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Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre

August - September 1974

AutorSimone de Beauvoir
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
ReiheBeauvoir: Memoiren 5
Seitenanzahl704 Seiten
ISBN9783644017610
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Dieses Buch enthält den ergreifenden Bericht der Autorin über die letzten zehn Lebensjahre Jean-Paul Sartres und die Gespräche, die sie im Sommer und Herbst 1974 in Rom und Paris mit ihm führte - über sein Leben und Werk, über Herkunft und Einflüsse, Liebe und Freundschaft, Freiheit und Glück, über den Tod. «Das in jeder Hinsicht ungewöhnliche und meisterhafte Buch ist die souveränste Arbeit, die Sartre nach seinem Tod gewidmet wurde.» (Wilfried Wiegand, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Geboren am 9.1.1908 in Paris. Ihre ursprünglich wohlhabenden Eltern lebten nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund von Fehlspekulationen unter wenig üppigen Verhältnissen in der Rue de Rennes. Mit fünfeinhalb Jahren kam Simone an das katholische Mädcheninstitut, den Cours Désir, Rue Jacob; als Musterschülerin legte sie dort den Baccalauréat, das französische Abitur, ab. 1925/26 studierte sie französische Philologie am Institut Sainte-Marie in Neuilly und Mathematik am Institut Catholique, bevor sie 1926/27 die Sorbonne bezog, um Philosophie zu studieren. 1928 erhielt sie die Licence, schrieb eine Diplomarbeit über Leibnitz, legte gemeinsam mit Merleau-Ponty und Lévi-Strauss ihre Probezeit als Lehramtskandidatin am Lycée Janson-de-Sailly ab und bereitete sich an der Sorbonne und der École Normale Supérieure auf die Agrégation in Philosophie vor. In ihrem letzten Studienjahr lernte sie dort eine Reihe später berühmt gewordener Schriftsteller kennen, darunter Jean-Paul Sartre, ihren Lebensgefährten seit jener Zeit. 1932-1936 unterrichtete sie zunächst in Rouen und bis 1943 dann am Lycée Molière und Camille Sée in Paris. Danach zog sie sich aus dem Schulleben zurück, um sich ganz der schriftstellerischen Arbeit zu widmen. Zusammen mit Sartre hat Simone de Beauvoir am politischen und gesellschaftlichen Geschehen ihrer Zeit stets aktiv teilgenommen. Sie hat sich, insbesondere seit Gründung des MLF (Mouvement de Libération des Femmes) 1970, stark in der französischen Frauenbewegung engagiert. 1971 unterzeichnete sie das französische Manifest zur Abtreibung. 1974 wurde sie Präsidentin der Partei für Frauenrechte, schlug allerdings die «Légion d'Honneur» aus, die ihr Mitterrand angetragen hatte. Am 14.4.1986 ist sie, 78-jährig, im Hospital Cochin gestorben. Sie wurde neben Sartre auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.

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Leseprobe

1971


Anfang Januar liefen in der UdSSR und in Spanien zwei Prozesse ab, die viel Aufsehen erregten: der Prozess von Leningrad und der von Burgos. Am 16. Dezember 1970 erschienen elf Sowjetbürger, ein Ukrainer, ein Russe, neun Juden, vor dem Leningrader Gericht. Sie hatten geplant, ein Flugzeug zu entführen, um ihr Land zu verlassen. Aber sie wurden verraten und in der Nacht vom 15. auf den 16. Juni, noch bevor sie zur Tat geschritten waren, in verschiedenen Städten verhaftet. Zwei von ihnen wurden zum Tode verurteilt: Kusnetzow, der das Komplott organisiert hatte, Dymschitz, ein Linienpilot, der die Bedienung des Flugzeugs übernehmen sollte, nachdem die Besatzung gefesselt und ausgebootet worden war. Sieben Angeklagte bekamen zwischen zehn und vierzehn Jahren Zwangsarbeit, zwei weitere vier und acht Jahre.[9] Am 14. Januar 1971 fand in Paris eine große Sympathiekundgebung für sie statt, an der Sartre teilnahm. Auch Laurent Schwarz, Madaule, unser israelischer Freund Eli Ben Gal waren dabei. Alle verurteilten den Antisemitismus der UdSSR.

