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E-Book

Die wahre Geschichte der Schokolade

AutorMichael D. Coe, Sophie D. Coe
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl360 Seiten
ISBN9783105616147
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Dieses Buch entführt uns in die uralte, wechselhafte und überaus spannende Geschichte der Schokolade, die vor dreitausend Jahren in den Hochkulturen der Maya und Azteken begann. Unser »Schokoladenriegel für zwischendurch« verrät nur noch wenig von dieser atemberaubenden und wahren Geschichte, die hier wie in einem Roman nachzulesen ist und Aufschluß gibt über Mentalitäten und Alltagsleben von den mittelamerikanischen Hochkulturen bis heute. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Sophie D. Coe war Anthropologin und Expertin für Ernährungsgeschichte. Sie wurde bekannt durch ihr Buch ?America's First Cuisine? (1994).

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Leseprobe

Einführung


»›O Pangloß‹, rief Candide, ›welch ein sonderbarer Stammbaum! Der leibhaftige Teufel selbst muß der Stammvater [der Syphilis] sein!‹ – ›Durchaus nicht‹, erwiderte der große Mann, ›es handelt sich hier um einen absolut notwendigen Bestandteil, um etwas schlechthin Unentbehrliches für die beste aller Welten: denn hätte sich Kolumbus nicht auf einer der Inseln Amerikas diese Krankheit zugezogen, die die Quelle der Zeugung vergiftet, ja sogar häufig die Zeugungsfähigkeit vernichtet und dadurch offensichtlich dem großen Endzweck der Natur entgegenwirkt, so würde es bei uns weder Schokolade noch Cochenille geben.‹«

 

Voltaire, Candide[2]

»Die ganze alte Geschichte ist, wie einer unserer Schöngeister geäußert hat, nur ein abgekartetes Märchen.«

 

Voltaire, Jeannot et Colin[3]

 

 

 

Voltaire hätte es besser wissen müssen. Es gibt nicht den leisesten Hinweis darauf, daß Kolumbus in der Neuen Welt je an Syphilis erkrankte (wenn es auch einigen seiner Gefolgsleute anders ergangen sein mag), noch wußte er, wie wir sehen werden, irgend etwas über Schokolade, geschweige denn Koschenille, einen feinen roten Farbstoff, der aus den Körpern mexikanischer Schildläuse gewonnen wurde. Die Antwort, die der unverbesserliche Optimist Pangloß Candide gibt, ist nur eines der zahlreichen Beispiele dafür, wie in der Geschichte des Essens und der Kochkunst »abgekartete Märchen« an die Stelle von Fakten treten. Zwar lernten die Europäer beide Substanzen schließlich kennen, aber mit der vermeintlichen Krankheit des großen Seefahrers hatte das nichts zu tun.

Neptun, Gott des Meeres, nimmt von einem personifizierten Amerika Schokolade entgegen; dieses allegorische Frontispiz zu Kardinal Brancaccios Abhandlung über die Schokolade aus dem Jahr 1664 illustriert ihren Transfer von der Neuen Welt nach Europa.

Der Titel dieses Buches über die Schokolade geht auf ein anderes Werk, Die wahrhafte Geschichte der Entdeckung und Eroberung von Mexiko, zurück, das der Konquistador Bernal Díaz del Castillo niederschrieb (oder diktierte) und 1572 in der Hauptstadt Guatemalas vollendete. Alt, mittellos und fast erblindet, wollte dieser tapfere Krieger den Untergang der Azteken ein für allemal den Tatsachen gemäß zu Papier bringen. Im Unterschied zu anderen, die, zuweilen in geradezu schmeichlerischer Manier, über die Heldentaten von Cortez und seinen Leuten geschrieben hatten, war Bernal Diaz selber dabeigewesen, hatte alle wesentlichen Beteiligten, einschließlich den aztekischen Herrscher, gekannt und verfolgte keine eigennützigen Ziele. Er wollte nichts anderes, als eine Geschichte zu erzählen, die der Wahrheit so nah wie möglich kam – ohne »hochfliegende Rhetorik«, wie er es nannte. Und so bewies er der Welt, daß eine »wahrhafte Geschichte« weitaus spannender und lehrreicher sein kann als ein »abgekartetes Märchen«.

