerlich, fundamentalistische Strömungen immer wieder zu bezichtigen, sie wollten zurück ins »Mittelalter«. Zum einen ging es in jener Zeit, für die sich der ohnehin nicht sonderlich sinnvolle Begriff »Mittelalter« eingebürgert hat, meist gar nicht so fundamentalistisch zu. Zum anderen lehnen Fundamentalisten gerade die geschichtliche Entwicklung ihrer Religion mit ihren vielfältigen Auslegungstraditionen und ihrem allmählich entstandenen theologischen Überbau auf das Heftigste ab. Es zählt allein jene Anfangszeit, in der der Wille Gottes bzw. des Religionsstifters noch vermeintlich rein und unverfälscht erkannt und umgesetzt wurde.

Dies führt zum dritten prägenden Wesenszug, dem der Reinheit, der sich vielfältig mit dem der Eindeutigkeit überschneidet. Nur dann, wenn etwas rein ist, kann es eindeutig sein. Sobald etwas anderes, Fremdartiges dazukommt, werden Erklärungen nötig. Ist jenes unreine Etwas noch dasselbe Etwas, das es als Reines sein würde? Wie verhält sich das Reine zu jenem, das hinzutritt? Hat jenes Hinzutretende eine eigene Bedeutung oder modifiziert es die Bedeutung des ursprünglich Reinen? Und selbst dann, wenn es dies nicht tun sollte, müsste es dennoch einer Interpretation unterzogen werden, und damit ist das Ursprüngliche zwangsläufig nicht mehr eindeutig. Alles, was interpretiert und gedeutet werden muss, ist nicht mehr rein.

Dieser Reinheitsgedanke findet sich schon bei dem Prediger Farel, der die wahre Religion von allen Zutaten, die sich nicht aus der Schrift ergeben, reinigen wollte. Calvin wollte entsprechend auch Genf reinigen, indem alle Menschen, die falsche Meinungen haben, aus Genf exiliert oder gar, wie Miguel Servet, »ein wandelnder Ansteckungsherd«, auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Wahrheitsobsession, Geschichtsverneinung und Reinheitsstreben sind also drei Wesenszüge bzw. Grundbegriffe von Ambiguitätsintoleranz, die die Basis jedes Fundamentalismus bilden. Dies ist der fundamentalistische Pol der Ambiguitätsintoleranz. Alles ist eindeutig, entweder ganz richtig oder ganz falsch, und es ist ewig gültig.

Es gibt prinzipiell nur zwei Möglichkeiten, der Ambiguität zu entgehen. Entweder existiert Ambiguität dann nicht, wenn etwas (1) nur genau eine einzige Bedeutung hat, oder dann, wenn es (2) gar keine Bedeutung hat. Diesen zweiten Pol nenne ich den der Gleichgültigkeit. Das Wort weckt mehrere Assoziationen: Wenn etwas keine Bedeutung (im Sinne von englisch meaning) hat, dann sind alle Interpretationen gleich gültig. Wenn alle Bedeutungen gleich gültig sind, verliert die Sache insgesamt an Bedeutung (im...

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