Vorwort von Dr. Ulrich Gutweniger
KAPITEL 1
Astrid Schönweger lernte ich als Klientin im Jahr 2002 kennen. Sie kam zu mir, um mich nach einer Hilfestellung im Umgang mit ihrem damals pubertären Sohn zu fragen. Hierbei war für mich als Psychologe schon äußerst auffällig, mit welcher Klarheit sie von ihren Themen sprach, wie genau sie wusste, was sie wollte und was sie nicht wollte. Sie ließ sich im Gespräch nicht wirklich führen, sondern gab das Zepter nie aus der Hand. Sie wusste genau, auf welche Fragestellungen sie eine Antwort von mir wollte und was für sie momentan nicht von Bedeutung war. Deutungen meinerseits, welche über diese Fragen hinausgingen, blockte sie elegant ab. Nachdem sie sich geholt hatte, was sie brauchte, stand sie auf und ging. Für eine Klientin benahm sie sich „untypisch“. Aus ihren Äußerungen konnte ich herauslesen, dass sie ein sehr großes Hintergrundwissen im zwischenmenschlichen Bereich besaß, sehr strukturiert war und dies, obwohl sie damals „nur“ den Beruf der Museumsdirektorin ausübte.
Obwohl Astrid eine offenkundige Feministin war, ließ sie sich keineswegs irgendeinem feministischen Klischee zuordnen. Trotz schlechter Erfahrungen mit Männern hatte sie keine ablehnende Haltung gegenüber ihnen, sondern entgegnete – von mir darauf angesprochen –, dass auch Frauen Gewalt ausüben könnten und Gut und Böse keine Frage des Geschlechts sei. Mit ihren Äußerungen ließ sie für mich immer wieder eine tiefer liegende Weisheit aufblitzen, welche mich sehr faszinierte, obwohl ich es noch nicht greifen konnte.
Es war für mich spürbar, dass sie ganz gezielt gekommen war, um sich zu nehmen, was sie brauchte. Auch diese selbstverständliche Eigenmacht war eine ihrer herausragenden Eigenschaften, die ich später noch besser kennen lernen sollte. Und weg war sie. Monate später tauchte sie wieder einmal auf, hatte den Rat nicht nur beherzigt, sondern voll in die Tat umgesetzt und erwartete nun Tipps für die nächsten Schritte mit ihrem Sohn. Damit war das Therapeut-Klientin-Verhältnis mit ihr auch schon beendet.
Überraschend meldete sie sich bald darauf bei mir, um mich zu einer persönlichen Führung bei einer Ausstellung im Frauenmuseum Meran einzuladen. Es war ihr persönliches Dankeschön für die „gute Zusammenarbeit“. Das war ein treffender Ausdruck für diese zwei Treffen und entsprach ganz und gar nicht einem typischen TherapeutInnen-KlientInnen-Verhältnis. Ich nahm das Angebot freudig und neugierig an, denn es passierte mir nicht alle Tage so ein Dankeschön! Da es sich bei der Ausstellung um Kunstwerke mit schamanischem Inhalt handelte und ich in diesem Gebiet meine Erfahrungen hatte, kamen wir bald in ein vertiefendes Gespräch zum Thema Heilen auf verschiedenen Ebenen. Hierbei offenbarte sie mir – für sie sehr untypisch, wie sich später herausstellen sollte – ihr anderes Gesicht. Das war der Beginn eines Austausches von verschiedensten Erfahrungen im rituellen und spirituellen Bereich. Zunehmend holte ich immer mehr die Schätze eines bis dahin geheim gehaltenen alten Wissens ans Tageslicht. Günstige Umstände unterstützten mich darin, dass sie sich mit mir als ersten Menschen – nach ihrer Großmutter – darüber austauschte. Darunter befand sich auch die Vintschger Typenlehre.
Da ich ihre Person und auch ihre Persönlichkeit schon sehr schätzen gelernt hatte, war ich brennend daran interessiert, auch diese Typenlehre kennen zu lernen. Vor allem deshalb, weil die klassische Persönlichkeitspsychologie eher davon ausgeht, dass der Mensch bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt ist. Die einzige Frage, die sich die PsychologInnen immer wieder stellen, ist die, ob die genetischen oder die lernbedingten Einflüsse eine größere Rolle spielen. Es gibt zwar in der Psychologie auch umstrittene Typologien, wie z.B. die nach der griechischen Säftelehre (Choleriker, Phlegmatiker, Sanguiniker und Melancholiker), aber auch hierbei geht es darum, welche Ausprägungen Menschen in späteren Jahren aufweisen.
Eine Grundidee der Typenlehre, nämlich dass es von Anfang an – schon im Mutterbauch – vier grundlegend verschiedene Typen gibt, welche somit auf die Außenreize – entsprechend ihrer „angeborenen“ Eigenheiten – verschieden reagieren, war für mich bahnbrechend neu.