Die Geschichte des Essens (und Trinkens) ist, zumindest in der westlichen Welt, erst in den letzten Jahrzehnten zu einem ernstzunehmenden wissenschaftlichen Gegenstand avanciert. In Nordamerika und Großbritannien haben uns strenge puritanische Vorbehalte gegenüber der Erörterung des Essens – sowohl beim Essen selbst als auch in anderen Zusammenhängen – lange im Weg gestanden. Obwohl Essen, Sexualität und Sterblichkeit die drei wesentlichen Gegebenheiten des menschlichen Lebens sind, haben frühere Generationen von Wissenschaftlern diese Themen im allgemeinen gering geachtet oder gemieden. Die Folge war, daß das Feld der Geschichte der Kochkunst lange Zeit von Amateuren bestellt wurde, die sich für eine bestimmte Speise, ein Getränk oder eine Küche begeisterten. Dies gilt in besonderem Maße für die Schokolade (und die Kakaopflanze), deren Ursprünge in dem schwierigen, zuweilen undurchsichtigen Bereich der Ur- und Völkergeschichte der Neuen Welt liegen. Vieles von dem, was über die Vergangenheit der Schokolade geschrieben worden ist, fällt daher unter Voltaires Begriff des »abgekarteten Märchens«. Wir haben uns oft genug an jenes Gesellschaftsspiel erinnert gefühlt, bei dem die Mitspieler im Kreis sitzen und im Flüsterton eine Geschichte von einem zum anderen weitererzählen, die sich dabei natürlich immer weiter vom Original entfernt. Wir haben mit diesem Buch versucht, aus dem Kreis auszubrechen, indem wir zu den ursprünglichen Quellen zurückgegangen sind.

Wenn heute von Schokolade die Rede ist, kommt den meisten Menschen, jedenfalls in den westlichen Ländern, zuallererst die feste, süße Substanz in den Sinn. Das spiegelt sich auch in der Literatur wider, die dieser Art von Schokolade einen unverhältnismäßig hohen Stellenwert gibt; unverhältnismäßig deshalb, weil Schokolade in neun Zehnteln ihrer langen Geschichte nicht gegessen, sondern getrunken wurde. Um das Bild ein wenig zurechtzurücken, konzentrieren wir uns daher in unserer »wahren Geschichte« stärker auf die Schokolade als Getränk. Und da die meisten Bücher und Artikel zum Thema die Zeit vor der spanischen Eroberung Südamerikas, wenn überhaupt, in wenigen Zeilen oder auf ein paar Seiten abhandeln, haben wir diesem Forschungsbereich zwei Kapitel gewidmet – schließlich fällt nur etwa ein Fünftel der Lebensgeschichte der Schokolade in die Zeit nach dem Untergang der aztekischen Hauptstadt im Jahre 1521.

Die dunkelbraune, angenehm bittere, chemisch komplexe Substanz, die wir »Schokolade« nennen, birgt wenig Ähnlichkeit mit den von Fruchtmark umgebenen Samen der Kakaopflanze, aus der sie hergestellt wird. Man käme nie auf den Gedanken, daß eines aus dem anderen gewonnen werden kann. Um die Herkunft des Kakaobaums (Theobroma cacao) zu verstehen und die Schritte nachzuvollziehen, die nötig sind, um seine Samen oder Bohnen in Schokolade zu verwandeln, befassen wir uns im ersten Kapitel mit seiner Wirtschaftsbotanik sowie mit der chemischen Zusammensetzung und den Eigenschaften der Schokolade; dabei sind wir uns durchaus darüber im klaren, daß manche Fragen, vor die das ungelöste Rätsel des Ursprungs und der Züchtung von Kakao uns stellt, erst in der Zukunft beantwortet werden können, auf der Grundlage der DNA-Forschung nämlich, die noch in den Kinderschuhen steckt.

