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Dies irae

Eine Geschichte des Weltuntergangs

AutorJohannes Fried
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl369 Seiten
ISBN9783406689864
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
'Sacco di Roma', Tambora, 9/11, Tsunami - die Weltgeschichte ist voller Ereignisse, in deren Zusammenhang immer aufs Neue vom drohenden Weltuntergang gesprochen wurde. Endzeitängste sind jedoch ein besonderes Phänomen der abendländischen, christlichen Kultur. Mit diesem Buch liegt erstmals eine umfassende Ideengeschichte der Apokalypse vor. Von den biblischen Propheten bis zu den heutigen Tageszeitungen ist die christliche Kultur geprägt vom Glauben an ein unerbittliches Ende. Johannes Fried spannt den Bogen seiner Erzählung von der vorchristlichen Antike über das Zeitalter der Aufklärung bis hin zur jüngsten Gegenwart. Sowohl Geistesgeschichte wie auch Populärkultur und Wissenschaft bieten eine unerschöpfliche Vielfalt an faszinierenden Beispielen. Es stellt sich heraus, dass sich die Endzeitvisionen nicht mit fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnissen verflüchtigen - vielmehr sind sie tief verwurzelt in unserem unbewussten Weltbild und bis heute aktuell.

Johannes Fried war bis zu seiner Emeritierung Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt. 1995 erhielt er den Preis des Historischen Kollegs (Historikerpreis) und 2006 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Bei C.H.Beck sind von ihm u. a. erschienen: Das Mittelalter (2009), Karl der Große (2014) und Der Schleier der Erinnerung (2012).

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Leseprobe

Einleitung

Weltuntergang. Geschichtstheologische Grundlagen westlich-abendländischer Kultur


Er kam mir entgegen, ein Mann, mitten auf der Straße, leicht schwankend, ein Radfahrer, irgendwie außer sich, wie ein Prophet, laut rufend: … die üblen Krankenhäuser der Apokalypse … Soviel verstand ich, dann war er vorbei. Es geschah am 17. März 2014, abends gegen sechs Uhr. Niemand blieb stehen. Viele hasteten vorbei, Junge und Alte, Frauen und Männer. Es erging ihm wie fast allen Propheten. Niemand hörte ihm zu. Wollte er warnen? Wen? Das Volk? Die Welt? Warum die Krankenhäuser? Warum die Apokalypse? Was hatte der Rufer im Sinn? Eine ekstatische Chiffre für alles Elend dieser Welt, für alles Böse? Welche Visionen plagten ihn?

Gedachte er einer «Apokalypse», einer «Enthüllung», die visionär künftigen Untergang schaute? Oder nahm er, wie es heute viele tun, die «Enthüllung» für die aktuelle oder schon erfolgte Realisierung des Geschauten und Zukünftigen? In der Tat, die Sonne verfinstert sich; Asteroiden gefährden die Erde. Terror breitet sich aus. Wellen von Haß rollen über die Erde, unvorstellbare Grausamkeiten. Seuchen dringen vor, die Erde bebt, das Polareis schmilzt, die Wasser steigen, Hagel zerschlägt die Ernten, die Wüsten wachsen. War es das, was den neuen Propheten trieb? Sah er solche Schrecken? Die Sorge um Gegenwart und Zukunft? Wer ist schuld am Klimawandel, der uns Unwetter über Unwetter, Wüsten über Wüsten beschert? Eine wachsende Menschheit, Krieg und Hunger, Teuerung, Betrug noch und noch, berstende Kernkraftwerke, tödliche Strahlung, die Wirrnisse der Globalisierung: Alles bedroht uns. Angst macht sich breit.

