2. Tag:
»Was ist so schön an der Musik, wenn nicht die Wahrheit?«
Musik machen
HOLGER NOLTZE: Heute möchte ich mit Ihnen über Kammermusik sprechen, vor allem über das Spielen im Trio …
MENAHEM PRESSLER: … in dem man ja ungefähr wie in einem Streichquartett spielen muss. Man muss schauen, wie das Thema geht, wo das erste ist und wo das zweite. Und wie geht es weiter – wer trägt die Melodie, wen muss man unterstützen, was ist der Part der zweiten Geige, oder was ist der Part des Cellos oder des Klaviers? In einem Trio ist der Pianist natürlich Primus inter Pares. Er muss gleich hoch geschätzt werden, er muss genauso geschätzt sein wie der Cellist und der Geiger. Aber wenn man sich die Trio-Literatur anguckt, ist das Klavier meist der Primus. Es nimmt dann Verantwortung und Aufsicht auf sich, die sonst nicht so einfach zuzuweisen sind. Die erste Frage ist: Wie spielst du das Thema? Du musst es doch so spielen, dass die anderen es auch spielen können. Das bedingt zuerst, dass der Anschlag nicht auf die Weise piano ist, wie meist üblich. Das heißt, die Taste runterdrücken, und der Klang kommt sofort. Die Geige und das Cello, wenn die anlegen und spielen, kommt der Ton nicht sofort, darf er ja auch nicht. Sie versuchen den Bogen so zu führen, dass er nicht anfängt mit so einem Kratzen, krcht, im Ansatz. Das mit dem Klavier zu erreichen ist furchtbar schwer. Aber es ist mir immer gelungen – also schon von Anfang an, ich weiß nicht, warum, es war da. Auf diese Dinge zu hören ist das Allerwesentlichste. Überhaupt, natürlich: Zuhören.
HOLGER NOLTZE: Sie gucken aber auch viel.
MENAHEM PRESSLER: Ja, ich hab enorm auf die anderen geschaut. Enorm. Vielleicht zu viel, ich weiß nicht. Greenhouse saß immer mit dem Rücken zu mir, aber er konnte den Kopf so leicht wenden, dass ich seine Augen sehen konnte und er meine. Sodass ich sehen konnte, was er tut. Und er saß doch an der Ecke, wo das Klavier am lautesten ist. Das Klavier dann so zu behandeln, dass er von der Lautstärke des Klaviers nicht überrollt wurde, das ist mir gelungen.
Als ich das erste Trio hatte, in Israel, mit dem Sohn von Golda Meir, da habe ich darauf noch überhaupt nicht geachtet, das spielte gar keine Rolle.
HOLGER NOLTZE: Also, dass das Wichtige bei der Kammermusik und natürlich beim Klaviertrio die Kommunikation ist, leuchtet sofort ein, aber vielleicht können Sie uns noch ein bisschen darüber verraten, wie Sie das gemacht haben? Gucken ist ja das eine, aber es gibt ja unendlich viel mehr zwischen den Akteuren, als wir im Publikum sehen können.
MENAHEM PRESSLER: Was wichtig ist: Wenn der Cellist oder der Geiger in ihrer Interpretation die Zeit verlängern, einfach länger oder kürzer werden, weil sie das Thema kreieren, und das mit ihrem Instrument gut geht, dass ich dann verstehen musste, dass der Ton von ihnen anders kommt, als wenn du mit dem Finger die Taste drückst. Das hab ich verstanden, und dann habe ich diese Zeit eben flexibel behandelt.
HOLGER NOLTZE: Sie reagieren da auf die anderen, Primus hin oder her?
MENAHEM PRESSLER: Immer!
HOLGER NOLTZE: Müssen die anderen auch auf Sie reagieren, weil etwa Sie schneller werden?
MENAHEM PRESSLER: Immer. Immer! Manchmal war ich ja auch langsamer. Es gibt diese berühmte Geschichte mit dem Klaviertrio von Ravel. Wir lernten es, und Guilet kam ja vom Calvet-Quartett, die hatten es mit Ravel selbst gespielt, sind mit ihm gereist, waren auf Tournee. Ravel hatte das Metronom angegeben, aber es war mir zu schnell. Ich konnte es so nicht spielen … Das Tempo hat mir das Stück weggenommen. Als ich das sagte, meinten die beiden: »Bist du wahnsinnig geworden? Wir haben Ravels Metronom, und du willst uns sagen, du nimmst dein anderes Tempo?« – Da hab ich ihnen gesagt: »Ihr müsst das verstehen, in diesem Tempo kann ich den Inhalt nicht finden!« Die beiden waren gar nicht einverstanden und haben weiter darauf gedrungen, dass wir uns an das Metronom von Ravel halten.
Und dann mit einem Mal erzählte Guilet mir eine Geschichte, wie das Calvet-Quartett Ravel sein Quartett vorspielte und wie Ravel beim letzten Satz meinte, warum sie das denn so schnell spielten. Und Calvet antwortete: »Maestro, das ist Ihr Metronom.« Hmmm. Und Ravel fragte dann, ob sie ein bestimmtes Quartett kennen würden. »Wie die den letzten Satz spielen, das habe ich gerne!« Und die haben es langsamer gespielt. Als ich das gehört hab, gab mir das recht. Und dann haben wir es langsamer gespielt, wie ich es spielen konnte!
HOLGER NOLTZE: Wie war das im ersten Beaux Arts Trio? Da waren Sie der junge, neben Guilet, der mehr als zwanzig Jahre älter war.
