13Einleitung
Über wenige Themen herrscht ein solcher Konsens wie über Gesundheit und Bildung, und zwar sowohl als Werte wie auch als Wachstumsfaktoren. Unter den Ökonomen ist Amartya Sen derjenige, der ihre grundlegende Bedeutung am deutlichsten hervorgehoben hat. Für ihn sind Gesundheit und Bildung die für die Entwicklung des menschlichen Lebens entscheidenden Fähigkeiten oder, wie er sich ausdrückt, »Befähigungen« (capabilités), ohne welche die Begriffe der Freiheit und des Wohlstands keinen Sinn machen.[1] Unter seinem Einfluss hat das Entwicklungshilfeprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) 1990 einen »Index für menschliche Entwicklung (Human Development Index)« erstellt, der früher oder später das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab für die Entwicklung einer Nation ersetzen soll.[2] Dieser Index erstreckt sich auf den Durchschnitt von vier Indikatoren: die Lebenserwartung, die Alphabetisierungsquote, den Bildungsgrad und das Pro-Kopf-Einkommen. Gesundheit und Bildung machen hier somit drei Viertel aus.
Selbst die konservativsten Ökonomen erkennen ihre Bedeutung an, so drei Nobelpreisträger für Ökonomie der Chicagoer Schule: Theodore Schultz, der (in Analogie zum physischen Kapital) den Begriff des »Humankapitals« erfunden hat, um die Gesamtheit der Talente und Fähigkeiten eines Individuums zu bezeichnen, wobei Bildung und Gesundheit die entscheidenden Faktoren sind; Gary Becker, der den Begriff populär gemacht hat, oder auch Robert Lucas, der das Humankapital zum Motor eines ununterbrochenen Wachstums erklärt hat.
Diese Überzeugung ist nicht auf die akademische Welt be14schränkt. Für James Wolfensohn, der von 1995-2005 Präsident der Weltbank war, kommt die Bildung für Mädchen einer Patentlösung gleich, insofern sie die Entwicklung in jeglicher Hinsicht fördert: »Sie erlaubt, die Mütter- und Kindersterblichkeitsrate zu senken; die Erziehung ihrer späteren Kinder zu verbessern, Mädchen wie Jungen; eine höhere Produktivität und einen besseren Umgang mit der Umwelt zu erzielen. All das bedeutet zusammengenommen ein schnelleres Wirtschaftswachstum und vor allem eine bessere Verteilung der Früchte des Wachstums.«[3]
Über prinzipielle Erklärungen hinaus scheint sowohl bei den Entwicklungsländern als auch bei den Geldgebern tatsächlich der Wille zu bestehen, jedem Zugang zu Bildung und medizinischer Grundversorgung zu gewährleisten. Unter den acht »Millenniums-Entwicklungszielen«, die 189 Staaten bis 2015 erreichen wollen, betreffen drei die Gesundheit (die Kindersterblichkeit verringern, die Gesundheit der Mütter verbessern, Aids, Malaria und andere Krankheiten bekämpfen) und zwei die Bildung (allen Kindern eine Grundschulausbildung ermöglichen, die Gleichstellung der Geschlechter fördern, besonders im Bereich der Bildung).[4] Der Millenniums-Entwicklungsbericht 2009 weist reale Fortschritte aus:[5] Die Einschulungen in die Grundschule sind gestiegen, wenn auch das Ziel einer universalen Grundschulausbildung bis 2015 nicht erreicht werden wird. 2007 waren in den Entwicklungsländern insgesamt 88 Prozent der Kinder im Grundschulalter in eine Schule eingeschrieben (2000 waren es hingegen 83 Prozent). Der Bericht hebt auch die in Afrika erzielten Fortschritte bei der Gesundheitsvorsorge hervor, insbesondere was die Verteilung von Moskitonetzen und die Impfung gegen Masern betrifft.
Trotz dieser Fortschritte gibt der weltweite Zustand der Bildung und Gesundheit keinen Anlass zu Optimismus. Die Zahl der Kinder, die vor dem fünften Lebensjahr an Krankheiten sterben, die man zumeist hätte verhindern oder behandeln können, ist zwar unter die symbolische Marke von zehn Millionen gesunken (neun 15Millionen 2007), doch ist bei der Kindersterblichkeitsrate in Afrika keinerlei Verbesserung festzustellen. Die Müttersterblichkeit hat sich seit 2000 keinen Millimeter bewegt (jedes Jahr sterben weltweit 500 000 Frauen im Wochenbett). Und auch wenn die Kinder zur Schule gehen, ist es keineswegs sicher, dass sie dort etwas lernen: In Indien kann nur die Hälfte der Kinder, die eine Schule besuchen, einen einfachen Abschnitt lesen.[6] Und Indien ist leider keine Ausnahme. Überall, wo der Kenntnisstand systematisch erfasst wird, treffen wir auf dasselbe Phänomen: Die Schüler haben erschreckende Wissenslücken, besonders die ärmsten in den ländlichen Gebieten. Die universale Einschulung liefert somit teilweise ein trügerisches Bild. Die Fehlzeiten des Personals in den Gesundheitszentren oder Schulen sind so hoch, dass der Jahresbericht der Weltbank – die wichtigste offizielle Publikation dieser Institution – 2004 zu dem Schluss kommt: »Die sozialen Dienste haben die Armen verraten.«[7]
