2. QUELLEN UND PROBLEMATIK
Unser Wissen über die Zeit der Völkerwanderung beruht auf überlieferten Nachrichten („Quellen“) und auf den Ergebnissen der Archäologie.
Archäologisch sind die Hauptfunde aus der Zeit der Völkerwanderung Gräberfelder, nach deren Beigaben man die ethnische Zugehörigkeit der Toten feststellen kann. Da aber die Zeit der Völkerwanderung durch eine starke Ethnogenese (Entstehung neuer Völker aus vielen unterschiedlichen Stämmen und Sippen) geprägt ist, können diese Funde nicht immer eindeutig zugeordnet werden. Dazu kommt, dass sich in den Völkern der Völkerwanderungszeit oft verschiedenste Stämme vereinigten und eine Mischkultur bildeten, die sich im archäologischen Material niederschlägt, wobei man nicht versuchen kann, aus der Anzahl der Funde die jeweilige ethnische Zusammensetzung eines Volkes genau zu rekonstruieren. Dazu kommt, dass die Herrscherschicht in diesen Stämmen oder Völkern, auch wenn sie später erste barbarische Reiche (Regna) gründeten, oft nur ein dünnes Substrat über der Mehrheitsbevölkerung war, sodass Grabfunde zur tatsächlichen historischen Situation der Zeit nicht immer aussagekräftig sind.
Eine der wichtigsten Schriftquellen zur Zeit der Völkerwanderung ist das Werk Res gestae des römischen Historikers Ammianus Marcellinus (ca. 330–395/400), indem er die Geschichte vom Regierungsantritt des römischen Kaisers Nerva im Jahr 96 bis zur Schlacht von Adrianopel 378 beschreibt.
Fragmente von Geschichtswerken existieren von Olympiodorus von Theben und von Priskos, mehr erhalten hat sich in der Historia nea des Heiden Zosimos, dessen Zeitrahmen bis 410 geht. Die Kriege des Kaisers Justinian gegen die Vandalen und Ostgoten werden im 6. Jahrhundert von Prokopius von Caesarea (ca. 500–562) geschildert, einen ähnlichen Zeitrahmen behandeln die Werke von Agathias (um 536–582) und Theophylaktos Simokrates (7. Jh.).
Die wichtigste Quelle zur Geschichte der Goten bietet Jordanes (gest. nach 552) in seiner Getica, wenngleich dieses Werk – Jordanes war vermutlich Sekretär eines römischen Generals und Heermeisters (Magister Militum) – stark politisch gefärbt ist.
Die Geschichte der Franken findet sich in den Decem libri historiarum des Gregor von Tours (538–594), Paulus Diaconus (um 725–799) schrieb ein ähnliches Werk die Langobarden betreffend.
Über die Vandalen in Nordafrika informieren die Historica persecutionis Africanae provinciae des Victor von Vita (gest. nach 490) und Possidius von Calama (um 370–um 437) in seiner Vita Augustini. Ein erster spätantiker Erklärungsversuch für die Völkerwanderung findet sich im Werk De Gubernatione des Salvian von Marseille (um 400–480), der die Invasion der Barbaren als Strafe Gottes gegen die lästerlichen Christen ansieht.
Daneben existieren noch zahlreiche kleinere Chroniken wie die des Marcellinus Comes (gest. nach 534) über Gallien und die des Hydatius von Aquae Flaviae (gest. nach 468). Für Britannien haben wir die Nachrichten von Bede (um 672–735) in seiner Historica ecclesiastica gentis anglorum, und Gildas (um 510–um 570) schrieb im 6. Jahrhundert einen Bericht über die Eroberung Britanniens durch die Angelsachsen, doch ist dieser nicht immer zuverlässig. Erst im Hochmittelalter beschrieb Geoffrey von Monmouth (um 1100–um 1154) in seiner Historia Regnum Britanniae den Abzug der Römer detaillierter, wobei aber nicht außer Acht gelassen werden darf, dass seine Schilderung nur teilweise belegt werden kann und großteils auf Missverständnissen und freier Erfindung beruht.
Seitdem im 16. Jahrhundert der Begriff der Völkerwanderung geprägt wurde, gibt es verschiedene Bewertungen dieses Ereignisses. Die Deutschen sahen sie im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck des deutschen Nationalismus romantisierend als einen Aufbruch germanischer wandernder Völker, die sich als homogene Stämme darstellten und auf die man sich als Urvolk berufen wollte. In anderen Ländern lag schon mit der Bezeichnung der Periode (invasion barbare im Französischen, invasioni barbariche im Italienischen, barbarian invasions im Englischen) der Aspekt mehr auf einem kriegerischen Zusammentreffen von Kulturen, wobei die Betonung auf „Barbarisch“ liegt. Kann man sich bei der „Völkerwanderung“ noch auf einen Begriff einigen – im Englischen hat sich bis heute der Begriff Migration Period durchgesetzt –, so gelingt dies nicht beim Germanenbegriff.
