Im Folgenden werden einige kulturtheoretische Überlegungen zur Verwurzelung des Battles im HipHop angestellt, die seine enorme Bedeutung als essentiellstes Grundprinzip des HipHop deutlich machen sollen.
Klein und Friedrich betonen die Bedeutung des Normensystems der HipHop-Kultur. Sie sehen darin einen identitätsversprechenden und identitätssichernden, über 20 Jahre lang gewachsenen, gefestigten und tradierten Wertekanon, auf dessen Fundament sich die „Realworld HipHop“ gründet, eine sich ständig aktualisierende Lebenswelt mit „einem klaren sozialen Ordnungssystem, festen Regeln, definierten Orten“[80] sowie etablierten Prinzipien und Organisationsformen, deren Mitglieder „kollektiv geteilte Ideale“[81] auszeichnen. Die im deutlichen Kontrast zu anderen pop- und jugendkulturellen Erscheinungen stehende Langlebigkeit des HipHop beruhe darauf, dass er auf Tradition setze.[82] Die Kultur sei „wertkonservativ, leistungsorientiert und männlich dominiert“.[83]
Diese Sichtweise muss zu einem tiefer gehenden Verständnis der HipHop-Kultur zumindest konkretisiert werden. Vor allem bei genrefremden Rezipienten ist hier die Gefahr gegeben, dass ein verfälschtes, eventuell sogar fundamental verkehrtes Bild der Kultur entsteht.
So kann das Normen- und Wertsystem des HipHop nicht losgelöst von lokalen und temporalen Gegebenheiten betrachtet werden: Es existieren oft selbst innerhalb eines Landes, einer Stadt oder gar eines Viertels in jeweilig verschiedenen HipHop-Subszenen mehrere, mehr oder weniger stark divergierende Wert- und Normvorstellungen, die zusätzlich noch von Trends und Mode-Erscheinungen beeinflusst werden. Insbesondere der für diese Arbeit relevante Gegenstand, das, was als grober Wertekanon der deutschen HipHop-Szene bezeichnet werden kann, unterscheidet sich teilweise nicht unerheblich von seinem US-amerikanischen Äquivalent. Festzuhalten bleibt neben alledem jedoch, dass durchaus feste, universale Gesetzmäßigkeiten durch die Gesamtheit der lokalen Szenen und Strömungen hindurch existieren, welche im Folgenden näher beleuchtet werden sollen.
Das Wertsystem des HipHop entwickelte sich aus den Gegebenheiten der New Yorker Armutsviertel und dem Kodex seiner Bewohner. Wie auch Diederichsen feststellt, ist HipHop zuallererst „die Musik junger schwarzer (hauptsächlich männlicher und urbaner) Amerikaner“.[84]
Die Rassentrennung verhinderte eine im Sinne des weißen Klassensystems geformte Ausbildung von Gesellschaftsschichten. Dadurch, dass sie dem überwältigenden Teil der Afroamerikaner, wie auch karibischen oder puertoricanischen Einwanderern, mit wenigen Ausnahmen, den Zugang zu Ober- und Mittelschicht aufgrund ihrer Hautfarbe verwehrte, wurden diese, unabhängig von Begabung oder Ehrgeiz uniform in die unteren Gesellschaftsschichten gezwungen. Aus dem so auch räumlich zusammen gezwungenen Mix von im Normalfall sich voneinander abgrenzenden Milieus zustrebenden Gruppen, deren Präferenzen und Denkmuster die gesamte Bandbreite von konservativen über klassisch proletarischen bis zu alternativen, liberalen, kleinbürgerlichen oder hedonistischen Idealen, Wert- und Lebensvorstellungen umschlossen, entstand die HipHop-Kultur als hybrides Konglomerat.[85]
Hierin liegt der Schlüssel für die charakteristische Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der Kultur, die als Vehikel für den Transport der gegensätzlichsten Standpunkte und Weltanschauungen dienen kann. HipHop ist also in diesem Sinne, vermeintlich paradoxerweise, genauso deutlich die „Unterschichtskultur“, als die er so oft bezeichnet wird, wie er das gerade nicht ist.
Kommt es nun in Folge der Überführung und der Übernahme der Kultur in andere Milieus zu einer Rekontextualisierung, manifestiert sich dies in einer aus erneuter Mischung entstandenen Erscheinung. Klein und Friedrich leiten daraus folgerichtig die charakteristische Hybridität der – z.B. in den deutschen Kulturzusammenhang – transferierten Ausbildungen des HipHop ab, die durch „ein kulturelles Spannungsfeld zwischen afroamerikanischer ‚Ghetto-Kultur’ und lokaler Kulturtradition sowie US-amerikanischer Popkultur und der Herkunftskultur der Jugendlichen“[86] geprägt sind.