Der Ursprung verarbeiteter Schokolade scheint jedoch, wie wir sehen werden, vor etwa drei Jahrtausenden bei den Olmeken der Tieflandwälder im südlichen Mexiko gelegen zu haben. Daher wenden wir uns im zweiten Kapitel den Regenten, Königshöfen und prachtvollen Städten der klassischen Maya zu und präsentieren hochinteressante neue, auf der Entzifferung hieroglyphischer Texte beruhende Erkenntnisse darüber, welche Rolle dort die Schokolade als Getränk spielte. Das dritte Kapitel gibt einen Einblick in die unglaubliche Fülle dokumentarischen Materials über Verwendung und Stellenwert des Kakaos als Getränk wie als Zahlungsmittel bei den Azteken sowie über die rituelle Bedeutung der flüssigen Schokolade als eines Symbols für menschliches Blut.

Mit der verheerenden Zerstörung der mehrere tausend Meter hoch liegenden Hauptstadt der Azteken im Jahre 1521 und dem Niedergang ihres Reiches beginnt eine Phase, in der der Genuß der Schokolade von den spanischen Eroberern verändert – »kreolisiert« – wurde und eine neue Terminologie entstand, die auch das Wort »Schokolade« selbst einschloß. Kapitel vier und fünf werden zeigen, wie das gewandelte, umbenannte und geschmacksveränderte Getränk nach Europa kam, wo es der alten hippokratisch-galenischen Theorie der Zeit gemäß als Medikament empfohlen und den in katholischen Ländern vorherrschenden Fastenregeln angepaßt wurde.

Mit dem Wort »barock« verbinden wir heute als künstlerisches Stilmittel verwendete Blumigkeit und Komplexität der Formen, und in der Tat wurde Schokolade als Getränk im barocken Europa auf überaus kunstvolle Weise zubereitet und fand als Zutat sogar Eingang in einige Speisen, die an den großen Tafeln von Adel und Kirche aufgetragen wurden. Im fünften Kapitel werden wir uns ansehen, welche Rolle die Jesuiten und die katholische Kirche hierbei spielten, und gewagte italienische Experimente mit dieser Substanz untersuchen, die die Schokolade sozusagen an ihre kulinarischen Grenzen trieben.

Im sechsten Kapitel wenden wir uns den Herstellern der Schokolade zu, die die Paläste, Höfe und Schokoladenstuben Europas erreichte. In diesem Teil unserer Geschichte geht es um Kolonialismus, um Transport und Ausbeutung schwarzer Sklavenarbeiter und spanischen Staatsmonopolismus ebenso wie um das allmähliche Schwinden der spanischen Macht, als England, Holland und Frankreich zunehmend die Herrschaft über die Meere erlangten. Schließlich verlagerte sich die Haupt-Kakaoproduktion von Spaniens tropischen Besitzungen in Amerika nach Afrika und weiter ostwärts, auf Kolonien also, die von Spaniens Todfeinden kontrolliert wurden.

Nach den kulinarischen Exzessen des Barock erscheint die Zubereitung der Schokolade im Zeitalter der europäischen Aufklärung beinahe fad; ihr Genuß als Getränk blieb dabei weiterhin dem Adel, den Königshäusern und der Kirche vorbehalten – mit Ausnahme von England und anderen protestantischen Ländern, in denen es bald eine Vielzahl von Schokoladenstuben (und Kaffeehäusern) als Treffpunkte und später als Clubs für die neu entstehenden politischen Parteien gab. Als die Revolution die Herrschaft der katholischen Kirche und des Königshauses in Frankreich beendete, traten, wie wir im siebenten Kapitel sehen werden, Tee und Kaffee – die bevorzugten Getränke...

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