Fakt 1 – Neue Potenziale für Geschäfte
Zukunft gestalten, nicht prognostizieren – das ist die grundsätzliche Einstellung jedes Digital Leaders. Denn die Digitalisierung treibt alle Märkte, Branchen und Unternehmen – das Neue daran ist die Geschwindigkeit und Mehrdimensionalität.
Neu entwickelt wird im Laufschritt, die Lebenszyklen von Produkten und Services werden immer kürzer, Technologien veralten schneller denn je. Das Bestandsgeschäft (Core) ohne Innovation hat damit kaum noch Wachstumsmöglichkeiten, jede Innovation außerhalb kann es schnell in Existenzgefahr bringen (Burning Platform). Nur Neugeschäfte (Edge) im digitalen Umfeld bieten echtes Potenzial für Wachstum – auch wenn anfangs Erfolg und Ertrag ungewiss sind. Dies alles im Blick zu haben, ist die Anforderung an Digital Leadership. Nur wer mitspielt, ständig neue Züge macht und Spielkombinationen testet, der kann gewinnen.
Nehmen wir das Beispiel Stromversorgung: Heute dominieren – trotz Energiewende – weiterhin große Konzerne und regionale Energieversorger den Markt. Die Einnahmen sind relativ stabil, im Vergleich zur Erosion der traditionellen Erträge bei Medien, Banken oder in der Telekommunikation. Nun kommt eine neue Technologie: „Blockchain”, die intelligente und automatische Verkettung von Datensätzen („Blöcken”). Damit können dezentral kleinste Transaktionen schnell und sicher abgewickelt werden.
Der Effekt der Technologie für das aktuelle Geschäft der Energieversorger ist positiv – durch den enormen zusätzlichen Energiebedarf in den Rechenzentren, zum Beispiel für die Herstellung und das Abwickeln von sogenannten Kryptowährungen wie Bitcoin. Langfristig kann die Technologie aber das Geschäft massiv verändern. Jeder kleine Energieerzeuger – die Solarzellen auf dem Dach und das Windrad auf der Wiese – kann seine Produktion von Strom direkt an Verbraucher, die kleine Werkstatt oder auch das Mehrfamilienhaus, verkaufen. Dort stehen im Keller Speicher, die die überschüssige Produktion speichern, die beispielsweise an einem windigen sonnigen Sommertag entsteht. Die Abrechnung erfolgt automatisch, transparent und sicher – über die „Blockchain”. Die Frage, die Digital Leader bei Energieversorgern heute stellen sollten, lautet also: „Wie kann ich Geld verdienen mit meinen Kunden, indem ich keinen Strom mehr liefere?”
Die unterschiedlichen Antworten werden zunächst in Piloten überprüft und verfeinert werden, bis irgendwann eine Technologie funktioniert und auch gekauft wird. Dann geht es sehr schnell und die Inhaber der Technologie und des Geschäftsmodells haben einen enormen Vorsprung, skalieren das Geschäft in kurzer Zeit exponentiell, während das traditionelle Geschäft sinkt, sowohl im Volumen als auch im Ertrag. Dann ist der Zug abgefahren, der Markt wird neu verteilt und das Optimieren des bestehenden Geschäfts wird zum Akt der Verzweiflung.
Abbildung 2: Märkte in der digitalen Transformation: Parallelität der Strukturen und Prozesse in Unternehmen gemeinsam mit der Bimodalität der Führung schaffen die Innovation von Geschäft und Kultur.
Abbildung 2 zeigt anschaulich, wie die Digitalisierung das Potenzial für Wachstum steigert und die Zeit zur Anpassung an neue Verhältnisse reduziert. Die Ungewissheit bleibt immer, wann das Neugeschäft das Bestandsgeschäft tangiert, attackiert oder sogar ersetzt.
