Nachdem im Vorigen der theologiegeschichtliche und systematische Horizont für die Frage nach einem mariologischen Grundprinzip bei Karl Rahner skizziert wurde, kann vor diesem Hintergrund der Fragestellung nun anhand seines eigenen Werkes genauer nachgegangen werden. Hierzu erfolgt zunächst ein Überblick über die für die Entwicklung des Grundprinzips einschlägigen mariologischen Schriften Rahners. Sodann werden diese genauer daraufhin analysiert, wie er sein mariologisches Grundprinzip in ihnen entwickelt, und zwar hinsichtlich der biblischen Grundlegung, der systematisch-theologischen Entfaltung - woran sich zwei Exkurse zu Rahners transzendental-anthropologischer Methode und zum Unterschied zur evangelischen Theologie anschließen werden - und hinsichtlich der Durchführung anhand der einzelnen mariologischen Dogmen. Schließlich ist dieses Prinzip hinsichtlich seiner Vor- und Nachteile kritisch zu überprüfen.
Zu den Besonderheiten von Karl Rahners theologischer Produktion gehört es, daß größere Veröffentlichungen, also Monographien, selten zu finden sind. Vielmehr handelt es sich bei den meisten seiner Schriften um Zeitschriftenaufsätze und Lexikonartikel, gedruckte Predigten und Vorlesungen, Exerzitien und Vorträge sowie Interviews[193], nicht zu vergessen seine Gebete[194]. Dies trifft auch auf sein letztes Werk, das sich mit Maria beschäftigt und das er noch kurz vor seinem Tode veröffentlichte, zu: „Mut zur Marienverehrung. Anthropologische und glaubensmäßige Zugänge zur heilsgeschichtlichen Bedeutung Marias.“[195] Damit ist es, wie ein Blick auf den Titel und die veröffentlichende Zeitschrift zeigt, Bespiel für einen weiteren typischen Zug von Rahners theologischem Selbstverständnis. Er wollte nämlich stets - entgegen dem ersten Anschein, den die Lektüre seiner explizit wissenschaftlichen Texte beim Leser vielleicht hervorrufen mag[196] - wissenschaftliche Theologie und spirituelle Fruchtbarkeit miteinander verbinden, sowohl was das Ergebnis als auch was die Arbeitsweise angeht: Angesichts der von H. U. von Balthasar konstatierten „Wendung von der knienden zur sitzenden Theologie“[197] und ihren Folgen faßt Rahner sein Verständnis von Theologie wie folgt zusammen:
„Wo seine [sc. des heutigen Theologen; M.K.] Theologie nicht insofern wenigstens eine ‚kniende Theologie’ wäre, als sie die Theologie eines Beters ist, wo sie stattdessen in einen intellektualistischen Betrieb entarten würde, dem es nur um die Probleme als solche geht, die man fast sadistisch der Kirche vorhält, statt sich selber ernsthaft um eine Lösung zu bemühen, da würde eine solche Theologie aufhören, Theologie zu sein und zu spätbourgeoiser unverbindlicher Wichtigtuerei entarten.“[198]
Dieses Grundanliegen kommt auch an anderen Stellen, besonders in seinem Spätwerk, immer wieder zum Ausdruck kommt und dürfte (zumindest nach dem Gesamteindruck, den der Verf. der vorliegenden Arbeit bisher von Rahners Werk erlangen konnte) aus ehrlichem Herzen gesprochen sein. Es sollte gerade bei theologisch „anstößig“ klingenden Stellen - auch, aber nicht nur, in Bezug auf die Mariologie - vom Leser stets mitgehört werden.[199]
Dies vorausgeschickt[200], kann nun näher auf die für die Entwicklung seines mariologischen Grundprinzips relevanten Schriften Rahners eingegangen werden. Obwohl diese innerhalb seiner umfangreichen und vielseitigen theologischen Produktion eher weniger ins Auge fallen, dürften dennoch „nur wenige katholische Theologen der Gegenwart auf eine ähnlich lange Liste mariologischer Veröffentlichungen hinweisen können.“[201] Das sich in der Anzahl von „etwa 40 Originaltitel[n]“[202] bekundende Interesse Rahners an der Mariologie hängt nach S. De Fiores eng mit dem Gesamt seines theologischen Denkens zusammen: „Die Hochschätzung Mariens im christlichen Mysterium ist ein Postulat, das sich aus den philosophisch-theologischen Voraussetzungen des Rahnerschen Systems ergibt“[203], genauer gesagt aus seinen anthropologischen Vorraussetzungen.[204] Daher hat auch erst sein „Tod [...] die jahrzehntelang andauernde Auseinandersetzung mit mariologischen Fragen beendet.“[205]
