Einleitung
Weltuntergang. Geschichtstheologische Grundlagen westlich-abendländischer Kultur
Er kam mir entgegen, ein Mann, mitten auf der Straße, leicht schwankend, ein Radfahrer, irgendwie außer sich, wie ein Prophet, laut rufend: … die üblen Krankenhäuser der Apokalypse … Soviel verstand ich, dann war er vorbei. Es geschah am 17. März 2014, abends gegen sechs Uhr. Niemand blieb stehen. Viele hasteten vorbei, Junge und Alte, Frauen und Männer. Es erging ihm wie fast allen Propheten. Niemand hörte ihm zu. Wollte er warnen? Wen? Das Volk? Die Welt? Warum die Krankenhäuser? Warum die Apokalypse? Was hatte der Rufer im Sinn? Eine ekstatische Chiffre für alles Elend dieser Welt, für alles Böse? Welche Visionen plagten ihn?
Gedachte er einer «Apokalypse», einer «Enthüllung», die visionär künftigen Untergang schaute? Oder nahm er, wie es heute viele tun, die «Enthüllung» für die aktuelle oder schon erfolgte Realisierung des Geschauten und Zukünftigen? In der Tat, die Sonne verfinstert sich; Asteroiden gefährden die Erde. Terror breitet sich aus. Wellen von Haß rollen über die Erde, unvorstellbare Grausamkeiten. Seuchen dringen vor, die Erde bebt, das Polareis schmilzt, die Wasser steigen, Hagel zerschlägt die Ernten, die Wüsten wachsen. War es das, was den neuen Propheten trieb? Sah er solche Schrecken? Die Sorge um Gegenwart und Zukunft? Wer ist schuld am Klimawandel, der uns Unwetter über Unwetter, Wüsten über Wüsten beschert? Eine wachsende Menschheit, Krieg und Hunger, Teuerung, Betrug noch und noch, berstende Kernkraftwerke, tödliche Strahlung, die Wirrnisse der Globalisierung: Alles bedroht uns. Angst macht sich breit.
Annähernd 2000 Jahre früher, vier Jahre vor Beginn des «Jüdischen Krieges», zog während des Laubhüttenfests ein anderer Mann von schlichter Herkunft laut rufend durch die Straßen Jerusalems, Jesus, der Sohn eines gewissen Ananias: Wehe über Jerusalem und den Tempel, […] wehe über das ganze Volk. Die Leute blieben stehen, hörten ihm zu, verwunderten sich. Sieben Jahre wiederholte er seine Wehe-Rufe. Der römische Statthalter hielt den Mann für verrückt. Doch der größte Geschichtsschreiber seines Volkes, Flavius Josephus, hielt seine Ekstase für alle Zeit fest. Himmelszeichen wie der Halleysche Komet zeigten die Katastrophe an (66 CE). Da, vier Jahre nach seinem ersten Ruf, begann der Krieg gegen die Römer, und noch einmal vier Jahre später waren Stadt und Tempel zerstört (70 CE). Die Apokalypse war Wirklichkeit geworden, eingebrannt in das Gedächtnis von Juden und frühen Christen.[1]
Propheten damals und heute. Immerzu vorauseilende Schau von schlimmen Übeln. Juden und Christen vertraut. Die Zeiten werden gefährlich. So die von Gott inspirierten Worte eines frühen Christen, der Jerusalems Untergang zwar noch nicht vor Augen hatte, aber vom Endgericht wußte (2Tim 3,1). Mal um Mal, seit zwei Jahrtausenden apokalyptische Warnungen. Sie verhallten seit Jesu Zeiten nicht mehr. Wirklichkeiten scheinen ihnen zu folgen.[2] Auch heutigentags. Manch ein Augenzeuge glaubte, gestützt auf ein Foto, in den Rauch- und Staubwolken, die von einem der einstürzenden Türme des World Trade Centers am 11. September 2001 aufstiegen (s. Farbtafel 16), dem apokalyptischen Vorboten des hereinbrechenden Untergangs, dem Antichrist, in das satanische Angesicht zu blicken (1Joh 2,18–23).[3] Verwirklichte sich die apokalyptische Chiffre? Andere bloggten besorgt: Ist Amerika, die USA, die große Hure, das Babel der Apokalypse (Apoc c. 17–8)? Erfüllt sich nun die Prophezeiung?[4] Dies irae, dies illa, jener Tag, an dem die Erde im Feuer enden soll?[5] Der Jüngste Tag? Müssen wir jetzt vors Jüngste Gericht? Gibt es Rettung? Was sollen wir tun?
