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E-Book

Die Wahrheit der technischen Welt

Essays zur Genealogie der Gegenwart

AutorFriedrich A. Kittler
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783518732984
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Wenige deutsche Geisteswissenschaftler der letzten 50 Jahre haben die kulturelle Situation unserer Zeit, einschließlich ihrer akademischen Strukturen, so nachhaltig geprägt wie Friedrich Kittler. Seine Schriften trugen entscheidend dazu bei, dass Radios, Grammophone und Computer nicht nur zu einer kulturellen Faszination, sondern auch zum Gegenstand der philosophischen Reflexion geworden sind. Der Band versammelt Abhandlungen Kittlers aus 40 Jahren und zeigt das enorme Spektrum, die Intensität und die singuläre Kreativität seines Denkens.

<p>Friedrich A. Kittler (1943-2011) war emeritierter Professor für Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin und lehrte u. a. in Yale, Berkeley und Stanford.</p>

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Leseprobe

26Nietzsche (1844–1900)


So you think you can tell Heaven from Hell.
Pink Floyd

Der Name und die Theorie von Literatur sind entstanden mit einer kulturräsonnierenden Öffentlichkeit und einer Philosophie, die in Literatur Werke des erkennenden Subjekts erkannte. Nietzsche markiert und bewirkt den Zerfall dieser Konstellation: Er entzieht die Fiktion dem philosophischen Wahrheitsurteil; er statuiert eine Öffentlichkeit, deren Element nicht die Vernunft, sondern die Produktion und Konsumtion von Medien ist. Nur hat seine Subversion eher die Literatur (Artaud, Benn) als die Wissenschaft von ihr erreicht.

Literatur, von der Erkenntnis entkoppelt, tritt in Bezug zum Körper und zur Macht. Sie dem Mandat entziehen, die Vernunftideen oder den Absoluten Geist darzustellen, heißt über die Grenzen treten, in die Kant und Hegel die Produktivkräfte des Körpers und der Gewalt bannten. Nietzsches literaturtheoretische Fragmente sind eine Produktionsästhetik, die dem Schaffen und Zerstören keine Schranken zieht. Sie ersetzt die Psychologie des Autors durch eine Physiologie des kunstschaffenden Körpers, die Wirkungstheorie der ästhetischen Erziehung durch eine Semiotik sinnlicher Medien, die Literaturgeschichtsphilosophie durch eine Genealogie der diskursiven Gewalten und die transzendentale Hermeneutik durch eine Philologie.

1. Sprache, Fiktion, Wahrheit


Jede philosophische Ästhetik hat vorab den Bezug zwischen der Philosophie und ihrer Sache Kunst zu bestimmen. Nietzsche tut das auf dem Umweg einer Theorie der Sprache als Rhetorik. Literatur und Philosophie treten in Bezug auf einem Feld, dem sie, als Reden, beide zuzählen. Damit zergeht, in einer pragmalinguistischen Radikalisierung von Kants Metaphysikkritik, ebendie Differenz, in deren Namen die Philosophie ihr Erkennen von Sachen über das literarische Sprechen zu Adressaten stellte: die Differenz von 27Begriff und Metapher. Alle Wörter sind zweimal und im Wortsinn Metaphern: Sie übertragen Nervenreize, die keinem Ding, sondern einer Relation zum Körper entsprechen, in Töne; sie übertragen die Töne zum Adressaten.[1] Dabei hat die erste Übertragung keinen Vorrang vor der zweiten: Das Differenzieren von Reizen wird um der Anderen willen erlernt, wie denn Bewußtsein »nur ein Mittel der Mitteilbarkeit« und »im Verkehr entwickelt« ist (N III 667). Die rhetorischen Figuren bringen das zutage: Eine Synekdoche wie ›Segel‹ statt ›Schiff‹ nennt ein den Kommunikanten hervorstechendes Merkmal und nicht das ›Ding‹ (R § 3, GW V 298 f.).

