Verwöhnung als Allroundkiller von Selbstkompetenz
Wenn du die Katze mit Leckereien fütterst, hört sie auf, Mäuse zu fangen. Ein Hund, der verwöhnt wird, hält keine Wacht.
Kodo Sawaki
Auslöser für eine Beschäftigung mit diesem Thema war folgende Beobachtung bei einer Tauffeier vor einigen Jahren:
Fast alle Kinder im Alter zwischen ein und fünf Jahren hatten in der Kirche eine Nuckelpulle mit Getränken in der Hand oder im Mund. Und jene Kinder, welche noch keine Getränkeration als Beipack hatten, brauchten nur in die Nähe ihrer Eltern zu kommen – und schon bekamen auch diese eine Flasche zugesteckt.1 Ich dachte: Ist dies die Generation, welche nach dem Lebensprinzip ›Genuss sofort‹ heranwächst? Ob sich die Eltern der erzieherischen Wirkung ihres Tuns bewusst sind? Hatten sie schon einmal über die Auswirkungen nachgedacht? Denn um ein Trinken als Reaktion auf Durst konnte es sich nicht handeln. Es wirkte eindeutig wie eine Form der Ruhigstellung. Aber selbst wenn auch Trink-Interesse mit im Spiel gewesen wäre: Kann ein Kind eine knappe Dreiviertelstunde nicht ohne Anschluss an eine Getränke-Pipeline überleben?
In sich selbst kreisende erzieherische Verhaltensmuster
Diese Begebenheit wurde zur Basis einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Verwöhnung. Sie mündete in den Artikel »Droge Verwöhnung« in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT.2 Er löste nicht nur eine breite Diskussion aus, sondern wurde auch zur Basis für dieses Buch. Die prominenteste Reaktion kam von Altbundeskanzler und ZEIT-Mitherausgeber Helmut Schmidt. Sein Fazit an die Redaktion zur Weiterleitung an mich: »Dazu großes Lob! Der Mann hat in allen Punkten recht – bitte lassen Sie ihn meine Zustimmung wissen.« Trotz dieser Unterstützung ›von höchster Stelle‹ ist aber seit Jahren festzustellen, dass sich die Probleme zwischen Inkonsequenz und Überbehütung kräftig verstärken. ›Helikopter-Eltern‹ werden diese dauernd über ihren Kindern kreisenden – sich ständig sorgenden – Mütter und Väter wie zuerst in den USA mittlerweile auch hierzulande genannt. Sie spannen einen aus Unterforderung und Ängstlichkeit zusammengewebten Rettungs-Schirm über den Nachwuchs, welcher diesen von der Lebenswirklichkeit ausgrenzt: Diese Kinder werden bei jedem Pups hochgenommen, mit Spielzeugen überschüttet, per Lieblingsspeisen ernährt und bei kleinstem Unwohlsein in Watte gepackt. Der Schulranzen wird bis ans Pult getragen und beim ersten erahnten Regentropfen setzt der Fahrdienst ein.3 Diese Eltern lösen stellvertretend die Mathe-Aufgaben, schalten bei schlechten Noten anstelle einiger Lern-Sonderschichten den Rechtsanwalt ein, stehen bei Streitigkeiten ungefragt auf der Seite des Nachwuchses, setzen auf Handyüberwachung, wollen zum ersten Date aus Sorge mitgehen und bestimmen das Datum für die erste Elternsprechstunde im Ausbildungsbetrieb bzw. in der Hochschule. Ja, sie laufen zur Höchstform auf, wenn’s beim Nachwuchs etwas zu schützen gibt oder durch Geld Wünsche erfüllt werden, oft als Folge eines schlechten Gewissens wegen zu großer zeitlicher Selbstüberlassung. Die Zielsetzung, Kinder und Jugendliche auf ein Leben in Selbstverantwortung und Eigentätigkeit vorzubereiten, wird so vereitelt.
»Umsorgt vom Kreißsaal bis zum Hörsaal – kommt jetzt die Generation Weichei?«, fragte die Sendung Hart aber fair im Sommer 2012. So kann keinesfalls die überall geforderte Adaptions-Fähigkeit bzw. Frustrations-Toleranz oder ein Bedürfnis-Aufschub entwickelt werden. Welche Basis benötigen also unsere Kleinen, um sich zu handlungs-fähigen und verantwortungs-bewussten Erwachsenen entwickeln zu können? Ist es der Schoß der Familie oder die staatlich geförderte Krippe? Was brauchen Kinder besonders in den ersten drei Lebensjahren? Welche Art des Umgangs mit Babys und Kleinkindern ist förderlich und was ist abzulehnen bzw. gefährdet ihre Entwicklung? Welche Gütekriterien zur Erziehung werden als Basis betrachtet?
Unterschiedlichste Wissenschaftler haben im Rahmen der Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung wichtige Grundbedingungen für aufnahmebereite Menschen verfügbar gemacht. Aber die Beobachtung von alltäglichen Erziehungssituationen in Familie, Kindergarten und Schule verdeutlicht durch immer umfangreicher zutage tretende Mangelsituationen einen großen Handlungsbedarf.