Annähernd 2000 Jahre früher, vier Jahre vor Beginn des «Jüdischen Krieges», zog während des Laubhüttenfests ein anderer Mann von schlichter Herkunft laut rufend durch die Straßen Jerusalems, Jesus, der Sohn eines gewissen Ananias: Wehe über Jerusalem und den Tempel, […] wehe über das ganze Volk. Die Leute blieben stehen, hörten ihm zu, verwunderten sich. Sieben Jahre wiederholte er seine Wehe-Rufe. Der römische Statthalter hielt den Mann für verrückt. Doch der größte Geschichtsschreiber seines Volkes, Flavius Josephus, hielt seine Ekstase für alle Zeit fest. Himmelszeichen wie der Halleysche Komet zeigten die Katastrophe an (66 CE). Da, vier Jahre nach seinem ersten Ruf, begann der Krieg gegen die Römer, und noch einmal vier Jahre später waren Stadt und Tempel zerstört (70 CE). Die Apokalypse war Wirklichkeit geworden, eingebrannt in das Gedächtnis von Juden und frühen Christen.[1]

Propheten damals und heute. Immerzu vorauseilende Schau von schlimmen Übeln. Juden und Christen vertraut. Die Zeiten werden gefährlich. So die von Gott inspirierten Worte eines frühen Christen, der Jerusalems Untergang zwar noch nicht vor Augen hatte, aber vom Endgericht wußte (2Tim 3,1). Mal um Mal, seit zwei Jahrtausenden apokalyptische Warnungen. Sie verhallten seit Jesu Zeiten nicht mehr. Wirklichkeiten scheinen ihnen zu folgen.[2] Auch heutigentags. Manch ein Augenzeuge glaubte, gestützt auf ein Foto, in den Rauch- und Staubwolken, die von einem der einstürzenden Türme des World Trade Centers am 11. September 2001 aufstiegen (s. Farbtafel 16), dem apokalyptischen Vorboten des hereinbrechenden Untergangs, dem Antichrist, in das satanische Angesicht zu blicken (1Joh 2,1823).[3] Verwirklichte sich die apokalyptische Chiffre? Andere bloggten besorgt: Ist Amerika, die USA, die große Hure, das Babel der Apokalypse (Apoc c. 178)? Erfüllt sich nun die Prophezeiung?[4] Dies irae, dies illa, jener Tag, an dem die Erde im Feuer enden soll?[5] Der Jüngste Tag? Müssen wir jetzt vors Jüngste Gericht? Gibt es Rettung? Was sollen wir tun?

Die in der Folge von 9/11 verbreitete Antichrist-Fratze über Manhattan.

Das war im Jahr 2001. Man hat sich beruhigt. Ein Selbstmordattentat, fehlgeleiteter Glaube, Wettlauf der Gewalt, eine optische Täuschung, eine Fälschung, kein Antichrist. Dann: harmlose Sonnenfinsternis, Kometen, nur Flammenwurf, nur Sternenstrich (Gottfried Benn), ein Spiel von Molekülen, von Klimaschwankungen, Erdtektonik, kosmischen Kräften von jeher, von Viren, von Unmoral, von Gier, dazu Massaker am Regenwald. Alles rational erklärbar; kein Weltende in Sicht. Und dennoch: Untergangsangst, geschürt von Endzeitpredigern; der Antichrist «ist schon in der Welt» (1Joh 4,4), die Krankenhäuser der Apokalypse, dazu Kreuzzüge gegen das Böse,[6] Armageddon im Sinn, den Ort, an dem die Dämonen nach apokalyptischer Weisheit am großen Tag des allmächtigen Gottes die Könige der ganzen Erde zur Schlacht versammeln (Apoc 16,146), kollektiver Selbstmord:[7] jüngst verbreitete Botschaften das alles, keine Ausgeburten eines armen Irren, vielmehr alles real in heutiger Gegenwart. Die ganze Welt ein apokalyptisches Krankenhaus.