Das alte Bild homogener Germanenstämme, straff organisiert mit einem König an der Spitze, hat sich inzwischen aufgelöst. Geblieben ist die Vorstellung, dass es „die Germanen“ niemals gegeben hat. Dieser Begriff wurde von den Römern geprägt, in deren Vorstellung die Germanen ethnisch gleiche Gruppen (gentes) waren. In der Realität bestanden „die Germanen“ aus einer Vielzahl von Stämmen, die sich selbst als Goten, Heruler, Skiren, Alemannen, Franken, Vandalen usw. verstanden, die sich aber aus einer Menge von möglichen ethnischen Komponenten zusammensetzten. Eher neigt man zu der Auffassung, dass es im Zentrum jedes Stammes einen Traditionskern rund um einen Anführer und dessen Genossen (gleichsam König und Adelige) gab, um den sich Gruppierungen sammelten, die durch ein gemeinsames Interesse, nicht aber zwingend durch dieselbe Sprache, Sitten und Religion gekennzeichnet waren. Von diesen Stämmen konnten sich Teile abspalten und anderen Völkern zugesellen, ebenso konnten immer wieder neue Personengruppen eingegliedert werden. Erst nach mehreren Generationen begannen die Mitglieder dieses Gebildes sich als ein mehr oder weniger einheitliches Volk unter einem König zu verstehen. Dieser Prozess der Identitätsfindung wird als „Ethnogenese“ bezeichnet.
Lange Zeit hat man die Völkerwanderung alleine unter dem Aspekt betrachtet, dass sie das Ende des Römischen Reiches im Westen bedeutete. Geschichtsschreibung über die Völkerwanderung ist und muss immer mit der Geschichte vom Ende des Römischen Reiches verbunden sein. Eine einseitige Betrachtung einer der beiden Seiten, Römer oder Barbaren, würde der Zeit und den handelnden Personen, die eng miteinander verbunden sind, nicht gerecht werden.
Die Frage bleibt, ob der Fall Westroms durch dessen verfehlte Innenpolitik und deren Proponenten oder durch die von außen eindringenden Barbaren ausgelöst wurde. Die Diskussion darüber ist längst zu einem eigenen Wissenschaftszweig geworden. Kurz kann man aber sagen, dass der Untergang Westroms eine Vielzahl möglicher Auslöser hatte. Sei es die verfehlte Innenpolitik, die Aufnahme von Barbaren ins Heer, das Blei in den Wasserleitungsrohren, Klimaänderungen usw. Es gibt keine monokausale Erklärung, sondern auslösend war eine Reihe von Faktoren, die ineinandergegriffen haben. Ob es ein entscheidendes Weltuntergangsszenario gab (Rom starb nicht, es wurde ermordet) oder ob es viele kleine Ereignisse waren (Rom starb nicht, es verdämmerte langsam) oder ob sich die Römer selbst in internen Streitigkeiten aufrieben (Rom starb nicht, es verübte Selbstmord), ist Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion, die bis heute als nicht abgeschlossen betrachtet werden kann.
Ebenso hinterfragt wird, ob die Völkerwanderung ein so dramatisches Ereignis war, dass sie plötzlich das Ende Westroms gebracht hat. Oder, wie eine andere, heute anerkannte Theorie annimmt, dass die Völkerwanderungszeit eine Periode der langsamen Transformation war, in der durch die Immigration neuer Völker neue Reiche entstanden, die aber über lange Zeit noch alles, was im Römischen Reich nützlich war, beibehielten und sich den antiken Lebens-, Rechts- und Wirtschaftsmodellen anpassten.
Zusammenfassend kann über die Völkerwanderung gesagt werden: In dieser Zeit treffen zwei Wanderungsbewegungen an den Grenzen des Römischen Reiches oder in seinem Vorfeld aufeinander. Der unterlegene Teil, die Germanen, musste ausweichen, und der einzige für sie vorstellbare Weg war jener nach Süden, ins Römische Reich, was zu dessen Auflösung führte, wobei neue, sog. „barbarische“ Reiche (Regna) entstanden. Diese lösten sich wieder auf, nur das Fränkische Reich hatte Bestand und bildete die Keimzelle für das „abendländische“ Europa.
Die eine Bewegung, welche die Völkerwanderung auslösen sollte, war die Nord-Süd-Bewegung zahlreicher germanischer Stämme, die sich von ihrer mythischen Herkunft in Skandinavien seit der Zeit der Kimbern und Teutonen über etwa fünf Jahrhunderte stetig nach Süden und Osten bewegten, bis sie begannen, sich an den römischen Reichsgrenzen entlang Donau und Rhein zu stauen. Ausgelöst worden sein könnte diese Wanderung durch Überbevölkerung und durch einen Klimawandel, der es für die Germanen notwendig machte, die alte Heimat zu verlassen.
In den Gebieten nördlich von Rhein und Donau siedelten diese...