1 Kognition und Kultur
Einheit oder Vielfalt?
Vor längerer Zeit schuf Frith die Welt. Er schuf auch alle Sterne, und die Welt ist einer der Sterne … Frith schuf alle Tiere und Vögel, aber als er sie machte, waren sie zuerst alle gleich. Der Spatz und der Turmfalke waren Freunde, und sie fraßen beide Samen und Fliegen. Und der Fuchs und das Kaninchen waren Freunde, und beide fraßen Gras … Er ließ wissen, dass er ein großes Treffen veranstalten würde und dass er bei diesem Treffen jedem Tier und jedem Vogel ein Geschenk machen würde, damit sich jeder von dem anderen unterscheide. Richard Adams, Unten am Fluß, 1992, S. 30–31.
Eine Frage der Perspektive
Wenn wir versuchen, uns in der Welt da draußen, in unseren sozialen Beziehungen oder in unserem Innenleben zurechtzufinden, sind wir oft – wenn auch meist uneingestanden – der Überzeugung, dabei die einzig richtige Perspektive einzunehmen. In vielen Situationen fällt es uns deshalb nicht leicht, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Nehmen Sie ein paar einfache Beispiele aus dem Alltag:
Die Besprechung nächsten Mittwoch wird um zwei Tage vorverlegt? Dann findet sie wohl am Montag statt. – Grün und blau sind verschiedene Farben, keine Frage. – „Peter hat mir nicht geholfen, obwohl er mir das versprochen hatte.“ Wer würde sich darüber nicht ärgern? – Oder: „Das Brötchen da vorne links, bitte!“ Wieso reicht mir die Verkäuferin nun statt des gewünschten Sesambrötchens ein Roggenbrötchen von hinten rechts?
Wie wir noch sehen werden, ist es nicht nur im letzten Beispiel, sondern in jeder der genannten Situationen keineswegs selbstverständlich, wie man sie zu verstehen hat oder was andere Personen darüber denken.
Perspektivenwechsel
Perspektivenwechsel ist eine Fähigkeit, die wir alle als kleine Kinder lernen, zumindest dem Prinzip nach (Astington, 2000), und die uns dennoch selbst als Erwachsenen noch schwerfällt (Galinsky et al., 2006; Wu & Keysar, 2007). Umso mehr setzt es uns zu, wenn wir – etwa bei einer Reise ins ferne Ausland – plötzlich mit Personen konfrontiert werden, deren Ansichten, Werte und Verhaltensweisen so gar nicht unseren Erwartungen entsprechen. Dann können wir uns mit einem Mal sehr gut vorstellen – ja, es erscheint geradezu selbstverständlich –, dass „die anderen“ die Welt ganz anders sehen als und sie womöglich auch anders denken als wir.
Leitfragen
Aber wie groß sind die Unterschiede wirklich? Und auf welcher Ebene sind sie angesiedelt? Überschätzt man im Kontakt mit fremden Kulturen, was wir im Alltag eher unterschätzen? Hängt das, was Menschen wahrnehmen, denken und fühlen – womöglich sogar wie sie es tun –, grundsätzlich davon ab, in welcher Kultur sie aufgewachsen sind, oder gibt es doch mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes? Und wie kann man das eigentlich untersuchen?
Eintauchen in die Welt des Denkens
Fragen wie diese stehen im Zentrum unseres Buches. Es lädt Sie ein, in die faszinierende Welt des Denkens einzutauchen, und dies im doppelten Sinne des Wortes. Zum einen möchten wir Sie mitnehmen auf einen Streifzug durch das weitläufige Gebiet menschlicher Kognitionen. Dazu gehören Vorstellungen von Raum und Zeit genauso wie Emotionen und Sprache. Zum anderen möchten wir Sie mitnehmen auf eine Reise zu verschiedenen Kulturen rund um den Erdball, von den indianischen Kulturen Amerikas bis zu den polynesischen Inseln im Pazifik.
Aufbau des Kapitels
Die Grundlagen werden in dieser Einleitung gelegt, die die wissenschaftliche Betrachtung von Kognitionen und Kultur zunächst aus Sicht der Kognitionswissenschaften (Kapitel 1.1) und dann aus Sicht der Ethnologie (Kapitel 1.2) skizziert. Gegenstand von Kapitel 1.3 sind die methodischen Herausforderungen für die Untersuchung des Zusammenwirkens dieser zwei Aspekte. Wie eng Kognition und Kultur verwoben sind, wird dann in den nachfolgenden Kapiteln illustriert. Eine detaillierte Übersicht über ihren Inhalt wird in Kapitel 1.4 gegeben.
1.1 Die Wissenschaft von den Kognitionen
Zwischen den beiden eingangs angedeuteten Standpunkten – Kognitionen seien durch Kultur entscheidend geprägt versus unabhängig davon – bewegen sich nicht nur alltagspsychologische Erklärungen, sondern auch die wissenschaftliche Betrachtung von Kognitionen.