Als »künstlerische Übertragung« (WL § 1, III 315) von Medium zu Medium tilgt Sprache die Ideen eines Einen, Wahren, Eigentlichen: »Es giebt gar keine unrhetorische ›Natürlichkeit‹ der Sprache, an die man appeliren könnte. […] Die Sprache ist Rhetorik, denn sie will nur eine ????, keine ???????? übertragen« (R § 3, GW V 298). An der Sprachrhetorik zählt nicht ihr Ursprung – schon weil er die Ersetzung selber ist –, sondern die Funktion: Sie ist die elementare Mnemotechnik und Selektionsmaschine, die eine erinnerbare, zuhandene Umwelt einrichtet und dennoch oder darum keinen berechenbaren Nutzen hat. Die Rhetorik, in der Antike eine regionale Kunstlehre, wird universal, »der Mensch«, das »nicht festgestellte Tier« (JGB III § 62, II 623), eins mit dem »Trieb zur Metapherbildung« (WL § 2, III 319). Nietzsches Unternehmen, Literatur als Sprache zu bestimmen, endet in seiner Umkehrung: Sprache selber ist Literatur, Fabrikation von Fiktionen.

28Die Fiktion geht soweit, ihren Status umzufingieren. Daß am Ende die Täuschung Wahrheit, das Fingieren Erkennen heißt, bewirkt der Fortgang von Sprache zu Schrift und Begriff, die nur eine semiotechnische Selektion mehr sind. Das Lesen reduziert die Wörter, indem es die meisten überspringt (JGB V § 192, II 650), auf »Gedanken«, so daß nur der Philologe noch »Worte liest« (HKGV 268). Gedanken und Begriffe als »Residuen von Metaphern« (WL § 1, III 315) subsumieren eine Vielzahl von Wörtern wie die Wörter das Gewimmel der Reize. So tilgt die zweite Selektion und erst sie den Körperbezug, den beim Sprechen die Stimme wahrt. Daher Nietzsches Schriftfeindschaft, die ihn von seinen grammatologischen Fortsetzern trennt. Die moderne Buchkultur verpönt und beseitigt die rhetorischen Körpertechniken, die wir per antiphrasin antike Literatur nennen (GgL III § 1, GW V 209 f..). Entsprechend ruht das moderne Cogito in seiner körperlosen Transparenz einem Ungedachten auf; sein Erkenntnisanspruch ist ein Glaube an die Grammatik, deren Tropen es nachspricht und vergißt (N III 577).

So wäre Nietzsches Sprachtheorie noch der Matrix des transzendentalen Denkens eingeschrieben: Als Rehabilitierung von Sprache und Rhetorik vor einer ihnen feindlichen Vernunft würde Philosophie Erinnerung eines Ungedachten im Denken und Kritik seiner Vergessenheit. Als Ungedachtes figuriert seit Herder eine ursprüngliche Sprachproduktivität des Menschen, die im poetischen Reden erscheint und im begrifflichen verendet ist.[2] Aber Nietzsche verläßt solch transzendentale Anthropologie auf zwei Wegen.

Erstens hat die Produktion weder in einem mythischen Ursprung statt, wo Zeichen und Bezeichnetes eins gewesen wären, noch in einem einen Subjekt, das sein Schaffen nur vergessen hätte. Die Sprachen und Fiktionen zählen zu den vielen und disparaten Ereignissen des Körpers. Darum führt ihr Mangel an ›Wahrheit‹ die Theorie nicht in Skepsis oder Positivismus, sondern zu einer Ariadne: »dem Leitfaden des Leibes«.[3] Zweitens sind die Täuschung und das Vergessen, die Wahrheit und Erkennen heißen, keine trägen Figuren, die Reflexion auflösen könnte. Wenn die lebensnotwendigen Zeichensysteme, statt Auslegungen bloß zu veranlassen, selber 29schon Auslegungen sind, kann keine Auslegung transzendentale Signifikate unter ihnen freilegen.[4] Darum gibt die Philosophie das Prinzip Kritik auf und geht über zu den Mächten, die auslegend Zeichen stiften und löschen. Sie beginnt das listige Spiel, produktive Fiktionen zu nennen und zu betreiben, Deutung gegen Deutung zu kehren und die Rhetorik der Begriffe in Begriffen der Rhetorik umzuschreiben. Regionale Konzepte der Literaturtheorie (Fiktion, Fabel, Interpretation) erlangen operativen und strategischen Rang, um das »Fabelwerden der ›wahren‹ Welt« (GD IV, II 963) nicht nur zu schildern, sondern zu betreiben.

Am Leitfaden des Leibes wird die Philosophie Physiologie, im Weg der Umdeutung von Deutungen Genealogie.