Den Grund für die Dynamik der Kultur, ihre stetige Veränderung und Weiterentwicklung erkennen sie ebenfalls richtigerweise im Zusammenspiel zwischen Traditionsbewusstsein und produktivem Modifikationsdruck: „Im HipHop erhält man Anerkennung und wird zu einem legitimen Sprecher, wenn man sich zwar strikt an den szenespezifischen Normenkodex hält, zugleich aber mit einem eigenen Stil traditionelle Ästhetiken überschreitet. Die Bestätigung des herrschenden Normenkodex und dessen Transformation sind also im HipHop eng verbunden. So zeichnet sich grade die Praxis des HipHop dadurch aus, daß (…) konventionelle Formeln in nichtkonventionellen Formen wiedergegeben werden. Gerade in diesen Techniken der Verfremdung, der Ironie oder des Zitats, in jenen Techniken also, die ebenfalls die nachmoderne Kunst auszeichnen, liegt das Potential zur Veränderung der feldimmanenten Spielregeln“.[87]
HipHop und die Straßenkultur
HipHop ist Street-Culture, eine Kultur, die auf den Straßen großstädtischer Armutsviertel entstand und deren Regeln sich am „Code of the streets“, orientieren, dem Kodex der Straße. Die Straße ist, wie Klein und Friedrich es treffend formulieren, „ein Synonym für das wirkliche Leben, für den alltäglichen Kampf in der Großstadt, für Anonymität und soziale Probleme“.[88]
Die Bezüge zur „Straße“ sind in den Texten US-amerikanischer Rapper omnipräsent. Oft wird sie als Analogon zu Institutionen wie Schule oder Universität, den „Wegen zum Reichtum“ der „gehobenen“ Gesellschaft, auf denen man nicht willkommen ist, suggeriert, so von Too $hort:
„You see I got all my game[89] from the streets of California
Young millionaire with no high school diploma”[90];
Auch Spice 1 betont, dass sein Durchbruch als Rapper ihn nicht davon abhielte, wieder in seinen alten Job als Drogendealer zurückzukehren, wenn es „drauf ankäme”:
„I still gotta deal with the 5-0[91]
And I stopped sellin dope in 9-0
But if it came to it I’d probably still do it
Put a Nine[92] in my drawers get straight to it”[93].
Klein und Friedrich unterstreichen die Bedeutung von Street-Credibilty und deren Demonstration: „Street-Credibility verspricht (…) Respekt. Street-Credibility hat der, der durch seine Lebenserfahrung die Codes und Regeln der Straße kennt, also vor allem jemand, der soziale Marginalisierung am eigenen Leib erfahren hat“.[94]
Diese Regeln und Normen der Straßenkultur, vor allem die, die Aggressionsäußerungen moralisch werten, sollen nun anhand einer Untersuchung von Zdun näher beleuchtet werden. Geeignete Beispiele zur Veranschaulichung einer „typischen“ Ausprägung von Straßenkultur sieht er in Deutschland vor allem in Jugendlichen-Milieus der sogenannten „Russlanddeutschen“, deren soziales Gefüge er im Bezug auf Gewaltbereitschaft hin qualitativ untersuchte, da er hier die Straßenkultur als „handlungsleitendes“ Prinzip ansieht.
Dazu stellt er einige einleitende Aussagen zur Ausbildung von gesamtgesellschafts-bezogen abweichenden Normsystemen voran. Nach ihm orientiert sich das individuelle Wertschema, auf dessen moralische Basis sich das Verhalten des Menschen gründet, nicht primär an den Begriffen „gut oder böse“, sondern teilt sich viel eher in „legitim und illegitim“. Dabei wird mit Zuschreibungen operiert, nach denen persönliches Handeln „als gut bzw. als Reaktion auf böses oder illegitimes Handeln eines Anderen interpretiert wird“.[95]
Entscheidenden Anteil an diesen Legitimationsprozessen und somit an der Ausprägung alternativer Normsysteme hat das jeweilige soziale Umfeld, denn „die Einhaltung seiner Wertmaßstäbe ist (…) Ausdruck von gruppeninterner Solidarität und der Abgrenzung von Außenstehenden. So wird soziale Anerkennung zum Gradmesser der Legitimität des persönlichen Auftretens“[96] Darin sieht Zdun, besonders in Gesellschaften, in denen Normenpluralität vorherrscht, den Ursprung von „subkulturellen ‚Regelwerken’ mit abweichenden Verhaltensweisen,...