Verschiedene Arten des Denkens und Lévy-Bruhls „primitive Mentalität“
Als während der Kolonialzeit die Europäer verstärkt mit Menschen aus anderen Kulturen in Kontakt kamen, nahmen selbst Sozial- und Kulturwissenschaftler an, dass Menschen aus sogenannten „Naturvölkern“ grundsätzlich anders dächten als solche aus „modernen westlichen Zivilisationen“. Lucien Lévy-Bruhl beispielsweise nannte das in seinen frühen Schriften die „primitive Mentalität“ (1910, 1922). Charakteristisch für diese Mentalität sei ein mystisch-prälogisches Denken, das viele Elemente enthalte, die dem Bereich des Religiösen und Übernatürlichen entstammen. Mit den Regeln der Logik, die dem kartesiani- schen Denken der Europäer zugrunde lägen, lasse es sich deshalb nicht beschreiben oder vereinbaren. Lévy-Bruhl selbst gab diese Position später größtenteils wieder auf. Die Ansicht, dass es zwei Arten des Denkens gäbe, die in allen Menschen koexistieren – analytisches, regelbasiertes, abstraktes einerseits und holistisches, assoziatives und inhaltsspezifisches andererseits –, wird aber aktuell in der Denkpsychologie wieder diskutiert (z. B. Beller & Spada, 2003; Evans, 2008; mehr dazu in Kapitel 4).
Kognitive Einheit und die Kognitionswissenschaften
Der Verbund der Kognitionswissenschaften; durchgezogene Linien stehen für starke Verbindungen, gestrichelte für schwache (n. Gardner, 1992, S. 49).
Dem gegenüber steht die Auffassung von der „psychischen Einheit des Menschengeschlechts“, derzufolge alle Menschen unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund über das gleiche kognitive Rüstzeug verfügen. Sie lässt sich mindestens bis in die Aufklärung zurückverfolgen, erfuhr aber in den 1950er- und 1960er-Jahren enormen Auftrieb. Die Kognitive Revolution schuf damals die Grundlage für eine neue Forschungsrichtung, als sich sechs Disziplinen – darunter die Psychologie und die Ethnologie – zu den Kognitionswissenschaften zusammentaten, um die Grundlagen des menschlichen Geistes und seiner Leistungen zu erforschen (Boden, 2006; Gardner, 1992; Miller, 2003). Zu diesen Leistungen gehören Wahrnehmung und Aufmerksamkeit genauso wie Lernen, Gedächtnis, Denken und Sprache, aber auch Emotion, Motivation und das Phänomen des Bewusstseins – also „alle Prozesse, durch die der sensorische Input transformiert, vereinfacht, elaboriert, gespeichert, abgerufen und verwendet wird“ (Neisser, 1967, S. 4).
Die Computermetapher und ihre zentralen Annahmen
Der kognitionswissenschaftliche Ansatz zur Beschreibung dieser Funktionen stützt sich auf die sogenannte Computermetapher, nach der man zwischen der Hardware (dem „Prozessor“ Gehirn), der Software (den „Programmen“) und den Daten (den verarbeiteten Inhalten) unterscheiden kann. Das Denken des Menschen wird dabei beschrieben durch eine Kombination von mental repräsentierten Inhalten (Daten) und darauf abgestimmten Verarbeitungsprozessen (Programmen). Kennt man diese, so lassen sich die entsprechenden Kognitionen etwa auch auf einem Computer realisieren; man spricht dann von künstlicher Intelligenz. Von den Annahmen, die dieser Perspektive zugrunde liegen, sind im Folgenden drei von zentraler Bedeutung:
1. | Kognitionen lassen sich trennen in Verarbeitungsprozesse und Inhalte (also die verarbeiteten Informationen). |
2. | Kognitionen sind ein mentales Phänomen in den Köpfen von Personen; die Verarbeitungsprozesse sind also weitgehend unabhängig vom Kontext, in dem sie ablaufen. |
3. | Nur der Inhalt variiert kulturell, der Prozessor selbst und damit auch die Verarbeitungsprozesse sind dagegen universell, also bei allen Menschen gleich und unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft. |
Konsequenzen für die Kognitionsforschung
Für die Forschung zur menschlichen Kognition hatten diese Annahmen weitreichende Konsequenzen.
(1) Prozess versus Inhalt: Arbeitsteilung zwischen Psychologie und Ethnologie
So diente die angenommene Trennbarkeit von Prozess und Inhalt als Rechtfertigung für eine Arbeitsteilung zwischen der Psychologie, die sich eher für die Prozesse zuständig fühlte, und der Ethnologie, die sich mehr für die Inhalte interessierte (D’Andrade, 1981). Dass diese Trennung indes weder sinnvoll noch haltbar ist – und nicht selten zu falschen Schlussfolgerungen führt –, ist inzwischen nachgewiesen (z. B. Atran & Medin, 2008; mehr dazu in Kapitel 3 und Kapitel 11). In jüngerer Zeit werden deshalb verstärkt Anstrengungen unternommen, die...