DIE HOFFNUNG DER DEUTSCHEN FISCHERS auf Rückkehr in die Heimat teilten auch die polnischen Salesianerinnen im oberschlesischen Siemianowitz-Laurahütte, die noch 1958, nach dem Eintreffen der letzten Schwestern aus Wilna, für die Rückkehr dorthin beteten. »Es herrscht Freude über die Vereinigung, doch nicht weniger harren wir des Augenblicks, in dem der Herr in seiner Barmherzigkeit unserer Gemeinschaft unser teures Kloster und die Kirche in Wilna auf dem Erlöserhügel zurückgibt […]. Wir vertrauen darauf, dass dieser Augenblick kommen wird [und] beten um diese Gnade«, schrieb Schwester Maria Gertruda Janke, für mich ganz einfach Tante Tosia. In Siemianowitz hatten sich die Schwestern nach dem Krieg niedergelassen. Die Oberin Maria Weronika Bogdan wollte offensichtlich keinesfalls einen neuen Sitz für das Kloster in den polnischen »Wiedergewonnenen Gebieten« suchen, da sie mit deren Verlust rechnete oder befürchtete, dass die Schwestern dann ihre Eigentumsrechte in Litauen einbüßen könnten.4
Auch mit den Schwestern aus Wilna beziehungsweise Siemianowitz hatte das Schicksal ein Nachsehen. Alle überlebten den Krieg, doch sie mussten viele Jahre lang herumirren. Bereits im September 1939 bombardierten deutsche Flugzeuge Wilna, woraufhin die Rote Armee dort einrückte, die Stadt aber bald an die Litauer übergab. Doch schon Mitte Juni des folgenden Jahres kehrten die Sowjets zurück und besetzten ganz Litauen. Nun begannen die Massendeportationen in den Osten. Das betraf vor allem Polen, ganz besonders die polnischen Juden, immer häufiger aber auch Litauer. Der in den Amtsstuben desVolkskommissariats (NKWD) ausgearbeitete Zeitplan sah die Verbannung, in einigen Fällen auch die sofortige Erschießung jedes siebten Einwohners von Litauen vor, das Wilnaer Land eingeschlossen, das vor dem Krieg zu Polen gehört hatte. Die Wilnaer Salesianerinnen mussten nach und nach ihr Kloster aufgeben und rechneten fest mit ihrer Verbannung, da eine Ordensgemeinschaft nach der anderen dieses Schicksal ereilte.
Der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 führte dann allerdings dazu, dass der Plan der sowjetischen Deportationen »nur« zu einem Viertel umgesetzt wurde.5 Es ist daher kaum verwunderlich, dass fast alle Einwohner der neuen Litauischen Sowjetrepublik, mit Ausnahme der Juden, für die nun alles noch viel schlimmer wurde, den Ausbruch des Deutsch-Sowjetischen Krieges begrüßten. Auch die Salesianerinnen in Rossa atmeten auf, deren Deportation – wie sie bald erfuhren – für den 27. Juni vorgesehen war.
Maria Gertruda Janke (Tante Tosia), kurz nachdem sie die Klosterchronik vollendet hat
© Privatarchiv
Doch die Freude währte nicht lange. Bald machten die deutschen Einheiten Jagd auf die Wilnaer Juden, »wozu [auch] litauische Soldaten verwendet wurden. Einige derjenigen, die die Juden im nahegelegenen Ponary (das auf Deutsch auch Ponar und auf Litauisch Paneriai heißt) erschossen, wohnten in der [Kloster-]Bibliothek. Nach diesen Massakern kehrten sie immer betrunken heim, und die armen Schwestern hörten ihr schreckliches Geschrei«, schrieb Tante Tosia in der Klosterchronik. Vom einstigen jüdischen Jerusalem in Europa war bald kaum noch etwas übrig. Heute erinnert nur noch die Synagoge an der Pylimo-Straße (früher ulica Zawalna) an das einst blühende jüdische Leben in der Stadt.
Dann kamen die Deutschen und setzten das von den Sowjets begonnene Werk der Auslöschung der polnischen Intelligenz fort. Die polnischen Geistlichen wurden im Gefängnis Łukiszki (litauisch Lukiškės) zusammengetrieben und von dort nach Deutschland oder in besondere Internierungslager im besetzten Litauen gebracht; viele wurden erschossen.
