Die Kunst, das zu zerstören, was glücklich macht
Alle narzisstischen Eltern vereint eine Gefühlsregung, die ihre psychische Verfassung wesentlich bestimmt: Eifersucht auf das Glück ihrer Kinder. Diese Eifersucht kommt auf überraschende, ungewöhnlich heftige, irrationale oder andere Weise zum Ausdruck. Im Folgenden wollen wir betrachten, wie diese Form der Sabotage das Alltagsleben der Betroffenen und ihres Umfelds beeinflussen kann.
Negative Wellen
Wer unter einer narzisstischen Persönlichkeit leidet, berichtet einhellig von einem Phänomen, das häufig zu beobachten, aber wissenschaftlich noch nicht erklärt ist: negative Wellen. Allein durch die Anwesenheit einer manipulativen Person fühlen sich alle anderen befangen und in ihrer Freiheit eingeschränkt. Manche Menschen bemerken dies früher, andere später. Manche spüren diese Ausstrahlung schon in den ersten Sekunden der Bekanntschaft mit dem anderen, obwohl sie ihm unvoreingenommen begegnen.
Um welche Art »Wellen« handelt es sich? Elektrische Wellen? Magnetische? Wellen aus einer anderen Dimension? Ausdünstungen chemischer Substanzen? Was verschafft uns die Gewissheit, dass wir es hier mit negativen Wellen zu tun haben – so wie wir bei anderen Menschen auf Anhieb erkennen, dass sie mitfühlend oder warmherzig sind? Es bleibt ein Geheimnis, weshalb unbekannte Menschen bei uns solche Empfindungen auslösen können.
Wenn die innere Dynamik einer Familie durch die negativen Wellen eines Familienmitglieds blockiert ist, kann dies auch in der Gesamtheit der Verhaltensweisen und negativen Äußerungen begründet sein. Wiederholt gemachte Erfahrungen und unangenehme Gefühle führen zu konditioniertem Verhalten, dessen wir uns oft nicht bewusst sind.
Will man sich dem Einfluss einer manipulativen Persönlichkeit entziehen, so muss man sich als Erstes unbedingt der eigenen Empfindungen sowie des eigenen Unwohlseins bewusst werden. Empfindungen können sich auch im Körper manifestieren. Ein Gefühl resultiert aus einer inneren Regung und ist das Ergebnis eines Bewusstseinsvorgangs. Indem wir uns einer Situation bewusst werden, wird die innere Regung in ein Gefühl umgewandelt. Der Satz »Ich fühle mich lächerlich« bringt ein Gefühl zum Ausdruck. Er zeugt von einem Bewusstseinsvorgang und gründet auf einer inneren Regung, wie etwa Scham oder einem Schuldgefühl. Ein Kloß im Hals, ein Stechen im Magen oder zusammengebissene Zähne sind Empfindungen.
Bis zum Beginn des Erwachsenenalters haben Kinder Schwierigkeiten, ihre Empfindungen und Gefühle zu benennen. Es fällt ihnen schwer, auf die Frage »Wie geht es dir?« eine präzise Antwort zu geben. Sie antworten gar nicht, äußern sich vage (»schlecht«), sagen das, von dem sie glauben, der Erwachsene erwarte es von ihnen (»gut«), sagen das, was ihnen durch den Kopf geht, was aber meist kein Gefühl ist, sondern eher ein Gedanke (»Mein Vater sagt dauernd, er fasst es nicht, dass sein Sohn so dumm sein kann«), oder sie liefern einen Tatsachenbericht, der frei von allen Gefühlen ist. Als Erwachsene dagegen verfügen sie über das entsprechende Vokabular, um die Gefühle von früher zu beschreiben, auch wenn die damit verbundenen Ereignisse Jahrzehnte zurückliegen. Empfindungen sind von kurzer Dauer (außer bei chronisch gewordenen Symptomen), und als Erwachsener kann man sich nicht immer an alle Erscheinungsformen und die betroffenen Körperstellen erinnern. Doch das Gedächtnis für Gefühle und Ereignisse interessiert uns hier erst in zweiter Linie.
Tatiana berichtet von ihren Gefühlen gegenüber ihrem Vater:
»Ich habe immer, auch schon als kleines Kind (im Alter von zwei Jahren), eine Distanz zwischen uns verspürt, gepaart mit Angst, als wüsste ich, dass dieser Mensch nicht normal ist.«
Es liegt auf der Hand, dass man sich in Gegenwart eines Elternteils, den man schon so früh als »nicht normal« wahrgenommen hat, kaum unbeschwert fühlen kann.
Anders als in anderen sozialen Gefügen sehen sich die Familienangehörigen eines Manipulierers durch Beobachtung und laufend wiederkehrende Erfahrungen in ihren instinktiven Ahnungen bestätigt.
Tatiana fährt fort:
»Ich habe bei meinem Vater nie positive Energie gespürt. Wenn er da war, herrschte immer eine gedrückte Atmosphäre. Meine Mutter und ich fühlten uns wie Gefangene: Wir mussten uns ruhig verhalten und uns ihm anpassen. Er hat uns nie gefragt, ob wir auch auf das Lust hatten, worauf er Lust hatte. Ich habe in seiner Gegenwart immer eine Art Überdruss und eine gewisse Erschöpfung verspürt.
Mit anderen Worten: Ich hatte in seiner Gegenwart nur negative Emotionen. Andauernd mussten wir darauf achten, was wir taten, damit er sich nicht aufregte. Ich fühlte mich unter Druck. Seine Gegenwart zermürbte mich … Ich war erleichtert, wenn er wegging, und fühlte mich wieder wie unter Aufsicht, wenn er zurückkam. Ich war auch oft traurig.«
All dies kann ein Kind empfinden, auch wenn es das in seinem Alter noch nicht in Worte fassen kann.