Mit dem besseren Kennenlernen der einzelnen Typen, aber insbesondere der speziellen Beschreibung meines Typs – nämlich der Sonne –, war ich verblüfft, wie viele Eigenheiten genau auf mich zutrafen, die diese Frau von mir gar nicht wissen konnte. Noch verblüffender war jedoch der Umstand, wie genau die menschlichen Eigenheiten beobachtet und ergründet wurden. Im gesamten Psychologiestudium und in meiner doch langjährigen Praxis hatte ich noch nie ein System kennen gelernt, das so viele spezifische Eigenheiten der Persönlichkeit berücksichtigt. Das ist ein Raster, bei dem wir auf so vielen unterschiedlichen Ebenen Menschen anschauen, bedenken, erfühlen, erspüren, wahrnehmen können! Auch ich selbst hatte mich noch nie auf diese Weise unter die Lupe genommen.
Für mich begann dank Astrid und ihren Ahninnen eine spannende Selbsterfahrungsreise. Dieses Wissen unterschiedlicher Erlebenswelten ermöglichte mir meine Mutter, meinen Vater und meinen Bruder als von mir grundsätzlich verschiedene Menschen zu erkennen und ihre Fühl-, Denk- und Handlungsmuster erstmals nachvollziehen zu können, denn es ist normalerweise üblich, von der eigenen Nase auszugehen und von sich auf andere zu schließen. Diese Vorgehensweise hat sich nun jedoch für mich als falsch herausgestellt. Ich kann mir selbst und den anderen Menschen nur gerecht werden, wenn ich sie als den Typ erkenne, der sie sind. Natürlich ist es ratsam, sich in den anderen einzufühlen und auf diese Weise zu versuchen, seine Bedürfnisse zu erkennen. Das gelingt jedoch erst richtig gut, wenn ich diese Typenlehre berücksichtige.
Damit fiel eine große Last von meinen Schultern, weil die nicht erfüllten Ansprüche meiner Kindheit oder auch in gegenwärtigen Beziehungen zum größten Teil hinfällig wurden. Gewisse Erwartungen waren somit gar nicht berechtigt. Und auch ich konnte die Erwartungen an mich selbst an die sich mir nun neu erschließende Wirklichkeit anpassen, wodurch ich nicht dauernd versuchen musste, etwas anderes zu sein, als ich war. Mit den einfachen und wirkungsvollen Weisheiten ihrer Oma fiel es bedeutend einfacher, diese Erkenntnisse auch in die Tat umzusetzen.
Ich hatte ein Werkzeug in die Hände bekommen, das mir entsprach! Als wissenschaftlich orientierter Psychologe war ich zwar nicht auf der Suche danach gewesen, aber diese Typenlehre faszinierte mich. Anfänglich hätte ich nie gedacht, wie sehr sie mich beeinflussen und bereichern würde, schon gar nicht, dass ich sie eines Tages auch in den therapeutischen Bereich hereinholen könnte. Da sie jedoch Beziehungsmuster so klar zuordnen ließ und viele Dynamiken im zwischenmenschlichen Umgang zusätzlich mit anderem Wissen, das von Astrids Oma herkam, erklären konnte, wurde sie sehr schnell ein wichtiges Zusatzinstrument in meiner Praxis.
Anfänglich benutzte ich die Typenlehre, indem ich Astrid zu einigen KlientInnen außerhalb der Sitzung befragt bzw. in Gruppenseminaren sie ihre Sicht abgeben ließ. Erst nach einiger Zeit der Selbsterfahrung und des Zuschauens begann ich langsam, eigene Schlüsse zu ziehen. Auch wenn die Typenlehre sehr einfach erscheint, ist sie dennoch äußerst komplex und sollte daher vorsichtig angewandt werden. Sie unterscheidet zwar vier Typen, was jedoch keinem Schubladendenken entspricht, denn innerhalb der Typen gibt es so viele Unterschiede und so feine Abstimmungen, dass sowieso bei jedem Mensch die verschiedenen Bereiche abgeklärt werden müssen.
Das Faszinierende an der Typenlehre war für mich der Zugang: Der Mensch wird nicht nur vom Denken und Analysieren heraus betrachtet, sondern wahrlich auf allen Wahrnehmungsebenen. Das Gegenüber kann gespürt, gefühlt, angeschaut, beobachtet und analysiert werden. Der Körperbau, die Stimmlage, der Blick, die Ausstrahlung und all die Eigenheiten des Gegenübers, die er im Umgang mit der Welt offenbart, werden berücksichtigt. Damit ist sie nicht nur so genannten „gebildeten“ oder „studierten“ Menschen zugänglich, sondern allen. Da sie zudem aus unserem Alpengebiet zu kommen scheint, ist sie sicherlich für uns alle gemacht, von der Bäuerin bis zum Maurer, vom Briefträger bis zur Ärztin. Jeder, die/der sich angesprochen fühlt, kann diese Typenlehre erlernen und bekommt damit ein brauchbares Werkzeug der...