Die wichtigsten Arbeiten Rahners zur Mariologie sind vor allem in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre entstanden, also in einer Zeit, die als die „schöpferisch-spekulativ fruchtbarste seines Werkes“[206] bezeichnet wurde, denn „frühere Arbeiten stehen noch deutlich auf einer traditionsverhafteten Vorstufe, während spätere Artikel für die systematischen Lösungen auf die in der frühen Mittelphase [sc. die frühen fünfziger Jahre; M.K.] gewonnene systematische Basis zurückgreifen.“[207] Daher werden im folgenden die beiden für das Thema dieser Arbeit wichtigsten Werke kurz vorgestellt.[208]
Als quantitativ größtes Werk ist sicherlich die bereits erwähnte Schrift zum Assumptio-Dogma zu nennen, in welcher er „in weiten Umrissen die theologische Sicht des neuen ganzheitlichen Menschen gezeichnet“[209] hat. In der nunmehr veröffentlichten Fassung umfaßt dieses Werk (ohne die editorischen Anmerkungen der Herausgeberin) 392 Seiten[210]. Es beginnt mit einer Reflexion zum „rechten Beginn“ angesichts des heutigen Zeitkontextes, in dem die Verkündigung des „neuen“ Dogmas steht. Damit legte Rahner schon ein für die damalige Zeit ungewöhnliches Gespür für die Schwierigkeiten, die der heutige Mensch mit Glaubensaussagen haben kann, an den Tag.[211] Es folgen grundsätzliche Überlegungen zur Dogmenentwicklung und ein Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Assumptio-Lehre. Die eigentliche systematische Reflexion erfolgt in Teil vier, während sich die Schlußbetrachtungen der Bedeutung des neuen Dogmas widmen. Hinzu kommt noch ein Exkurs „Zur Theologie des Todes“.
Der Anlaß der Arbeit war für Rahner, daß er einerseits die Schwierigkeiten und Widerstände vorraussah, auf die die bevorstehende Definition des Dogmas v .a. in Deutschland (auch, aber keineswegs nur von evangelischer Seite her) stoßen würde, und daß es andererseits aus seiner Sicht nur eine sehr unzureichende Literatur zu eben diesen Problemen in deutscher Sprache gab, was wiederum eine - nach seiner Meinung sehr zu wünschende - positive, herzliche und gläubige Aufnahme des neuen Dogmas gerade in Deutschland zusätzlich behindern würde.[212] Dabei war es einerseits seine Absicht, das Dogma gegen Angriffe z. B. aus dem „Rheinischen Kreis der Reformfreunde“ zu verteidigen, welche ihre Kritik an einer zu großen Vormachtstellung Roms mit einer Fundamentalkritik an der damaligen marianischen Frömmigkeit und mariologischen Denkweise verbanden.[213] Andererseits wollte er die Privilegien-Mariologie, welche die Definitionsbulle „Munificentissimus Deus“ prägt, mit kritischem Blick aus heilsgeschichtlicher Sicht beleuchten.[214]
Er wollte die Arbeit also ursprünglich zur Vorbereitung auf die Definition (welche am 1. November 1950 erfolgte) noch vor dieser fertigstellen. Da die Arbeit aber doch viel umfangreicher und schwieriger zu erstellen war, als von ihm ursprünglich angenommen, wurde sie erst im Juni 1951 fertig; Rahner hatte bis zu diesem Zeitpunkt Aussagen aus der Definitionsbulle noch mit eingearbeitet.[215] Danach ging sie in die ordensinterne Zensur, welche wohl gerade aufgrund der Tatsache, daß Rahner in der Arbeit viele Fragen berührte, die über das eigentliche Thema der Aufnahme Mariens in den Himmel hinausgingen[216], nicht zu einem positiven Endergebnis kam.[217] Das Ergebnis der Zensur war, daß Rahner einiges berichtigen und vervollständigen solle. Dabei werden v. a. seine Aussagen zur Theologie des Todes (Frage der Trennung von Leib und Seele, Anbahnung der These Rahners von der „Auferstehung im Tod“), die Mitwirkung der seligen Jungfrau Maria bei der Erlösung (Es werden von Rahner die Äußerungen der neueren Päpste, welche nach Meinung des Zensors in Richtung der Auffassung von Maria als „Miterlöserin“ und „Mittlerin aller Gnaden“ gehen, nicht berücksichtigt) und Rahners allzu negative Ansichten in der Mariologie (Ihm wird „Minimalismus“ z. B. in Bezug auf die Aussagen zur Unversehrtheit von Mariens Leib nach ihrem Tod vorgeworfen - v. a. aber wird sein mariologisches Grundprinzip angegriffen, da sich von ihm aus „kein Weg reflexiver Art zur Definition der Gottesmutterschaft und des Amtes Marias“ erschließe und es „nicht der Heiligen Schrift entspreche“[218]) kritisiert.[219]
Rahner reagierte enttäuscht auf diese Kritik, v. a., da sie in bezug auf die Korrekturwünsche zu ungenau sei.[220] Daraufhin wurde Rahner mitgeteilt, daß er wenigstens das, was der Zensor „unmißverständlich...