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E-Book

So viel Anfang war nie

Notizen aus der ostdeutschen Provinz

AutorChristhard Läpple
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641186425
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Nennen wir es 'Herzdorf', dieses kleine reale Dorf in der Nähe von Berlin, das eigentlich jedes Dorf sein könnte. Ein Mikrokosmos menschlicher Befindlichkeiten, über die Jahrhunderte gewachsen in seinen Strukturen und dem sozialen Gefüge. Den historischen Widrigkeiten haben seine Einwohner ebenso die Stirn geboten wie den Herausforderungen des Alltags. Was hat das Dorf nicht alles gesehen? Die Schrecken der Kriege, Flüchtlingstrecks, LPGs - und schließlich die Wiedervereinigung. Kreative und Glücksritter. Gewinner und Verlierer. Pessimisten und Visionäre. Alteingesessene und Berliner Großstadtmenschen, die in der unberührten Natur ihr Glück bei der Ansaat von Biogemüse suchen. Theaterleute, die Freiräume mit Kulturprojekten aufladen wollen. Landschaftsarchitekten, die das Dorf neu erfinden. So viel Anfang war nie! So viel Hoffnung, so viele Erwartungen, so viele Wünsche. Doch das Dorf bleibt das Dorf - hier herrschen eigene Gesetzmäßigkeiten. Wie unter dem Brennglas werden die Triebfedern urmenschlicher Verhaltensweisen sichtbar - Leidenschaft, Eifersucht, Ängste und Tatendrang. Und auf einmal entbrennt selbst im kleinsten Dorf ein Drama von unvorhergesehener Größe ...

Christhard Läpple, 1958 geboren, hat Publizistik, Politik und Geschichte studiert. Seit Mitte der achtziger Jahre in vielen verschiedenen und leitenden Positionen beim ZDF. Unter anderem als stellvertretender Redaktionsleiter von »Kennzeichen D«, als Moderator des »Blauen Sofas« auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig (2002-2015) und Leiter des Kulturmagazins »aspekte« (2011-2013). 2008 erschien das vielbeachtete Sachbuch 'Verrat verjährt nicht - Lebensgeschichten aus einem geteilten Land'. Er wohnt in Berlin und Brandenburg.

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Leseprobe

Es war im Frühjahr 1990, und das kleine Land DDR war gerade im Begriff, der Auflösung entgegenzueilen.

»Los. Komm schon!« Fritz konnte seinen großen Bruder kaum ertragen. Er nervte. Ja, doch! Ich komme, machte er sich Mut. Der Junge kletterte weiter, tastete sich im dunklen Turm nach oben. Durch die Öffnungen blies der Wind.

»Halt dich fest!«

Von oben kannst du die ganze Welt sehen, hatte der Große versprochen.

»Du traust dich doch?«

Der dreijährige Fritz zögerte einen Moment, überwand seine Angst. Er starrte nach oben zur Turmspitze. Es roch nach verfaultem Holz. Er griff nach der nächsten Planke, die auf dem Gebälk lag. Das lose Brett wackelte, gab nach. Der Junge verlor den Halt – und stürzte in die Tiefe. Er hatte nicht einmal Zeit zu schreien.

Ein Aufprall. Dann war es still. Wie ein Engel im Tiefschlaf lag Fritz im Staub des Treppenabsatzes. Den Rücken merkwürdig verdreht, regungslos im dunklen Ruinenturm.

Der Große kletterte die Stufen hinunter. Ist er tot? Sein Herz pochte. Als er sich über seinen Bruder beugte, sah er, dass dieser sich nicht mehr rührte und seine Augen geschlossen waren. Er schrie aus Leibeskräften.

Arno Walter war auf dem Nachhauseweg. In Gedanken ließ er seine erste Sitzung Revue passieren. Es war ganz gut gelaufen. Seit er Bürgermeister im brandenburgischen Herzdorf war, hatte sich für den Mittfünfziger vieles geändert. Nun stand er an der Spitze seines Dorfes, das viele nur »das letzte Loch vor der Hölle« nannten. Plötzlich hörte er Hilferufe aus der Kirchenruine, sie kamen aus dem Turm.

»Mein Bruder«, schrie ein verstörter Junge. »Er will nicht mehr aufstehen. Der liegt hier unten und ist platt. Der ist runtergefallen.«

Walter verfluchte die Bengels, die Kirche und befürchtete das Schlimmste. Hatte nicht vor kurzem noch der LPG-Chef empfohlen, den ganzen Steinhaufen wegzuschieben, um endlich Platz für die Straße zu schaffen?