Familienfeste unter Hochspannung
Mit einem Manipulierer in der Familie wird Weihnachten zum Albtraum. Die Atmosphäre ist angespannt. Alle achten auf ihre Worte und ihr Verhalten, um keine negativen Emotionen auszulösen. Diese Selbstkontrolle bringt jedoch nur wenig, denn auf diese Weise fühlt sich niemand bei diesem Fest wohl oder behält es in guter Erinnerung. Und jedes Jahr wird die Angst umso größer, je näher das Fest kommt, sodass manche Kinder, wenn sie erwachsen geworden sind, Strategien entwickeln, um sich gänzlich zu entziehen.
Denis schützt sich inzwischen vor dem, was am Weihnachtsabend geschieht:
»Meine Mutter behauptet, dass sie an Weihnachten gern ihre Familie um sich hat, aber wenn ich am Heiligen Abend bei ihr bin, weint sie jedes Mal (etwa wenn ich sie, ohne ihr Vorwürfe zu machen, daran erinnere, dass ich keine Gänsestopfleber mag). Und jedes Mal habe ich das Gefühl, als sei ich oder irgendetwas an meiner Person der Grund für ihre Tränen. Dabei verhält sie sich immer so, unabhängig davon, was ich tue oder sage! Ich vermute, ich erinnere sie an meinen Vater, der Festlichkeiten unerträglich fand und an Weihnachten immer niedergeschlagen war. Sie hat ja auch schon vor seinem Tod jedes Mal an Heiligabend geweint, ohne mein Zutun. Also war wahrscheinlich das Verhalten meines Vaters der Grund dafür, dass sie später immer noch geweint hat.
Weil ich mich schuldig fühle, fahre ich aus weiser Voraussicht seit einigen Jahren an Weihnachten nicht mehr zu meiner Mutter. So gehe ich ihrem tränenreichen Auftritt aus dem Weg.«
Menschen ohne manipulative Eltern wundern sich wahrscheinlich darüber, dass es Familien gibt, in denen sich nicht alle darum bemühen, diesen besonderen Tag zu einem harmonischen Erlebnis zu machen. Die Kinder und der Ehepartner einer manipulativen Person bemühen sich aber sehr wohl. Sie versuchen alles, und das oft über Jahrzehnte hinweg. Dabei müssen sie feststellen, dass sich alle Mühe geben, der Manipulierer jedoch nur einige Stunden lang. Drei Stunden? Vier? Früher oder später wird ein kleiner oder sogar völlig unbedeutender Vorfall bei ihm eine unangemessene Emotion oder eine provozierende Aussage auslösen. Und wenn das um 16 Uhr noch nicht geschehen ist, braucht man nur bis 19 Uhr zu warten …
Kommen wir noch einmal auf das Beispiel von Denis zurück: Seltsamerweise vergessen manipulative Eltern häufig, welche Gerichte ihre Kinder nicht mögen, obwohl sie es doch seit Jahrzehnten wissen müssten. Immerhin sind es die eigenen Kinder! Dieses Vergessen kann einen der oben erwähnten unbedeutenden Vorfälle darstellen.
Manchmal haben Betroffene auch im Erwachsenenalter, nach 40 und mehr Weihnachtsfesten, noch Schwierigkeiten, die paradoxe Wirklichkeit dieses Festes anzuerkennen, das – unausweichlich, wenn ein Manipulierer in der Familie ist – von Zwist, Leiden, Langeweile, Spannungen, Verlogenheit und Unfrieden geprägt ist. Im Glauben, dem berüchtigten Heiligen Abend den Charakter einer unvermeidlichen Katastrophe zu nehmen, greifen die anderen Familienmitglieder bewusst oder unbewusst jedes Jahr wieder zu Versöhnungsstrategien, um den manipulativen Elternteil nicht zu »provozieren«. Sie bringen ausgesuchte Lebensmittel von bester Qualität mit, sie kommen pünktlich und haben sich schick gemacht, alle sind zu Scherzen aufgelegt und lachen, die Stimmung ist ungezwungen, man vermeidet kritische Themen und die Gespräche bleiben zwar oberflächlich, sind aber durchaus fröhlich. Diese subtilen Strategien verringern die Wahrscheinlichkeit, dass der Vulkan ausbricht, dass Tränen fließen oder ein Donnerwetter niedergeht, und sie sind mehr oder weniger erfolgreich. Die meisten Familienmitglieder wahren so zumindest die Form. Wenn der Tag dann allem Anschein nach gut verläuft, trägt das ausgetüftelte versöhnliche Verhalten sicher seinen Teil dazu bei. Aber kann das nicht auch daran liegen, dass nicht alle den ganzen Tag bleiben? Wie Denis gehen manche so weit, Weihnachten nicht mehr mit der Familie zu feiern.
Françoise, deren Eltern beide manipulativ sind, berichtet dazu:
»Letztes Jahr habe ich beschlossen, dass es in unserer Familie keine verlogenen Zusammenkünfte mehr geben wird. Die Stimmung zwischen meiner Mutter und meiner Schwester war ohnehin schon zum Zerreißen gespannt. Mein Mann und ich hatten wegen der Kinder entschieden, zu meiner Schwester zu fahren. Aber der Abend war entsetzlich. Wir hatten uns einige Monate lang nicht gesehen, die Atmosphäre war kühl, niemand zeigte Interesse an den anderen. Die Gespräche waren kurz, alle...