Prolog
Fußball ist ein einfaches Spiel. Oder etwa nicht? Wer den Fußball der jüngeren Vergangenheit verfolgt, dürfte nicht immer das Gefühl haben, einen einfachen Sport vor sich zu haben. Früher hieß es: «Geht’s raus und spielt’s Fußball.» Heute ist von falschen Neunern die Rede und von abkippenden Sechsern, von Fünferketten und Matchplänen, von individueller Belastungssteuerung und von digitalen Scouting-Lösungen. Ist das, wie der kicker vorwurfsvoll formulierte, «der Versuch einer Elite, durch eine Verwissenschaftlichung der Begriffspalette jene von der Diskussion um den Volkssport Nummer eins auszuschließen, denen man ohnehin nicht zutraut, etwas von der Materie zu verstehen»? Anders gefragt: Was hat sich schon verändert? Ein Ball, 22 Spieler, ein Platz mit 7140 Quadratmetern – so war der Fußball, so wird er immer sein. Warum sollte der Sport plötzlich komplexer geworden sein, wie man allerorten hört?
Die Antwort liegt, wie Otto Rehhagel einst so schön sagte, auf dem Platz. Wer ein heutiges Fußballspiel mit einer Partie aus den Sechzigern, den Neunzigern oder auch nur von vor zehn Jahren vergleicht, kann sich fragen: Ist das dieselbe Sportart? Früher benötigten die Teams eine halbe Minute, um den Ball von einem Tor vor das andere zu treiben. Heute liegen zwischen Balleroberung und Torabschluss oft keine zehn Sekunden. Früher zogen sich die Teams nach einem Ballverlust an den eigenen Strafraum zurück und warteten ab, was der Gegner tut. Heute ergreift eine Mannschaft nach dem Ballverlust sofort wieder die Initiative, das gesamte Team schiebt nach vorne. Vor zwanzig Jahren liefen die Spieler sieben bis acht Kilometer pro Spiel, heute legen Mittelfeldspieler in neunzig Minuten Strecken von vierzehn Kilometern oder mehr zurück. Der Fußball ist athletischer geworden, schneller, durchdachter. Die Spieler bewegen sich, überspitzt formuliert, wie orchestrierte Roboter über den Platz. Ja, der Fußball hat sich verändert. Man muss beide Augen fest zukneifen, um das nicht zu erkennen.
Der Wandel ereignete sich nicht von heute auf morgen. Ein Grund dafür ist das viele Geld, das mit dem Profifußball verdient wird. Die Umsätze der Spitzenklubs haben sich seit den neunziger Jahren verzehnfacht. Das Interesse am Fußball macht es möglich. Der Fan bezahlt, sei es für das Stadionticket, Merchandising oder Pay-TV-Abos. Viel von diesem Geld stecken die Klubs in irrwitzige Transfersummen und immer höhere Gehälter. Doch es fällt auch etwas für andere Bereiche ab: für die Nachwuchsarbeit, mit der bereits sehr junge Talente gesucht und gefördert werden, für immer modernere Trainingsplätze, auf denen Fußballer effektiver trainieren können, oder für technische Innovationen, die Spielern helfen, schneller zu regenerieren und besser Muskeln aufzubauen. Im Spitzenfußball sind vollkommen andere Leistungen möglich, als noch vor zwanzig Jahren. Technisch, weil die Spieler besser ausgebildet sind. Athletisch, weil die Spieler effektiver trainieren. Taktisch, weil Spieler bereits in der Jugend verschiedene Systeme kennenlernen und ein wesentlich höheres Verständnis für taktische Fragen haben als früher.
Der Fußball hat sich in sämtlichen Bereichen professionalisiert. Vorbei sind die Zeiten, als Manager aus Lust und Launen heraus Spieler verpflichteten. Horst Hrubesch, einer der treffsichersten Stürmer seiner Zeit, wurde erst entdeckt, als er schon 24 war, per Zufall, bei einem Spiel für einen Amateurklub. Heute beschäftigen die großen Vereine Kaderplaner, die genaue Vorstellungen entwickeln, welche Spieler zum Klub passen und welche nicht. Scouts leuchten mögliche Neuverpflichtungen aus bis ins kleinste Detail. Ärzte und Physiotherapeuten überwachen die Blutwerte der Spieler, stets besorgt, dass die Spieler konditionell oder athletisch abfallen. Möglichst wenig soll dem Zufall überlassen werden – in der Vergangenheit ein häufig bemühter Faktor im Fußball.
Den größten Einfluss auf die Entwicklung des Fußballs hatten aber nicht die hypermodernen Trainingszentren oder die Sponsoren mit dem vielen Geld. Es sind Menschen, die mit ihren Ideen die Welt verändern. Im Fußball findet man diese Menschen oft auf den Trainerbänken. Es liegt in der Natur des Berufs: Die Forschung mag große Durchbrüche in der Trainingswissenschaft erzielt haben, die Mannschaften mögen intelligenter zusammengestellt sein, die Spieler besser ausgebildet. Am Ende entscheidet der Trainer, wie eine Mannschaft spielt, wie sie trainiert, welche Taktik sie umsetzt. In der Geschichte des Fußballs gab es immer wieder Trainer, die auf diese Fragen neue, innovative Antworten gefunden haben. Sei es, indem sie neue Trainingsmethoden anwandten, neue Strategien erprobten oder ihre Mannschaft völlig unerwartet aufstellten. Die Trainer sind das kleine Rädchen im Zahnradgetriebe Fußball, um das sich alle anderen Rädchen drehen.
