Zweiter Teil: Der Sohn
Das Nomadenkind
Als Erwachsener wird er erstaunt feststellen, dass er kaum Erinnerungen an seine Kindheit hat. Diese Zeit im Leben von Karlheinz Böhm – in den Geburtsunterlagen aus Darmstadt finden sich außerdem sowohl die Schreibweisen »Karl Heinz« als auch »Karl-Heinz« – scheint verloren. Er wird sich auch nie wirklich auf die Suche danach machen. Immerhin vermag er Bruchstücke davon auf alten Fotografien wiederzufinden, die Bildlegenden dazu kommen fast ausschließlich aus den Erzählungen anderer. Es sind Wahrheiten aus zweiter Hand, wie er sie später in seinem Beruf als Schauspieler selbst auch kreieren wird. Als prägendsten Eindruck seiner Kindheit wird er stets den Vater nennen, für seine Jugend einerseits den Zweiten Weltkrieg und andererseits ungeheure Einsamkeit.
Die erste Fotografie von ihm entsteht am Sonntag, den 18. März 1928, zwei Tage nach seiner Geburt, in der »Darmstädter Privatfrauenklinik und Entbindungsanstalt« in der Riedeselstraße 52. Sie zeigt Thea Böhm im Morgenmantel, mit scheuem Lächeln über ihr Neugeborenes gebeugt. »Ich habe meine Karriere abgebrochen, vorläufig einmal«, wird sie später über diese Zeit sagen, »und wir waren in Darmstadt, mein Mann war dort Generalmusikdirektor, es war eine wunderschöne Zeit, er hat dort herrliche Vorstellungen gemacht – und ich hab meinen Karlheinz bekommen. Unseren Sohn […], von dem ich vom ersten Tag an gewusst habe, dass er Schauspieler wird.«18
Karl Böhm, der am Tag der Geburt seines Sohnes eine Vorstellung von Der Rosenkavalier dirigierte, steht auf dem ersten Bild mit seinem Kind im Hintergrund und wirkt ein wenig verloren in seiner neuen Rolle. Auch auf einer anderen Fotografie aus dem Sommer desselben Jahres, in der Sommerfrische in Velden am Wörthersee in Kärnten, beugt er sich ein wenig hilflos über seinen auf dem Wickeltisch vor ihm liegenden Stammhalter. Der sich ebenfalls auf das Gestell abstützende Großvater Leopold wirkt dagegen deutlich entspannter. Sein Zwicker über der breiten Nase ist derselbe geblieben wie zur Kinderzeit seiner Söhne, sein an den Schläfen korrekt kurz geschnittenes Haar wölbt sich über der Stirn seit seiner Jugend zu einem schwer domestizierbaren gewellten Haarschopf, der eine silberne Färbung angenommen hat. Aufenthalte am Wörthersee, wohin bereits namhafte Musiker wie Johannes Brahms und Gustav Mahler regelmäßig in die Sommerfrische fuhren, gehören zur angenehmen Routine der Familie Böhm, seit Karls Bruder Leopold die Kärntnerin Elsa Mößlacher, die gemeinsam mit ihrer Schwester Ruth Besitzerin des Schlosshotels in Velden am Wörthersee ist, geheiratet hat. Man logiert an einem geschichtsträchtigen Ort. Das um 1600 vom Kärntner Adelsgeschlecht der Khevenhüller erbaute Schloss wechselte im Laufe der Jahrhunderte mehrfach den Besitzer und wurde ab dem Ende des 19. Jahrhunderts nach mehreren Umbauten zunehmend für den Fremdenverkehr genutzt. Ab den 1950er-Jahren verwendete man es auch für Film- und Fernsehproduktionen, deren populärste von 1990 bis 1992 die TV-Serie Ein Schloß am Wörthersee wurde. In diesem noblen Ambiente treffen sich die Brüder Böhm Ende der 1920er-Jahre samt ihren Familien jeden Sommer, was durch zahlreiche Fotos dokumentiert ist. Auch 1930 sind Karl und Thea mit ihrem Sohn wieder zum Urlaub in Kärnten. Von allen Kindheitszeugnissen sind Karlheinz Böhm die Urlaubsfotos am Wörthersee später am liebsten. Sie bleiben Dokumente unbeschwerten Lebens und einer intakten (Groß-)Familie, in der man zumindest für die Dauer der Ferien füreinander Zeit hat. Ein Bild zeigt den kleinen strohblonden Karlheinz 1930 mit dem für die Zeit typischen Pagenkopf-Haarschnitt, während er mit einem Dreirad hantiert. Seine Kinderzeit ist nicht mit persönlichen, wohl aber fotografischen Erinnerungen belegt. Begriffe wie Heimat oder Zuhause verbindet er später damit nicht. Beim Blättern in alten Aufnahmen sieht man Karlheinz 1928 als fröhliches Kleinkind im Stubenwagen, 1929 getragen von seinem stolz lächelnden Vater oder 1931 wie einen kleinen Oskar Matzerath mit Blechtrommel auf einem Balkon. Letzteres Bild stammt aus dem zweiten Wohnsitz der Familie in Darmstadt in der Ohlystraße Nr. 33.