Im Prozess von Burgos wurde gegen Basken verhandelt, die der ETA angehörten und von Franco der Verschwörung gegen den Staat beschuldigt wurden. Gisèle Halimi nahm als Beobachterin daran teil und berichtete in einem bei Gallimard veröffentlichten Buch darüber. Sie bat Sartre um ein Vorwort, das er sehr bereitwillig schrieb. Er erklärte die Problematik der Basken, schilderte ihren Kampf und insbesondere die Geschichte der ETA. Er entrüstete sich über die Repression des Franco-Regimes im Allgemeinen und im Besonderen über die Art und Weise, wie der Prozess von Burgos abgelaufen war. Bei dieser Gelegenheit entwickelte er an einem bestimmten Beispiel eine Idee, die ihm am Herzen lag: den Widerspruch zwischen einem abstrakten Allgemeinen – auf das die Regierungen sich berufen – und dem einzelnen und konkreten Allgemeinen, so wie es sich in den Völkern, gebildet aus Menschen von Fleisch und Blut, verkörpert. Das Letztere ist es, versicherte er, was die Revolten der Kolonisierten – von außen oder von innen – fördern wollen, und das Letztere ist gültig, denn es erfasst die Menschen in ihrer Situation, ihrer Kultur, ihrer Sprache und nicht als leere Definitionen.

Gegen den zentralistischen und abstrakten Sozialismus pries Sartre «einen anderen Sozialismus, dezentralistisch und konkret: So ist die einzelne Allgemeinheit der Basken, die die ETA mit Recht dem abstrakten Zentralismus der Unterdrücker entgegensetzt». «Geschaffen werden müsste», sagte er, «der sozialistische Mensch auf der Grundlage seines Bodens, seiner Sprache und sogar seiner wiederbelebten Sitten und Gebräuche: Nur so wird der Mensch allmählich aufhören, das Produkt seines Produkts zu sein, um endlich der Menschensohn zu werden.»

Im gleichen Sinne hat Sartre zwei Jahre später eine Nummer von Les Temps Modernes (August–September 1973) den Forderungen der Bretonen, der Okzitanier, allen vom Zentralismus unterdrückten Minderheiten gewidmet.

Geismar war in der Santé inhaftiert. Obwohl er einen relativ privilegierten Strafvollzug genoss, solidarisierte er sich mit den anderen politischen Gefangenen, die in einen Hungerstreik getreten waren und für die Strafgefangenen wie für sich selbst erträglichere Haftbedingungen forderten. Einige Gauchisten beschlossen ebenfalls zu hungern, um deren Forderungen zu unterstützen. Sie wurden von einem progressiven Priester in der Saint-Bernard-Kapelle der Gare Montparnasse aufgenommen. Michèle Vian war unter den Hungerstreikenden, die Sartre ziemlich häufig besuchte. Er begleitete sie, als sie nach 21 Tagen ihr Fasten abbrachen und versuchten, eine Unterredung mit Pleven zu bekommen. Zu geschwächt, um einen langen Marsch zu machen, fuhren sie im Auto zur Place de l’Opéra, von wo sie zu Fuß zur Place Vendôme gingen. Sie sprachen im Justizministerium vor, aber Pleven weigerte sich, sie zu empfangen. Später kapitulierte Pleven. Er bewilligte den Häftlingen, die den Hungerstreik gemacht hatten, besondere Haftbedingungen und versprach, die Lage der Strafgefangenen zu verbessern: ein Versprechen, das kaum gehalten worden ist.

Am 13. Februar ließ Sarte sich von seinen maoistischen Genossen überreden, an einem ziemlich dummen Streich teilzunehmen: der Besetzung der Sacré-Cœur. Während einer Demonstration der Roten Hilfe war ein Genosse von Vive la Révolution durch eine Tränengasgranate im Gesicht verletzt worden. Um die öffentliche Meinung wachzurütteln, beschloss die G.P., die Basilika zu besetzen. Sie rechneten auf die Zustimmung von Monsignore Charles. Begleitet von Jean-Claude Vernier, Gilbert Castro, Liliane Siegel, betrat Sartre die Kirche, in der sich einige Genossen befanden, und verlangte, Monsignore Charles zu sprechen. Der Priester, an den er sich wandte, sagte ihm, er werde sein Ersuchen übermitteln. Eine Viertelstunde verging, ohne dass er zurückkam. Und dann schlossen sich alle Türen, außer einer, und die Demonstranten, deren Zahl groß geworden war, fühlten sich in der Falle. Castro und Vernier packten Sartre und Liliane und versteckten sie in einer Ecke, während durch die offen gebliebene Tür eingedrungene C.R.S.-Kräfte wahllos auf alle einschlugen. Castro und Vernier gelang es, Sartre und Liliane hinauszuschaffen; sie ließen sie in Lilianes Auto steigen und setzten sie in einem Café ab. Als sie etwas später zurückkamen, erzählten sie, dass die Auseinandersetzung sehr heftig gewesen sei. Einem jungen Mann war der Schenkel von einem Gitterstab durchbohrt worden. Sartre, den ich am Abend mit Sylvie besuchte, fand diese ganze Geschichte verheerend: Sie konnte die Genossen, auf die schon ein paar Tage zuvor am Ende einer Demonstration brutal eingeschlagen worden war, nur demoralisieren. Am 15. Februar gab er zusammen mit Jean-Luc Godard zu dieser Affäre eine Pressekonferenz, über die die Zeitungen ausführlich berichtet haben. Am 18. Februar zog er sich von der Roten Hilfe zurück, bei der seiner Ansicht nach die Maoisten zu viel Einfluss gewonnen hatten.[10]