2. Zur Physiologie der ästhetischen Medien


Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Nietzsches erstes und letztes geschlossenes Buch, nennt die Kopplung von Physiologie und Genealogie im Titel. Eine Literaturgattung heißt entstanden wie ein Körper. Zu Zeugung und Geburt gehören, anders als zu einer Konstitution, Zwei. Physiologische Ästhetik zersetzt die Einheiten der Begriffe Kunst und Begriff. Anstelle des einen Ursprungs tritt ein »Gegensatz, den das gemeinsame Wort ›Kunst‹ nur scheinbar überbrückt« und an den das Ästhetische so »gebunden ist, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter abhängt«. Als sexueller kann der Gegensatz nicht zu »logischer Einsicht« kommen (§ 1, I 21); seine Artikulation bedarf der mythischen Namen Apollon und Dionysos und einer physiologischen Analogie: Dem Gegensatz der optischen und der akustisch-gestischen Künste entspricht der der Naturzustände Traum und Rausch. Der Traum erzeugt entoptische Bilder, die dem Träumer umgrenzte Gestalten scheinen, der Rausch erzeugt Klänge, Rhythmen, Tanzfiguren, die endlos entstehen und vergehen. Den Traum schreibt Nietzsche mit Schopenhauer dem Reich der Vorstellung zu, den Rausch einem Begehren, das sie Willen nennen. Die Sinne und Künste fungieren nicht erkenntnistheoretisch als Vermögen, die Mannigfaltiges synthesieren, nicht kunsttheoretisch als Bildflä30chen, die Natur nachahmen, nicht physiologisch als Filter, die relevante Reize selegieren. Der Vorrang ekstatischer Zustände vorm Wahrnehmungsbewußtsein bringt ihre spezifischen Produktivitäten zur Sprache: »Der apollinische Rausch hält vor allem das Auge erregt, so daß es die Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker, der Epiker sind Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesamte Affekt-System erregt und gesteigert: so daß es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet« (GD IX § 10, II 996). Endogen erregte Sinne errichten im Traum eine halluzinierte »Schauwelt«, im Rausch eine »Hörwelt« (UB IV § 5, I 389). Sie sind, auf physiologische und nicht technische Weise, Medien im modernen Sinn. Denn Medien entgehen dem Maßstab der Erkenntnis; an ihnen zählen nur Materialität, Sende-, Empfangsbedingungen und Frequenz der Zeichen. So ruft im Apollinischen »die extreme Ruhe gewisser Rauschempfindungen« den Schein hervor, die Bilder seien autonom, abgelöst vom produzierenden Körper (N III 785); im Dionysischen wächst das Tempo der Semiose, bis alle Zeichen vorm zeichenlosen Körper vergehen.

Von Anfang an hat die neuzeitliche Ästhetik den Doppelsinn ihres Namens durchmessen. Die Lehre vom Schönen war seit Baumgarten, der ihn prägte, auch eine vom Sinnlichen. Nietzsche führt also, wie Heidegger zeigte,[5] eine Tradition fort. Nur kündigt er dem Erkenntnisbezug der Sinne, der sie hierarchisierte und in der immateriellen Rezeption des Auges gipfeln ließ. Unter autonomen Sinnesmedien verliert das Sehen den Vorrang. Die...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Buch / Autor2
Impressum4
Inhalt5
I. Emergenz einer historischen Sensibilität7
Der Dichter, die Mutter, das Kind. Zur romantischen Erfindung der Sexualität9
Nietzsche (1844–1900)26
Lullaby of Birdland41
Der Gott der Ohren60
Flechsig/Schreber/Freud. Ein Nachrichtennetzwerk der Jahrhundertwende76
II. Kulturgeschichte als Mediengeschichte91
Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgängergeschichte93
Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg113
»Heinrich von Ofterdingen« als Nachrichtenfluß132
Weltatem. Über Wagners Medientechnologie160
Die Stadt ist ein Medium181
Rock Musik – ein Mißbrauch von Heeresgerät198
Signal-Rausch-Abstand214
Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs: Alan Turing232
Unconditional Surrender253
Protected Mode272
Es gibt keine Software285
Il fiore delle truppe scelte300
III. Griechenland als seinsgeschichtlicher Ursprung327
Eros und Aphrodite329
Homeros und die Schrift342
Das Alphabet der Griechen. Zur Archäologie der Schrift351
Im Kielwasser der Odyssee360
Martin Heidegger, Medien und die Götter Griechenlands. Ent-fernen heißt die Götter nähren377
Pathos und Ethos. Eine aristotelische Betrachtung391
Nachwort. Mediengeschichte als Wahrheitsereignis. Zur Singularität von Friedrich A. Kittlers Werk396
Textnachweise423
Namenregister427

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