Karlheinz Böhm verbringt seine frühe Kindheit in komfortablen Häusern, umgeben von sorgsam ausgewähltem Spielzeug und einer überschaubaren Anzahl an vertrauten Menschen. Der Vater verfolgt weiter seine Karriere, nutzt jede gute Chance, die sich ihm bietet, verlässt Engagements vorzeitig, um bessere zu erhalten. Die Mutter kümmert sich mehr um ihren Mann als um ihren Sohn, das übernehmen Kinder- und Dienstmädchen sowie die Großmutter aus München. Dauerhafte Beziehungen zu anderen Kindern werden dadurch keine aufgebaut, wie Karlheinz Böhm später erkennt: »Nomadenkind, das ich war, habe ich rasch entsprechende Schutzmechanismen entwickelt. Man läßt sich dann eben nicht auf etwas ein, denn in dem Moment, wo man es doch tut, wird man sofort wieder rausgerissen, und das tut weh. Also beginnt man, Menschen und Dinge in eine gewisse Oberflächlichkeit abzuschieben aus lauter Angst vor der Trennung.«19
Eine gewisse Bindungsangst wird ihn lange Jahre seines Lebens begleiten und künftige Beziehungen überschatten. Um die erste solcher Trennungen bewusst wahrnehmen zu können, ist der Junge noch zu klein. Bereits am 25. Juli 1931 verlässt sein Vater die erfolgreiche Zwischenstation Darmstadt, um ein lohnenderes Angebot aus dem Norden Deutschlands anzunehmen. Er wird Erster Kapellmeister an der Hamburger Staatsoper, die Familie übersiedelt am 25. Juli 1931 in die Hansestadt. – »Jetzt lassen Sie mich hier allein in diesem Bumsnest«20, zitiert Karl Böhm den Kommentar Carl Eberts, als er ihm mitteilte, den Posten des Generalmusikdirektors in Hamburg anzunehmen. Böhms eigene Ansicht über das damalige Darmstadt – abseits des Theaters, wie er betonte – war nur mäßig gehobener formuliert, auch Ebert und Bing verließen die Stadt bald nach Böhm zugunsten lukrativer Positionen in Berlin. Warum die Stelle in Hamburg vakant wurde, erwähnt Böhm in seinen Memoiren nicht. Sein Vorgänger Egon Pollak hatte seinen Posten nicht freiwillig verlassen, er emigrierte 1931 nach heftigen Polemiken gegen ihn, die vor allem auf seine jüdische Herkunft abzielten, in die USA.
Stand er seinem hessischen Arbeitsplatz trotz künstlerischer Herausforderung durchaus kritisch gegenüber, so war Hamburg für Karl Böhm Liebe auf den ersten Blick – und die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Die junge Familie wohnt in der Isestraße 119. Für das Nomadenkind ändert sich in der neuen Umgebung nicht viel an seiner Lebenssituation. An den in Hamburg besuchten Kindergarten und die dortigen Spielkameraden hat Karlheinz Böhm im Alter keine Erinnerungen mehr. Jahrzehnte später werden sich Menschen aus Afrika ihm gegenüber als Nomaden bezeichnen, und er wird von sich behaupten, ebenfalls einer gewesen zu sein. Seine Gegenüber werden darüber laut lachen, er höchstens lächeln, denn er hat nicht wirklich übertrieben.
Wie zuvor in München und Darmstadt besucht Karl Böhm seine Grazer Eltern, in Hamburg erlebt Leopold Böhm seinen Sohn zum letzten Mal im Orchestergraben. Er, der einst vor einer Musikerkarriere gewarnt hat, unterstützt die seines erfolgreichen Erstgeborenen nun tatkräftig. 1932 versucht er beim damaligen österreichischen Unterrichtsminister Anton Rintelen zu intervenieren, um seinem Sohn ein Engagement bei den Salzburger Festspielen zu ermöglichen, was jedoch misslingt. Das spätere erfolgreiche Wirken Karl Böhms in Salzburg sollte der Vater nicht mehr erleben. Als Leopold Böhm am 10. Dezember 1933 stirbt, kondoliert der Komponist Alban Berg in einem sehr persönlichen Schreiben an Karl Böhm und hebt darin die große Liebe Leopolds zu seinem Sohn hervor.
Auch Karl Böhm demonstriert in jener Zeit Familiensinn, indem er Fotografien, die ihn mit Frau und Kind zeigen, in Hamburger Programmheften abdrucken lässt. Auf einem Privatfoto aus jener Zeit blickt er zu seinem Sohn, der wohl auf einer Erhöhung steht, lächelnd auf. Im Leben wird es stets umgekehrt sein. Der junge Karlheinz, mit Pagenschnitt und Matrosenanzug, dreht dabei den Kopf ein wenig zur Seite, als fürchtete er direkte Beurteilung selbst bei einem freundlichen Gesichtsausdruck seines Vaters. Auf einer anderen Fotografie aus dem Jahr 1933 wirkt Karlheinz Böhms etwas unsicherer Blick eingefroren; unter dem perfekt geschnittenen Pagenkopf blickt er fragend in Richtung Kamera. Der nackte Oberkörper lässt ihn dabei noch schutzloser wirken. Ein Porträt, auf dem der kleine Karlheinz diese Frisur trägt, hängt Jahrzehnte später in Karl Böhms Wiener Villa als Teil einer seltsamen Trinität: rechts davon befand sich ein barocker Putto-Kopf und daneben ein Porträt des jungen Dirigenten Karl Böhm.
In Hamburg sagt Karl Böhm jenen Satz, der von ihm selbst und anderen gern zitiert und mittlerweile oft hinterfragt wird. Nachdem man ihm 1931 den Posten des Generalintendanten angeboten hat, setzt man 1933 bei der nach der Etablierung des Ermächtigungsgesetzes diktatorisch regierenden NSDAP voraus, dass er bereits inoffizielles Mitglied sei. Als Böhm verneint, legt man ihm den Beitritt nahe, was er mit der Begründung ablehnt, sich bereits anderweitig verpflichtet zu haben: »Ich gehöre nur einer Partei an, der musikalischen.«21 – »Ich erinnere mich ganz genau« war einer von Böhms Lieblingseinleitungssätzen bei seinen Erzählungen, auch seine Autobiographie trägt diesen Titel....