Die in der Folge von 9/11 verbreitete Antichrist-Fratze über Manhattan.
Das war im Jahr 2001. Man hat sich beruhigt. Ein Selbstmordattentat, fehlgeleiteter Glaube, Wettlauf der Gewalt, eine optische Täuschung, eine Fälschung, kein Antichrist. Dann: harmlose Sonnenfinsternis, Kometen, nur Flammenwurf, nur Sternenstrich (Gottfried Benn), ein Spiel von Molekülen, von Klimaschwankungen, Erdtektonik, kosmischen Kräften von jeher, von Viren, von Unmoral, von Gier, dazu Massaker am Regenwald. Alles rational erklärbar; kein Weltende in Sicht. Und dennoch: Untergangsangst, geschürt von Endzeitpredigern; der Antichrist «ist schon in der Welt» (1Joh 4,4), die Krankenhäuser der Apokalypse, dazu Kreuzzüge gegen das Böse,[6] Armageddon im Sinn, den Ort, an dem die Dämonen nach apokalyptischer Weisheit am großen Tag des allmächtigen Gottes die Könige der ganzen Erde zur Schlacht versammeln (Apoc 16,14–6), kollektiver Selbstmord:[7] jüngst verbreitete Botschaften das alles, keine Ausgeburten eines armen Irren, vielmehr alles real in heutiger Gegenwart. Die ganze Welt ein apokalyptisches Krankenhaus.
Dem Untergang sind wir nicht entronnen. Seine Erwartung ist nicht erledigt. Die Menschheit ist nicht von Angst befreit. Das Weltende bleibt präsent, jedenfalls im «Westen». Religionen haben es verbreitet, Priester es abgesegnet, Theologen es legitimiert. Es droht und wühlt im kulturellen Gedächtnis, scheint zum Handeln zu zwingen und führt, so steht zu befürchten, durch Angstreaktionen reale Untergänge herauf. Jede Katastrophe aktualisiert es neu, verschmilzt es mit eigener schicksalhafter Erfahrung. Erst später haben wir überhaupt begriffen, was passiert ist. Man hat gedacht, die Welt wäre untergegangen, so katastrophal sah es aus.[8] Worte einer Touristin aus Europa, die eben, am 26. Dezember 2004, von der Flutkatastrophe im Indischen Ozean verschont worden war. Wie eine Apokalypse sei es gewesen. So wurde fünf Jahre später, im Frühjahr 2009, ein Erdbebenopfer aus L’Aquila zitiert.[9] Fast die nämlichen Worte flossen dem Geschäftsführer des Staatsweingutes Meersburg am Bodensee in den Sinn, nachdem ein katastrophaler Hagelschlag die Weinernte fürs laufende Jahr 2009 zu vernichten drohte: Das hatte schon apokalyptische Züge.[10] Im folgenden Jahr weckte ein Erdbeben in Chile dieselbe Angst: Das ist wie der Weltuntergang, wurde ein Fernsehmoderator zitiert.[11] Im Gebiet der orthodoxen Kirche der gleiche Zungenschlag: Wie bei einem Weltuntergang, so wurde der Regierungschef Serbiens, Aleksandar Vučić, nach dem Jahrhunderthochwasser in Serbien im Mai 2014 zitiert. Was uns widerfährt, geschieht nur einmal in tausend Jahren, nicht hundert, sondern tausend. Bewußte oder unbewußte Erinnerung an die tausend Jahre der Apokalypse des Johannes. Im Angesicht des Entsetzlichen drängten seit jeher Untergangsängste an die Oberfläche der Gegenwarts- und Weltdeutung.[12]
In die Trivialliteratur halten sie Einzug. Ein neuerer Kriminalroman mit Sinn fürs Poetische überhöhte spielerisch die Untergangsmetapher: Es war ein fabelhafter Sommertag […] schon so frühmorgens […] ganz luzid […]. Gestern Abend noch hatte es nach Weltuntergang ausgesehen, schwere tief hängende, drohend schwarze Wolkenungetüme waren den Himmel entlang gerast und hatten es in heftigen Böen wieder und wieder sintflutartig regnen lassen. Wichtigste apokalyptische Stichworte sehen sich in diese Zeilen...