Der Bürgermeister kroch in den Turmeingang. Wie tot lag der kleine Junge da. »Ich habe das Kind geschnappt, in Richtung Gemeindebüro, zu meiner Tochter.« Der Junge atmete ganz flach. Auf den ersten Blick waren keine Verletzungen zu erkennen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Notarzt aus der Kreisstadt kam. Aus Minuten wurden gefühlte Stunden. Im Gemeindeamt war man sich unterdessen rasch einig. Seit der Wende klappte nichts mehr. Alles war Auflösung, Unordnung und Chaos. Der Bürgermeister, die Gemeindesekretärin und die hinzugerufene Gemeindeschwester schauten sich bange an: Kommt der Junge durch?

Der gefallene Engel gehörte zu den Baders. Jeder kannte sie. Keiner mochte sie im Dorf. Der Vater ein notorischer Trinker, die Mutter auf Stütze. Sie hatten mindestens sieben Kinder. Andere im Dorf behaupteten zehn, zwölf oder noch mehr, je nach Anzahl der Lokalrunden im Hirsch, der Dorfkneipe im Gutshaus. Ein Stammgast: »Sie war eine Gebärmaschine. Hatte fünfzehn Kinder. Die haben vom Staat gelebt. Das gab’s auch schon zu Ostzeiten. Fünf Mark vom Staat pro Kegel. Da kam man gerade so hin.«

Der Junge lag in Decken gehüllt im Gemeindebüro. Regungslos. Nach einer quälend langen Stunde trafen Rettungssanitäter aus der Stadt ein, hoben den Kleinen behutsam auf die Trage und rasten mit Blaulicht ins Krankenhaus. »Glücklicherweise haben sie das Kind gerettet, trotz doppeltem Schädelbasisbruch. Es ist durchgekommen.« Arno Walter atmet tief durch. Dann schaut mich der stattliche Mann mit dem akkuraten Facon-Schnitt entschlossen an. »Jetzt stand die Frage: Was soll mit der Kirche werden?«

Dass der Junge den Sturz überlebt hatte, war ein kleines Wunder. Für Arno Walter war es mehr. Ein Zeichen, ein Wink, ein ganz persönlicher Auftrag zu handeln. Jetzt sollte, nein, jetzt musste in seinem Dorf endlich etwas mit der alten Gutskirche geschehen, die seit Jahrzehnten nur noch ein trauriger Schutthaufen war. Für den Abriss fehlte das Geld. Deshalb war die Kirche aus dem neunzehnten Jahrhundert stehen geblieben, trotz Abrissgenehmigung. Zuletzt war die Wende dazwischengekommen. Seit langem spielten Kinder in der Ruine. Sie kletterten durch die mit Brettern notdürftig vernagelte Tür. Die Kirche war ihr Spielplatz.

Arno Walter, der frühere Vorarbeiter in der LPG »Justus Liebig«, einst zuständig für Schweinezucht, und neuer CDU-Bürgermeister, ballt seine kräftigen Bauernhände zur Faust. Sein Blick sagt: Ich musste handeln. Die Zeit war reif. Also ließ er alle Eingänge zur Kirche zumauern und begab sich auf die Suche nach einem Retter.

Liebe auf den ersten Blick

Es war das Jahr 1991. Die Einheit war nicht einmal ein Jahr alt. Der BMW 750i schnurrte über die Betonpiste, deren Fugen den Rhythmus vorgaben. Tam-Tam, Tam-Tam. Es war eine Zeitreise zurück in die fünfziger Jahre, kurz nach Ende des Krieges. Hans Blumental steuerte lässig seine Limousine durch den Wochenendverkehr, folgte bläulich qualmenden Zweitaktern der Marke Trabant und trommelte mit den Fingern im Takt der Brandenburgischen Konzerte auf das Lenkrad. Er strich durch sein silbernes Haar und fühlte sich wie neugeboren. Blumental drehte Bach ein wenig leiser, betrachtete seine Frau, die neben ihm saß, schaute wieder nach vorne. Er staunte, wie anziehend die spröde Landschaft auf ihn wirkte. Merkwürdig, hatte er doch in seinem Leben so viele Länder gesehen, die spektakulärer und atemberaubender waren. Er hatte hohe Berge bestiegen, weite Steppen durchquert und einsame Inseln entdeckt. Er fühlte sich in Städten wie London, New York, Riad, Osaka oder Shanghai zuhause.