Wenige Tage später wurde die Affäre Guiot bekannt: Es handelte sich um einen Gymnasiasten, den man fälschlich beschuldigte, einen Polizisten geschlagen zu haben, und der «in flagranti» verhaftet worden war. Die Gymnasiasten protestierten massiv: Zu Tausenden setzten sie sich auf die Fahrbahn des Quartier Latin, wo eine Unmenge Polizeiwagen standen. Guiot wurde schließlich freigesprochen. Aber in den Straßen von Paris blieb die Atmosphäre geladen: Überall an den Mauern und Wänden sah man große Fotos des verunstalteten Deshayes. Mitte März kam es zu einer außerordentlich schweren Auseinandersetzung zwischen Gauchisten und dem Ordre Nouveau[11]: Viele Polizisten wurden verletzt.

Sartre verfolgte diese Unruhe aufmerksam. Seine Gesundheit schien sehr gut. Er korrigierte die Fahnen von Der Idiot der Familie. Er wohnte allen Sitzungen der Temps Modernes bei, die bei mir stattfanden.

Anfang April sind wir nach Saint-Paul-de-Vence gefahren, Sartre mit Arlette im Zug, ich mit Sylvie im Auto. Das Hotel, in dem wir abgestiegen sind, lag am Rande des Städtchens, das tagsüber von Touristen wimmelte, morgens und abends aber ruhig war, genauso köstlich, wie wir es in Erinnerung hatten. Arlette und Sartre waren in einem Nebengebäude untergebracht. Ich wohnte mit Sylvie in einem Häuschen hinten in einem mit Orangenbäumen bepflanzten Garten. Wir hatten ein großes Zimmer, das auf eine winzig kleine Terrasse hinausging, und einen geräumigen, weiß verputzten Salon mit freiliegenden Balken und schönen Bildern von Calder in lebhaften Farben. Möbliert war er mit einem langen Holztisch, einem Sofa, einem Buffet und ging auf den Garten. Hier verbrachte ich die meisten meiner Abende mit Sartre. Wir tranken Scotch und unterhielten uns. Zu Abend aßen wir etwas Wurst oder eine Tafel Schokolade. Zum Mittagessen dagegen führte ich ihn in gute Restaurants der Umgebung. Manchmal aßen wir alle vier zusammen.

Am ersten Abend hatten wir uns über helle Festbeleuchtungen auf dem Hügel gegenüber von Saint-Paul gewundert: Das waren Treibhäuser, die nachts grell mit elektrischem Licht beleuchtet wurden.

Nachmittags lasen wir oft, jeder in seinem Zimmer. Oder wir machten Ausflüge und besuchten Plätze wieder, die wir geliebt hatten: Unter anderem waren wir glücklich, Cagnes wiederzusehen und das reizende Hotel, in dem wir vor vielen Jahren eine wunderbare Zeit verbracht hatten. An einem Nachmittag sind wir in der Maeght-Galerie gewesen, die wir schon kannten. Dort lief eine Char-Ausstellung. Die Bilder, die man um seine Manuskripte und Bücher herum ausgestellt hatte, waren sehr schön: von Klee, Vieira da Silva, Giacometti und viele von Miró, dessen Werke immer stärker wurden, je älter er wurde.

Am letzten Tag hat Sartre im Hotel ein Aïoli bestellt, das wir mangels Sonne in der «Wärmehalle» gegessen haben, einem hübschen großen Raum mit einem breiten Kamin und einer Bibliothek. Abends ist er im Zug mit Arlette abgereist. Sylvie und ich sind am nächsten Morgen mit dem Auto abgefahren. Sartre ist von seinen Ferien entzückt gewesen.

Er hat sich auch sehr gefreut, als er, wieder in Paris, von Gallimard eine riesige Kiste voller Exemplare von Der Idiot der Familie bekommen hat: 2000 bedruckte Seiten. Er hat mir gesagt, dass ihm das ebenso viel Freude machte wie das Erscheinen von Der Ekel. Es gab gleich sehr begeisterte Rezensionen.

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