Es herrschte noch tiefer Winter mit »Frost und Schnee«, als am frühen Morgen des 26. März 1942, eine Woche vor dem Osterfest, rund zwanzig deutsche und litauische Soldaten vor dem Tor der Salesianerinnen auftauchten und den Schlüssel zur Klausur verlangten. Die Oberin lehnte zunächst ab, doch als sie erkannte, dass es ihr diesmal nicht gelingen würde, die Gemeinschaft zu retten, »gab sie ihnen die Schlüssel [durch eine Öffnung in der Tür], damit sie selbst öffnen mussten«. Die Schwestern wurden auf einen Lastwagen geladen und nach Łukiszki gebracht. »Damit begann unser Herumirren«, erzählt Tante Tosia und hebt ausdrücklich hervor, dass die Schwestern bei den Litauern nicht selten auf Wohlwollen trafen – und manchmal auch bei den Deutschen. Ein junger deutscher Soldat, den es beschämte, dass er die Schwestern aus dem Kloster vertreiben musste, half ihnen auf den Lastwagen und wagte sogar eine gefährliche Äußerung: »Oh, wenn ich tun könnte, was ich nicht tun kann!« Tante Tosia war überzeugt, dass er ein guter Katholik war und sich nur unter Zwang den strengen Anweisungen der Machthaber gefügt hatte.6 Sie gehörte noch einer Welt an, die nicht nur nach Nationalitäten, sondern mindestens ebenso stark nach Konfessionen aufgeteilt war, und selbst wenn sie den Katholizismus wohl nicht mehr als unumgängliche Voraussetzung für die Erlösung ansah, so erleichterte er für sie doch vieles. In der Tradition des Widerstands gegen Bismarcks Kulturkampf, die ihr das Posener Elternhaus mitgegeben hatte und in der sich eine Zeitlang polnische und deutsche Katholiken im Reich vereint hatten, war ein katholischer Priester für sie vor allem ein Geistlicher, selbst wenn er die Uniform eines deutschen Offiziers trug.7 Ein Protestant oder ein Orthodoxer und erst recht ein Jude bedurfte – ihrer Meinung nach – unabhängig von seiner Nationalität vor allem des Gebets, um seine Bekehrung zu ermöglichen. Von Ungläubigen hatte Tante Tosia noch nie gehört, allenfalls von Bolschewisten. Immerhin, sagte sie verständnisvoll, aber auch mit nachsichtigem Lächeln angesichts meiner zahlreichen Zweifel, besucht sogar die Mutter Edward Giereks – damals Erster Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei – regelmäßig unser oberschlesisches Haus und hilft dabei, Probleme in Zusammenhang mit der Renovierung zu lösen.
Hätte also der junge, gerade dreiundzwanzig Jahre alte Bruno Fischer, der sich in französischer Gefangenschaft bittere Bemerkungen über die deutsche Barbarei anhören musste, den Salesianerinnen vom Unrecht erzählt, das seiner »gut katholischen Familie« widerfahren war, und hätte er Bilder des Hauses in Deutsch Krone gezeigt, wo an der Wand ein Kreuz und Heiligenbilder hingen und auf dem Bücherbord religiöse Schriften überwogen, so wäre Tante Tosia sicherlich einer Meinung mit ihm gewesen, dass von kollektiver Verantwortung keine Rede sein könne, auch nicht im Hinblick auf die in ganz Europa verhassten Deutschen.8
NICHT ALLE FLÜCHTLINGE hatten Glück im Unglück. Bei vielen legte sich das Drama von Flucht oder Vertreibung wie ein Schatten über ihr weiteres Leben. Im Fall der Deutschen aus dem Reich und aus Ostmitteleuropa war der Aufbruch in den Westen grundsätzlich eine schlimme Erfahrung, bisweilen war ihre Lage dramatisch, doch das alles währte nur relativ kurze Zeit und begann frühestens im Herbst 1944. Lediglich bei den »Volksdeutschen« aus Ost-, Nordost- und Südosteuropa setzten die mehr oder weniger erzwungenen Migrationen bereits Ende 1939, Anfang 1940 ein und endeten erst nach dem Krieg. Zumindest die ersten »Heim ins Reich«-Umsiedlungen vollzogen sich zwar auch unter großem Druck, waren aber logistisch relativ gut vorbereitet.9 Die Umsiedler bezogen an ihrem Bestimmungsort Häuser, aus denen die Besitzer nur einen Augenblick zuvor hinausgeworfen worden waren. Oft brannte das Ofenfeuer noch, das Vieh war gefüttert und die Schränke waren voll. Andrea Boockmann, geb. Johansen, deren Familie im Winter 1939/40 aus Riga nach Posen kam, erinnert sich, dass sie in einer Suppenterrine auf dem Tisch noch warme Suppe vorfanden. Dagegen brauchten die Deutschen in Litauen, Lettland und Estland, die die Übersiedlung ablehnten, Mut, denn sie riskierten ihr Leben, zumindest aber drohte ihnen eine langjährige Wanderschaft durch die Lager des Archipel Gulag, da sich der NKWD nach der Eroberung des Baltikums ihrer zuerst annahm.10
Im Fall der Polen, erst recht der wenigen polnischen Juden, die dem Tod entrinnen konnten, dauerte das Herumirren meist viele Jahre, egal ob sie in den 1939 von Deutschland oder in den von der Sowjetunion besetzten Gebiet lebten. In Pommerellen und Großpolen, die direkt ans Reich angegliedert worden waren, mussten die polnischen Bewohner ihre Wohnungen vielfach schon in den ersten Kriegstagen verlassen. So auch die Familie von Helena Szwichtenberg. Der Vater hatte den Hafen Gdingen mit aufgebaut, der, wie der Krakauer Historiker Wacław Sobieski damals schrieb, »unser modernes Tannenberg« war, ein »Sieg so groß wie im Mittelalter, als das polnisch-litauische Heer den Deutschen Orden geschlagen hatte, nur dass diesmal kein Blut floss«. Der neue polnische Hafen war »mit wahrhaft amerikanischem Schwung« unweit der von Arbeitslosigkeit geplagten und von einem nationalen Gefühl der Bedrohung erfassten Freien Stadt Danzig entstanden.11 Innerhalb von fünfzehn Jahren war aus einem Fischerdorf eine hunderttausend Einwohner zählende Stadt geworden, »eine der Hoffnungen Polens«, was selbst auf den weltläufigen amerikanischen Korrespondenten William R. Shirer Eindruck machte.12 In Gdingen, das die Fantasie der Polen zwischen den Kriegen so sehr beflügelte, dass sie in der Literatur sogar...