Als Landschaftsarchitekt neigte er dazu, jede Landschaft, die er bereiste, und war sie noch so fremd, in wenigen Sekunden räumlich zu erfassen und auf ihre Gestaltbarkeit zu überprüfen. Was er im Wende-Land gesehen hatte, berührte ihn auf eigenartige Weise. Es fiel ihm das Wort Kindheitsmuster ein. Ja genau, das war doch der Titel eines bekannten Romans aus dem Osten. Wie hieß der Autor noch? Oder war das eine Autorin? Hans Blumental konnte sich Namen schlecht merken, verfluchte seine Vergesslichkeit. Vielleicht muss das so sein, wenn man Mitte fünfzig ist.

Er fühlte sich in unbeschwerte Jugendzeiten zurückversetzt, als seine westfälische Heimat noch nicht mit Tankstellen, Supermärkten und Reihenhäusern zugepflastert war. Die Gegend war flach wie eine Scheibe, sie wirkte bescheiden, nur unterbrochen durch Fähnchentupfer, die gebrauchte Westautos oder Videotheken anpriesen. An manchen Straßenrändern standen Wohnmobile, in denen Damen ihre Dienste feilboten.

Seine ersten Kontakte mit den Einheimischen waren bizarr. Wie ein Alien kam er sich vor. Als er in einem Dorf aus seiner Limousine stieg, um alte Gebäude zu fotografieren, pöbelte ihn ein Mann an: »Für Leute wie Sie gibt es nur eine Lösung: Genickschuss.« Er staunte nicht schlecht über verkommene Dörfer, misstrauische Menschen, fehlende Telefonverbindungen, schreckliches Essen und den lächerlichen Kampf ums Bestellen bei unwilligen Bedienungen.

Blumental, offen und von froher Natur, begriff, dass die Menschen in diesem Teil des Landes zuerst von »unser« und »ihr« sprachen. Sie fühlten sich überrollt, so klagten sie. Er spürte, wie sie »die da« dachten, die sie für eine neue Besatzungsmacht hielten: reich und arrogant. Die Westdeutschen galten als die neuen Russen. Das frisch vereinte Land hatte im Grunde nur eines gemein: die Währung.

Blumental hatte eine längst verschüttet geglaubte Abenteuersehnsucht erfasst. Es war wie ein Fieber. Hier lockte eine noch nie da gewesene Herausforderung. Landschaft planen, gestalten und entwickeln. Als Pionier im Wilden Osten! Blumental lächelte leise in sich hinein. Er konnte seinem eingefahrenen Mittelstandsleben noch einmal einen Kick verpassen. Das stimmte ihn ausgesprochen heiter. Dieses Geschenk mussten ihm die Götter überreicht haben. Hier wollte er bleiben. Eine Kirche retten, ein Dorf, eine Region. Wann böte sich ihm noch einmal eine solche Chance? Höchstens alle hundert Jahre, davon war er überzeugt.

An diesem Vormittag wollte er ein winziges Dorf namens Herzdorf ansteuern, ein Stück weit entfernt vom bezaubernd-betörenden Rheinsberg. Diese preußische Residenz mit Schloss, Oper und malerischen Seen kannte der Architekt aus Filmen und Büchern. Dort hatte der junge Fritz seine schönsten Stunden verbracht und der große Dichter Kurt Tucholsky das unbeschwerte Glück einer Wochenendliebe erlebt. Auch Neuruppin war ihm geläufig, die Preußischste aller Garnisonsstädte mit Sperrstunde, Drill, rechten Winkeln und überdimensionierten Aufmarschplätzen. Das Landstädtchen hatte zwei berühmte Söhne hervorgebracht, die Blumental faszinierten: Der eine zog in die Welt hinaus, um ein weltberühmter Architekt zu werden, der andere zog im Lande umher und schrieb sich zum nationalen Heimatdichter hoch. Beide, Karl Friedrich Schinkel und Theodor Fontane, hatten sich nie kennengelernt, aber eines gemeinsam: Sie verließen so bald wie möglich ihre Vaterstadt, in der »die unregelmäßigen Verben am Jungengymnasium« das einzig Aufregende waren, wie Fontane erwähnte. Zu eng waren den beiden die Menschen, in diesem weiten Land. Herzdorf lag im Nirgendwo, jahrzehntelang von der Landkarte verschwunden durch Eisernen Vorhang, lästige Passkontrollen und aufmerksame Volkspolizisten, die ihre sozialistische Heimat zuverlässig unter Verschluss hielten.

Blumental glitt mit seinem BMW über die Chaussee hinweg, im gleichmäßigen Tam-Tam der notdürftig geflickten Betonplatten. War diese Landstraße aus der Zeit des Dritten...

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