Ein Kindheitstraum wird neu erweckt
Der Tag, der mein Leben verändern sollte, begann wie so viele Tage des Jahres in Berlin: grau, verregnet, hektisch. Nichts wies darauf hin, dass es ein besonderer Tag werden sollte, ein Tag, an den ich noch heute, viele Monate später, oft und gerne zurückdenke.
Ich war von meiner Wohnung auf dem Weg zum Flughafen, und mein Taxi schob sich durch den schier endlosen Verkehr. Ich tat, was ich immer im Taxi tat: Ich las und beantwortete E-Mails und ärgerte mich über mich selbst, dass mein Magen das fehlende Frühstück in Verbindung mit der großen Portion Kaffee und das Starren in meinen steten Blackberry-Begleiter nicht wirklich gut vertrug.
Schließlich gab ich dem Grollen meines Magens nach, steckte den Blackberry in die Handtasche und tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich gleich nach Dublin fliegen würde, um eine spannende Person zu treffen, die ich für ein Buch über erfolgreiche Frauen aus aller Welt porträtieren wollte. In Female Leadership – Die Macht der Frauen wollte ich die Wege von Top-Frauen zum Erfolg nachvollziehen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen durch persönliche Gespräche für andere nutzbar machen. Der Name der Frau, die ich an diesem Tag treffen wollte, war Caroline Casey, eine junge Irin, die mich aufgrund ihrer Lebensgeschichte schon bei der Vorabrecherche sehr beeindruckt hatte. Sie war blind, was sie aber nicht davon abgehalten hatte, eine international anerkannte, soziale Unternehmerin zu werden. Nach einer beeindruckenden Karriere in einer Unternehmensberatung setzt sie sich heute mit ihrer Stiftung »Kanchi« sehr erfolgreich und innovativ für die Integration von Behinderten in normale Jobs in der Wirtschaft ein. Ich freute mich auf das Kennenlernen dieser ungewöhnlichen Frau, das an diesem Tag für elf Uhr vormittags angesetzt war.
Dublin war bei der Ankunft genauso grau und verregnet wie Berlin, der Verkehr auf den Straßen nicht minder hektisch. Das Büro von Caroline Casey lag zentral, und ich schaffte es tatsächlich, um elf Uhr bei ihr zu sein. Punktlandung. Als sie mir dann die Tür zu ihrem Büro öffnete, war ich bass erstaunt: Caroline bewegte sich nicht wie eine blinde Frau. Sie sah auch überhaupt nicht so aus, wie ich mir blinde Menschen vorgestellt hatte. In ihr war eine unglaubliche Energie, das war vom ersten Moment an zu spüren.
Nach der Begrüßung raste sie regelrecht einen langen Gang entlang in Richtung eines Meeting-Raums, riss die Tür zu diesem auf, alles mit einer hohen Selbstsicherheit, als würde sie jeden Millimeter des Raumes kennen. Sie bot mir einen Platz an einem langen Konferenztisch an, danach ein Getränk, alles mit einer enormen Geschwindigkeit. Dass ich das so deutlich registrierte, hatte damit zu tun, dass ich sie mir wohl langsamer und unsicherer in ihren Bewegungen vorgestellt hatte. Sie aber wirkte wie ein Mensch, der ganz normal sehen konnte. Unfassbar. Schlagartig wurde mir klar: Dieses Gespräch wird um ein Vielfaches spannender als jede Darstellung der (beeindruckenden) Fakten ihres Lebens online. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, dass mein eigenes Leben nach diesem Gespräch eine neue Wendung bekommen sollte und ich nicht nur hier war, um Carolines Geschichte zu hören.
Caroline Casey wurde mit einer schweren Augenkrankheit geboren, einer Augenkrankheit, die sie mit den Jahren fast vollkommen blind machte und die vielen anderen Menschen ein Leben als behinderter Mensch vorherbestimmt hätte. Nicht so Caroline. Ihre Eltern bestanden darauf, sie normal aufzuziehen. Ohne Sonderbehandlungen, ohne Blindenschule, ohne Ausflüchte. Im Gegenteil. Ihr Vater forderte seine Tochter immer wieder heraus und brachte ihr von klein auf bei, dass sie nicht blind sei, sondern lediglich anders sehen würde als beispielsweise ihre Mitschülerinnen.
Unternahm er einen Segelausflug mit ihr, verlangte er von ihr, das Boot zurück in den Hafen zu steuern, und in der Schule forderte er Gleichberechtigung für seine Tochter ein. Später setzte er sie im eigenen Unternehmen, einer Druckerei, in dem Bereich ein, in dem man sicher am wenigsten ein nahezu blindes Mädchen im Ferienjob erwartet: in der Qualitätssicherung von Druckerzeugnissen. Insofern dauerte es auch fast achtzehn Jahre, bis Caroline akzeptierte, dass sie bestimmte Dinge nun beim besten Willen nicht tun konnte. Autofahren zum Beispiel. Dies musste ihr allerdings erst ein Amtsarzt in Dublin mitteilen. Denn beantragt hatte sie den Führerschein mit der ihr eigenen Überzeugung, nicht blind zu sein, sondern nur anders zu sehen als andere.