Diese Fehlschläge und, allgemeiner, die Langsamkeit, mit der im Bereich der Bildung und Gesundheit Fortschritte erzielt werden, haben die »Entwicklungshilfeskeptiker« auf die Idee gebracht, dass es unnütz, ja sogar schädlich ist, wenn man versucht, das Entscheidungsverhalten der Menschen zu verändern. Wenn diese sich dafür entscheiden, ihre Kinder nicht zur Schule zu schicken oder nicht unter einem Moskitonetz zu schlafen, dann deshalb, weil sie einen guten Grund haben, so zu handeln. Zu versuchen, sie dazu zu bringen, das eine oder andere zu tun, ist ebenso sinnlos wie das Ausmisten der Augiasställe: ein nutzloses Unterfangen, das unablässig immer wieder von neuem begonnen werden muss. Wenn die Kindersterblichkeit in Afrika nicht abgenommen hat, dann, so William Easterly, weil die gratis verteilten Moskitonetze als Fischernetze oder Vorhänge verwendet wurden. Selbst das Primat der Bildung als Wachstumsmotor wird in Frage gestellt: Die Länder, in denen das Bildungsniveau seit den sechziger Jahren am meisten angestiegen ist, haben nicht schneller prosperiert als die anderen. Wenn die Einwohner der reichsten Länder zugleich auch die gebil16detsten sind, sei das nur so, weil es interessanter und nützlicher sei, dies zu sein, wenn die Wirtschaft floriert.[8]
In dieser Art Überlegung liegt vordergründig eine bestechende Logik: Sie gibt den Bewohnern der Entwicklungsländer die Autonomie zurück, die ihnen die internationale Hilfe genommen hat. So müssen wir im Namen des Respekts vor der Person und den grundlegenden Freiheiten alle Versuche aufgeben, die Individuen dazu zu bringen, ihre eigenen Ressourcen zu entwickeln, wenn sie dies nicht aus eigenem Antrieb wollen. Dieser Aufweis hat den Vorteil, dass er den Reichsten erlaubt, ruhig zu schlafen, ohne ihre Geldbörsen öffnen zu müssen …
Er vernachlässigt jedoch die entscheidenden Lehren Amartya Sens sowie auch die von Robert Lucas. Wie Amartya Sen zeigt, ist die Freiheit (als Abwesenheit von Hemmnissen) nichts anderes als Befähigung.[9] Die Bauern, die die große Hungersnot von Bengalen nicht überlebt haben, hatten die Freiheit, sich etwas zu essen zu kaufen. Da aber ihre Kaufkraft durch die Inflation aufgefressen wurde, waren sie nicht dazu fähig, dies zu tun. Eine Mutter, die keinerlei Bildung genossen hat und deren Nachbarn allesamt ebenfalls ungebildet sind, ist notgedrungen nicht in der Lage, sich für ihr Kind eine andere Zukunft vorzustellen. Auch wenn die Impfung eines der wirkungsvollsten Mittel zur Rettung von Leben darstellt, wird sie aus eigenem Antrieb heraus kaum in Anspruch genommen. Die Entwicklung der Befähigungen kann man nicht vollständig der Initiative derer überlassen, deren Freiheit durch Hindernisse aller Art eingeschränkt ist (handle es sich nun um die Unfähigkeit, sich eine andere Zukunft vorzustellen, oder um die Unmöglichkeit zu sparen, um die Bildung seines Kindes zu finanzieren). Deshalb folgert Amartya Sen, dass aus Gründen der Gerechtigkeit die Gesellschaft die Verantwortung für Bildung und Gesundheit übernehmen muss.
Am anderen Ende des politischen Spektrums betont Robert Lucas den Ansteckungseffekt (oder die externen Faktoren, wie die 17Ökonomen sagen) des Humankapitals:[10] Eine gebildete Person wird nicht nur selbst produktiver sein, sondern auch die anderen effizienter machen, indem sie die Aufnahme neuer Ideen fördert, für eine bessere Nutzung der bestehenden Ressourcen eintritt etc. Die externen Faktoren sind in Bezug auf die Gesundheit noch augenfälliger: Bei einer kranken Person bestehen große Chancen, dass sie andere ansteckt. Wenn die Individuen diese externen Faktoren vernachlässigen, neigen sie dazu, nicht ausreichend in ihr eigenes Humankapital zu investieren oder in das ihrer Kinder. Die Gesellschaft hat daher das Recht, sie dazu aufzurufen (ja sogar zu zwingen), mehr zu investieren, als sie es von sich aus tun würden: Damit kann man die Unentgeltlichkeit der Schule oder der Grundversorgung begründen, die Schulpflicht oder jegliche andere gezielte Politik im Bereich der Gesundheit oder Bildung.
Aber wie kann man dem Recht, zur Gewährleistung von Bildung und gesundheitlicher Mindestversorgung zu intervenieren, das die Gesellschaft (vor allem in den armen Ländern) für sich in Anspruch nimmt, konkret zum Erfolg verhelfen? Ihre Absichten sind lobenswert, erwidern die Skeptiker, doch schwimmen Sie nicht gegen den Strom, wenn Sie versuchen, die Logik der Nachfrage umzukehren? Belegt der Misserfolg der Bemühungen im Bereich der Bildung und Gesundheit nicht schon seit Jahrzehnten, dass dieses Unternehmen vergeblich ist? Lässt man ihren Zynismus einmal beiseite, beleuchten diese Kritiker ein Grundproblem: In dem Maße, wie die Gesellschaft Bildung und Gesundheit unabhängig von der spontanen Nachfrage fördert, ist sie allein dafür verantwortlich, deren Qualität zu sichern. Im Gegensatz zum privaten Sektor kann sie nicht auf das freie...