Der Wandel des Fußballs hängt eng zusammen mit dem Wandel des Trainerberufs. Kein Posten im Fußball hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren so sehr verändert wie der Beruf des Trainers. Früher waren sie eben das: Fußballtrainer. Heute müssen sie zig Funktionen auf einmal erfüllen. Sie müssen Mannschaftsführer sein, Lehrer, Taktikfuchs, Psychologe, Physiotherapeut, Experte für die sich ständig weiterentwickelnde Trainingswissenschaft und – last, but not least – abgebrühte Medienprofis. Nie war das Scheinwerferlicht, das auf die Trainer fällt, greller als heute. Trainer genießen fast so viel Popularität wie ihre Spieler. Sieg oder Niederlage, Triumph oder Debakel, schöner oder hässlicher Fußball: All das wird häufig am Trainer festgemacht. Die Erwartungen steigen ins Unermessliche, wenn Pep Guardiola zu Bayern München oder José Mourinho zu Manchester United wechselt. Und das nicht ohne Grund, wie die vergangenen Jahre zeigen: Ein guter Trainer kann den Unterschied machen zwischen einer durchschnittlichen und einer sehr guten Mannschaft.
In diesem Buch möchte ich Ihnen Trainer vorstellen, die den Fußball in den vergangenen Jahren maßgeblich geprägt haben. Die Einfluss darauf hatten, wie heute Fußball gespielt wird. Ich möchte ihre Ideen vorstellen, ergründen, wie sie auf diese Ideen gekommen sind, und beschreiben, was sie einzigartig macht und wieso sie mit ihren Mannschaften Erfolge feiern. Erfolg muss nicht gleichbedeutend sein mit dem Gewinn von Titeln. Es kann auch ein Erfolg sein, wenn ein Trainer besonders schönen Fußball spielen lässt oder wenn seine Ideen so revolutionär sind, dass sie seine Kollegen inspirieren. Kurz: Ich möchte analysieren, wie elf Trainer den Fußball verändert haben.
Ein Fußballteam ist ein komplexer Organismus, Fußball ein komplexer Sport. Kondition, Technik, Psychologie, Taktik, Form, persönliche Animositäten und Kritik von außen – all diese Dinge entscheiden über Erfolg und Misserfolg. Ein Trainer muss die richtigen Entscheidungen treffen, um alle Themen unter einen Hut zu bekommen. Jeder Trainer hat Bereiche, in denen er sich besonders auskennt. Der eine mag ein Meister der Trainingslehre sein, der andere ein abgebrühter Medienprofi, der Dritte ein einfühlsamer Psychologe. Viele Wege führen nach Rom. Ich möchte zeigen, welche neuen Wege die Trainer in den jeweiligen Teilbereichen des Fußballs beschritten haben.
Ein Aspekt, der in den vergangenen Jahren immer wichtiger wurde, ist die Taktik. Es ist der Bereich des Fußballs, in dem ich mich besonders gut auskenne. Seit Jahren beobachte, analysiere, beschreibe ich Strategien und Taktiken, mit denen Spitzenteams Erfolge feiern. Als Blogger habe ich auf der Seite Spielverlagerung.de angefangen, über das Phänomen Taktik zu berichten. Mittlerweile habe ich das Hobby zum Beruf gemacht. Taktik nimmt auch in diesem Buch einen großen Stellenwert ein, ist sie doch der Bereich, der sich in den vergangenen Jahren maßgeblich gewandelt hat. Trainer definieren sich mehr denn je über ihre Spielphilosophie, über die taktischen Ideen, die sie ihren Spielern mitgeben. Die Professionalisierung hat dazu geführt, dass die Klubs mittlerweile Analysten und Scouts einstellen, die ihren Chefs zuarbeiten. Sie analysieren den kommenden Gegner, suchen Stärken und Schwächen. Sie helfen den Trainern, für jeden Gegner maßgeschneiderte Taktiken zu entwerfen.
Strategie und Taktik
Strategie und Taktik werden oft synonym verwendet, bezeichnen aber zwei unterschiedliche Konzepte. Die Strategie bezieht sich auf übergeordnete Fragen, die ein Trainer über längere Zeit prägt: Ist es ihm wichtiger, dass seine Mannschaft Tore schießt, oder soll sie in erster Linie Tore verhindern? Will ein Team den Ball haben, oder spielt es stärker auf Konter?
Die Taktik bezeichnet die einzelnen Elemente, die genutzt werden, um eine Strategie umzusetzen. Das Konterspiel ist beispielsweise ein strategisches Element. Der lange Ball, um schnell das Mittelfeld zu überbrücken, wäre ein dazu passendes taktisches Element.
Es ist kein Zufall, dass die erfolgreichsten Trainer der vergangenen Jahre auch die taktisch klügsten waren. Pep Guardiola und José Mourinho haben mehr Titel gewonnen als jeder andere Trainer. Sie sind zwei Taktikfüchse, jeder auf seine Art. Auch Jürgen Klopp, Joachim «Jogi» Löw oder Antonio Conte haben ihre Teams mit den richtigen Strategien an die Spitze geführt. Man könnte dies als Ex-post-Analyse abtun nach dem Motto: «Der Sieger schreibt die Geschichte.» Ich argumentiere andersherum: Zunächst stand bei all diesen Trainern die Spielidee, die Philosophie, nach der sie spielen ließen. Die Erfolge stellten sich erst ein, als ihre Spielideen fruchteten. Darum...