Auch in ihrem weiteren Leben war Caroline nicht gewillt, Rückschritte oder Einbußen hinzunehmen. Sie absolvierte eine Business School und machte Karriere bei einer internationalen Unternehmensberatung. Mit Recht war sie stolz auf die außerordentliche Extraleistung ihres Körpers, mit dem sie nach außen hin ein nahezu normales Leben führte. Bis er eines Tages nicht mehr wollte und ihr dies durch verschiedenste Zeichen und große Schmerzen auch unmissverständlich deutlich machte. So lag es an ihr, eine neue berufliche Herausforderung zu suchen, eine, bei der sie niemandem etwas beweisen musste und doch sie selbst sein konnte. Und ebendiese Herausforderung fand sie dann, und sie wurde der Grund, warum ich Caroline porträtieren wollte: Sie hatte nämlich beschlossen, als erste Frau der Welt auf einem Elefanten durch Indien zu reiten, um auf die Fähigkeiten (nicht die Behinderung!) von blinden Menschen aufmerksam zu machen. Warum wählte sie diesen Weg?
»Warum ein Elefant?«, fragte ich sie.
Die einfache Antwort von ihr: »Weil es mein Kindheitstraum war, wie Mogli aus dem Dschungelbuch auf einem Elefanten zu reiten.«
Nee, ist klar, ein Kindheitstraum, dachte ich leicht ironisch. Was soll einen sonst motivieren, alleine auf einem Elefanten durch Indien zu reiten?
Während ich dieser jungen Frau gegenübersaß, konnte ich kaum fassen, was ich in der letzten Stunde gehört und gesehen hatte. Nicht nur, dass Caroline nicht blind aussah – wahrscheinlich sahen für mich blinde Menschen irgendwie alle wie Stevie Wonder aus, entweder mit Brille oder einem ganz spezifisch abwesenden Gesichts- und Augenausdruck, jedenfalls deutlich erkennbar blind. Sie aber war das Gegenteil davon. Ihre blauen wachen Augen und langen blonden Haare machten sie zu einer außerordentlich attraktiven Frau, die in keinster Weise eingeschränkt wirkte. Sie versprühte auch eine Überzeugungskraft und Power, die ich in vielen Jahren im Umgang mit Managern und Politikern selten erlebt hatte. Und sie sprach von einem Kindheitstraum, den sie als Erwachsene umgesetzt hatte. Wer tut das schon?
Und dann, mir nichts, dir nichts, ohne Ankündigung oder Vorwarnung, wendete sie das Blatt unseres Gesprächs. Völlig unvermittelt und mir direkt in die Augen schauend fragte sie: »Und was war dein Kindheitstraum?«
Ich war perplex, wusste keine Antwort. Aber von irgendwo ganz tief in mir stieg etwas auf. Keine Antwort, aber ein Gefühl. Und ehe ich mich versah, war dieses Gefühl weiter aufgestiegen und war so intensiv, dass es mir, der Geschäftsfrau, Tränen in die Augen trieb. Mir blieb die Luft weg. Was war das denn?
Was da hochstieg, war das tiefe Empfinden einer großen Traurigkeit, und noch ehe ich reagieren konnte, hatte Caroline (obwohl nichts sehend) meine Reaktion mitbekommen. Sie stand wortlos auf und holte Taschentücher. Ich blieb zurück und kämpfte weiter gegen meine Tränen an. Verwirrt, peinlich bewegt, ertappt.
Ich konnte nicht glauben, was gerade passiert war, und erkannte mich selbst nicht wieder. Weinen, gegenüber Fremden? Noch dazu ohne ersichtlichen Grund? Rasend schnell versuchte ich meine Fassung zurückzugewinnen, und als Caroline wieder ins Zimmer trat, war es mir auch gelungen. Aber dennoch: Dass ich so gar keine Antwort auf die Frage wusste, erstaunte mich zutiefst, war es mir doch in den vielen Jahren meines Berufs als Beraterin schon fast zur zweiten Natur geworden, immer eine Antwort parat zu haben. Und nun das.
Nach ihrer Rückkehr gelang es mir, unser Interview auf für mich sichereres Terrain zurückzuführen, und auch Caroline sprach das Thema Kindheitstraum nicht mehr an. Erst beim Abschied, nach einer herzlichen Umarmung, sagte sie: »Versuche, dich an deinen Kindheitstraum zu erinnern. Und wenn du dich wieder erinnern kannst, und der Gedanke daran macht dich glücklich, dann setz ihn um.« Ich versprach es, einmal mehr an diesem Tag perplex, und stieg in mein Taxi zurück zum Flughafen.
Kennen Sie den Moment im Flugzeug, wenn die Maschine die Wolkendecke durchbricht, die Welt unten ganz klein geworden ist und Sie bei meist wunderbarem Licht freie Sicht auf Heerscharen samtener Schäfchenwolken haben?
In diesem Moment bekomme ich immer Abstand zum Trubel der Welt, zu meinen Alltagssorgen und allem, was noch so da unten ist. So auch dieses Mal. Das Gespräch mit Caroline ging mir dennoch nicht aus dem Kopf. Vielleicht, weil ich noch nie in einer so merkwürdigen Situation gewesen war, vielleicht, weil mich meine Reaktion auf die eigentlich einfache Frage so erschreckt hatte.
Wie auch immer, ich dachte zurück an meine Kindheit. Was hatte ich für Träume gehabt? Was war mir wichtig gewesen? Was wollte ich mal werden, wenn ich erwachsen bin? Ich hatte keine Ahnung, nicht mal einen Schimmer, alles war verschüttet und gefühlt ewig weit weg. Aber ich beschloss, darüber nachzudenken. Und siehe da, hoch über den Wolken, noch eine gute Flugstunde von Berlin entfernt, stiegen langsam, erst bruchstückhaft, aber dann ständig klarer einzelne Bilder meiner Kindheit auf.
Langsam, wie bei einer Wiese im Morgennebel, lichteten sich dann auch die letzten Schleier. Und auf einmal sah ich es: das kleine Mädchen, das...