MENAHEM PRESSLER: Das mit Guilet war für mich das erste wirklich seriöse Trio, und es war eine Art von Offenbarung. Ja. Da musste gleich alles stimmen: das Zusammenspiel; das Verständnis, was die Phrase ist; das Verstehen, wo der Hauptpunkt in der Phrase liegt. Er hat mich oft gekränkt, aber ich war nie beleidigt. Denn er sagte mir Sachen, die mir enorm wichtig wurden. Wie etwas klingen kann. Und wie er mir Schönheit zeigte. Ich selbst war überrascht, dass ich das dann konnte und dass ich ihn verstand.
HOLGER NOLTZE: War der Grund für diese Autorität, dass Guilet Toscaninis Konzertmeister gewesen war?
MENAHEM PRESSLER: Nein. Natürlich war er eine Autorität. Aber für mich war er das viel mehr, weil er im Calvet-Quartett zweiter Geiger war und erster Geiger in seinem eigenen.
HOLGER NOLTZE: Noch einmal zu Ihrem Ton, Ihrem Beitrag zum Trio-Spiel. Sie haben das Licht erwähnt, die Klarheit, die er hat. Ich habe den Eindruck, es hat viel damit zu tun, wie der Klang des einzelnen Tons fokussiert ist, dass der einzelne Ton immer der einzelne Ton bleibt, markant, nie eckig. Aber auch ein Legato ist gebildet aus diesen einzelnen Tönen und nicht aus einer verschwommenen Bewegung.
MENAHEM PRESSLER: Ja, dazu kommt ihre Zusammensetzung im Akkord und die Bewegung der Phrase – das alles ist wesentlich. Ich höre es ja selbst, und ich war in dem Punkt immer ziemlich sicher. Nicht sicher in der Hinsicht, dass ich dachte: Ach, niemand kann so spielen! Aber ich war sicher, es ist etwas Besonderes, wie ich es mache und wie ich mit den anderen zusammenspiele.
HOLGER NOLTZE: Vielleicht hat zu dieser Kommunikativität ja auch beigetragen, dass Sie nicht als Star, jedenfalls nicht mit einem Star-Bewusstsein ins Trio gekommen sind. Sie konnten sich auf die anderen einstellen.
MENAHEM PRESSLER: Nicht als Star, nein, überhaupt nicht. Also diese Form des extrem nahen Zusammenspiels, wie wir es erreicht hatten, die existiert nicht so oft. Das ist kein Zufall. Das ist wirkliche Hingabe, und diese Hingabe müssen alle drei mitbringen. Sie war am stärksten am Anfang. Sie war auch sehr intensiv am Schluss mit Daniel Hope und Antonio Meneses … Aber da war sie anders, da war ich sozusagen der Antrieb, der Motor. Beim ersten Beaux Arts war Guilet der Motor, und Bernie Greenhouse, der doch schon viel Erfahrung hatte, hat das mitgemacht, obwohl er schon oft beleidigt war und so weiter und so weiter. Er hat es mitgemacht und wusste, dass dieser Motor ganz besonders war.
HOLGER NOLTZE: Ich möchte gern noch eine Besonderheit Ihres Spiels ansprechen, das Beispiel ist eines des Solisten Pressler, scheint mir aber symptomatisch: Chopin, das cis-Moll-Nocturne, das Sie gerne als Zugabe spielen, das Sie ganz besonders spielen. Das hat, nachdem es losgegangen ist, so einen markanten Sprung aufs Cis. Dieses Cis spielen die meisten wie eine Triumphgeste, wie einen Blitz, wie einen plötzlichen Effekt. Und ich höre, dass Sie das ganz anders machen, dass Sie kurz vor diesem Blitz wie innehalten und den einfach kommen lassen, diesen Ton.
MENAHEM PRESSLER: Ja, nun, ich liebe das »Nocturne«. Wissen Sie, wie ich es entdeckte? Ein polnischer Pianist, der nach Israel kam, spielte das. Ich konnte es nirgends finden, und ich guckte mir alle »Nocturnes« an, und es war nicht da.
HOLGER NOLTZE: Es gehört zu den posthumen.
MENAHEM PRESSLER: Eben. Chopin hat es ins Tagebuch seiner Schwester geschrieben. Dann begann ich, es zu lernen – damals als junger Solist war eine meiner Spezialitäten das zweite Chopin-Konzert, das ja in dem Nocturne zitiert wird; ich hab beide aufgenommen, aber vor allem das zweite habe ich sehr viel gespielt. Und das zweite hat dieses tadadadim pom pom, das Motiv wird eingeführt vom Horn, und dann kommt das Klavier, und ich habe versucht, das zu imitieren, ich als der Hornist, und dann kommt ja diese Art Mazurka. Das Stück wurde mir immer vertrauter, diese wunderschöne Passage besonders am Schluss, wenn sie ganz runtergeht, und dann kommt die erste zum G, und dann geht es ganz rauf und kommt zurück zum G. Ich würde sagen: In meinen Augen und wie ich es spielte – das war kreativ. Es wurde von mir komponiert. Als hätte ich das alles mal bei Chopin abgeschrieben und spielte es mit großer, großer, großer Liebe. Ja.
HOLGER NOLTZE: Wir reden ja über Geheimnisse und plaudern sie teilweise aus, alle natürlich nicht. Aber das scheint mir eben ein Teil des Geheimnisses zu sein, dass eine Phrase oder eine Bewegung, die in der Musik angelegt ist – gerade in der virtuosen Musik –, dass Sie die häufig dämpfen, dass Sie sich nicht im Sturmlauf auf die...