Hier eine breit gestützte wissenschaftliche Erkenntnis: Was in den ersten drei bis fünf Lebensjahren nicht an Kleinkinder im normalen Lebensalltag herangetragen wird, ist kaum oder nur äußerst schwierig ›nachzuliefern‹. Denn es ist sowohl vom Lernprozess her einfacher und volkswirtschaftlich sinnvoller, dem gesellschaftlichen Nachwuchs wichtige Stärkungsmittel ›in die Kinderschuhe‹ zu geben, als dies mit einem immensen Kraft-, Zeit- bzw. Geldaufwand und begrenzter Erfolgsaussicht im fortgeschrittenen Alter zu versuchen. Die my way-Stiftung hat unter der Überschrift »Professionelle Elternschaft« die Formel 9 + 36 = 90 entwickelt. Das heißt: 9 Monate Schwangerschaft und die ersten 36 Monate nach der Geburt machen 90 Prozent von dem aus, was unsere Kinder und Jugendlichen im weiteren Leben – ob unter positivem oder negativem Vorzeichen – prägt. Dabei haben die Eltern als Garanten des Wachstums von Urvertrauen und Selbstsicherheit durch die Gewährleistung einer verlässlichen Mutter-/Vater-Kind-Beziehung die größte Handlungs-Verantwortung und Wirk-Bedeutung. Der Leitsatz der Bindungsforschung in diesem Zusammenhang lautet: Bindung ist die Basis von Erziehung und Bildung; oder umgekehrt: Ohne Bindung keine Bildung! Wenn dann in einer Langzeitstudie festgestellt wird, dass »mehr als ein Viertel aller Eltern von Neugeborenen bei der Erziehung unsicher oder völlig überfordert« sind und ›schon drei Monate nach der Geburt in jeder zehnten Familie der leibliche Vater nicht mehr im Familienhaushalt lebt‹,4 wird der große Handlungsbedarf zur Stabilisierung von Eltern überdeutlich.
Auch wenn schon Sokrates vor mehr als 2 400 Jahren deutliche Worte zu offensichtlichen Jugendproblemen fand (»Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer«), müssen alle erzieherisch Verantwortlichen in ihrer Zeit auf offensichtliche Defizite bzw. Fehlentwicklungen im Umgang mit dem Nachwuchs eingehen. So hat jede Gesellschaftsform ihre eigenen Erziehungs-Leitlinien und auch ihre eigenen Probleme.
Da sich das Leben in einer Spaß- und Konsumgesellschaft an der leicht erreichbaren Annehmlichkeit bzw. einer ›Jetzt und sofort‹-Mentalität orientiert, wirkt sich dies auch auf den Umgang mit Kindern aus. Im Leitsatz ›Lernen muss Spaß machen‹ präsentiert sich die Handlungsmaxime einer Spaßpädagogik. ›Genuss pur‹, ›Immer locker bleiben‹, und ›Mithalten‹ heißt dieses Lebensmotto. Die Lebenserfahrung ›Ohne Fleiß (und Anstrengung) kein Preis‹ wurde in diesem Zusammenhang weitestgehend aus dem Lebensalltag verbannt. Aber: ›Was Hänschen nicht lernt, lernt Johanna immer schwerer‹. Das wirkt sich auch negativ auf die Eltern aus, da deren Zeit, Kraft und Nerven so beeinträchtigt werden. Gleichzeitig wird das Wohlbefinden innerhalb der Partnerschaft reduziert. Dazu ein aus der langjährigen Beratungsarbeit entwickelter Leitsatz, welcher in meinem Buch zur Beziehungs-Auffrischung An welcher Schraube Sie drehen können, damit Ihre Beziehung rundläuft. Boxenstopp für Paare konkretisiert wurde: »Erziehungsprobleme schaffen Beziehungsprobleme, Beziehungsprobleme schaffen Erziehungsprobleme.«
Ein guter Nährboden ist die Voraussetzung für das Gedeihen jeglicher Pflanzen. Mangelt es hier an Sorgfalt und Können, wird dies das weitere Wachstum massiv beeinträchtigen. Ob Pflegeintervalle, Nahrungsgaben oder Lichtverhältnisse, alles hat massive Auswirkungen. Auch bei der Aufzucht von Tieren sind ähnliche Grundsätze zu beachten. Aber bei den Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen scheinen die Gütekriterien und Voraussetzungen für ein förderliches bzw. optimales Erwachsenwerden immer umfangreicher aus dem Blickfeld zu verschwinden oder gezielt verdrängt zu werden. Denn jeglicher Wollensäußerung im Moment zu entsprechen heißt auch, Auseinandersetzung zu vermeiden und Anspruchsdenken zu fördern. Wo ist denn das Übungsfeld fürs weitere Leben, wenn mal wirklich eine Durststrecke ansteht, Mühe bei einer Zielerreichung gefordert ist? Solche in dauernder Bedürfnisbefriedigung heranwachsende Kinder werden panikartig auf ein Ausbleiben entsprechender Unterstützung reagieren. Dies wird dann als persönlicher Angriff erlebt, dem sofort Aggression entgegengesetzt wird. Ein Blick in die Welt von Schule und Berufsausbildung zeigt deutlich, wie wenig belastbar zu viele Kinder und Jugendliche sind, kaum noch fähig, das Einbringen von Kraft und Ausdauer als Voraussetzung für Erfolg – und daraus resultierender Zufriedenheit – zu sehen.
Ein Grund für diese Entwicklung liegt in der Scheu vieler Eltern, eine Autorität zu sein, weil sie dies mit autoritärem Verhalten verwechseln. Aber fehlende Orientierungsvorgaben führen zu Unsicherheiten bei der Selbsteinschätzung mit der Folge eines unterentwickelten...