Dem Untergang sind wir nicht entronnen. Seine Erwartung ist nicht erledigt. Die Menschheit ist nicht von Angst befreit. Das Weltende bleibt präsent, jedenfalls im «Westen». Religionen haben es verbreitet, Priester es abgesegnet, Theologen es legitimiert. Es droht und wühlt im kulturellen Gedächtnis, scheint zum Handeln zu zwingen und führt, so steht zu befürchten, durch Angstreaktionen reale Untergänge herauf. Jede Katastrophe aktualisiert es neu, verschmilzt es mit eigener schicksalhafter Erfahrung. Erst später haben wir überhaupt begriffen, was passiert ist. Man hat gedacht, die Welt wäre untergegangen, so katastrophal sah es aus.[8] Worte einer Touristin aus Europa, die eben, am 26. Dezember 2004, von der Flutkatastrophe im Indischen Ozean verschont worden war. Wie eine Apokalypse sei es gewesen. So wurde fünf Jahre später, im Frühjahr 2009, ein Erdbebenopfer aus L’Aquila zitiert.[9] Fast die nämlichen Worte flossen dem Geschäftsführer des Staatsweingutes Meersburg am Bodensee in den Sinn, nachdem ein katastrophaler Hagelschlag die Weinernte fürs laufende Jahr 2009 zu vernichten drohte: Das hatte schon apokalyptische Züge.[10] Im folgenden Jahr weckte ein Erdbeben in Chile dieselbe Angst: Das ist wie der Weltuntergang, wurde ein Fernsehmoderator zitiert.[11] Im Gebiet der orthodoxen Kirche der gleiche Zungenschlag: Wie bei einem Weltuntergang, so wurde der Regierungschef Serbiens, Aleksandar Vučić, nach dem Jahrhunderthochwasser in Serbien im Mai 2014 zitiert. Was uns widerfährt, geschieht nur einmal in tausend Jahren, nicht hundert, sondern tausend. Bewußte oder unbewußte Erinnerung an die tausend Jahre der Apokalypse des Johannes. Im Angesicht des Entsetzlichen drängten seit jeher Untergangsängste an die Oberfläche der Gegenwarts- und Weltdeutung.[12]

In die Trivialliteratur halten sie Einzug. Ein neuerer Kriminalroman mit Sinn fürs Poetische überhöhte spielerisch die Untergangsmetapher: Es war ein fabelhafter Sommertag […] schon so frühmorgens […] ganz luzid […]. Gestern Abend noch hatte es nach Weltuntergang ausgesehen, schwere tief hängende, drohend schwarze Wolkenungetüme waren den Himmel entlang gerast und hatten es in heftigen Böen wieder und wieder sintflutartig regnen lassen. Wichtigste apokalyptische Stichworte sehen sich in diese Zeilen...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Inhaltsverzeichnis5
Vorwort7
Einleitung: Weltuntergang. Geschichtstheologische Grundlagen westlich-abendländischer Kultur10
1. Glauben und Verkündung41
Apokalyptik und Endzeit dringen ins kulturelle Gedächtnis41
Vom «Tag des Herrn» zum Weltuntergang55
Christliche Eschatologie und der Auftritt des Antichrist63
Die Wandlungsmacht des Untergangs82
2. Aktualisierungen86
Berechnungen86
Frühe Exegeten95
Die Endzeitbotschaft formt die Ethik107
Reformforderungen aus Endzeitsorgen120
Popularisierung und Warnungen127
Utopie und Realisierungen132
3. Ein Jahrtausend Gelehrsamkeit und Untergangserwartung148
Wie war die Botschaft vom Ende zu deuten?148
Irritationen durch die Scholastik155
Der Weltuntergang übersteht die Renaissance171
Der Weltuntergang im Konfessionskonflikt176
4. Das Weltende im Säurebad der Aufklärung192
5. Ahnung, Angst und Wissenschaft heute215
Künstler, Dichter und Komponisten216
Der Untergang geistert durch Literatur und Filme230
Chaos und Angst234
Die Wissenschaft hat den Weltuntergang nicht vergessen249
Visionäre Prognostik258
6. Weltuntergang275
Anmerkungen295
Bibliographie334
Personenregister341
Bildnachweis351
Tafelteil353
Über das Buch369
Über den Autor369

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