Unsere Fernbedienung des Lebens
Vor zehn Jahren rollten Smartphones den Markt auf. Neue Märkte entstanden durch Apps und andere mobile Anwendungen. Ein gigantischer globaler Milliardenmarkt ist entstanden. Das Smartphone ist für viele Menschen zur Fernbedienung ihres Lebens geworden. Dennoch ist die Zukunft ungewiss.
Niemand weiß, welche Bedeutung Mobiltelefone in zehn Jahren haben werden. Werden smarte Kontaktlinsen viele Funktionen übernehmen? Über unsere Pupille und Blickkontakt steuern wir die Anwendungen, sehen Nachrichten vor unserem Auge und sprechen unsere Antwort. Die Technologie ist schon da. Die größte Herausforderung aktuell ist – die Stromversorgung.
Sie als Digital Leader arbeiten in unterschiedlichen Branchen und können mit Antworten auf wenige Fragen eine Perspektive entwickeln, wo Ihr Unternehmen steht und wie hoch der Druck der Digitalisierung werden wird:
In welcher Phase befindet sich die Digitalisierung in meiner Branche und in meinem Arbeitsbereich? Geht es „nur” um bessere Abläufe und Kostensenkungen? Oder sind neue Geschäftsmodelle denkbar?
Wie schnell schreitet die digitale Transformation voran? Gibt es vergleichbare Beispiele aus anderen Branchen, die weiter sind, dafür, wie sich die Digitalisierung exponentiell entwickelt hat?
Welche Investitionen in die Digitalisierung schaffen in meiner Branche schon jetzt den größten Nutzen für das Unternehmen und den Kunden?
Wie können wir auf die Veränderungen im Markt und in der Technologie reagieren? Wie kombinieren wir die kleinen und kurzfristigen mit den großen und langfristigen Themen?
Welche Kompetenzen und Partner brauchen wir unbedingt?
Die Antworten auf diese Fragen verschaffen jedem Digital Leader die Chance, relevante Trends und Entwicklungen innerhalb der digitalen Transformation zu erkennen und Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren. Entscheidend ist dabei, die akute Dringlichkeit herauszuarbeiten. Auch dazu gibt es eine Methode.
Szenario für „Sense of Urgency”
Aus den Antworten der genannten Fragen bilden Sie ein mögliches Szenario für eine schnelle und umfassende Digitalisierung in Ihrer Branche. Nehmen Sie zusätzlich an, dass sich Ihr Unternehmen vom aktuellen Stand nur marginal verändert.
Dann sehen Sie das Szenario: Das passiert, wenn bei uns nichts passiert! Beschreiben Sie das Szenario möglichst plastisch und konkret, beispielsweise anhand der künftigen Lebenswelt Ihrer typischen Kunden: Wie wird deren Alltag aussehen und wo wird Ihr Unternehmen noch dabei sein? Diese Bewertung ist viel eindrucksvoller und überzeugender als irgendwelche Marktprognosen, die in Zeiten der Digitalisierung ohnehin eher dem Blick in die Glaskugel gleichen.
Nehmen Sie das Szenario als Tatsache. Formulieren Sie ggf. eine Variante, die nicht ganz so dramatisch, aber dafür extrem wahrscheinlich ist. Auf dieser Basis ergeben sich die Begründung für die digitale Transformation, der „Case for Change”, und die Dringlichkeit, der „Sense of Urgency”, für Ihr Unternehmen:
Hier ist unser Geschäftsmodell am verwundbarsten! Hier müssen wir investieren! Hier müssen wir uns als Erstes sofort verändern!
Als Digital Leader haben Sie für sich und Ihr Unternehmen bereits viel gewonnen, wenn Sie die Bedeutung der digitalen Transformation für das künftige Geschäft konkret herausarbeiten. In Part 4.7 erfahren Sie die Spielkombination aus Ihrem Mindset und Skillset, um auf dieser Basis ein digitales Geschäftsmodell aufzubauen.
Fakt 2 – Kunden sind Prosumenten
Im Mittelpunkt der digitalen Transformation jedes Geschäfts steht der Kunde, der vom Empfänger zum Gestalter von Produkten und Leistungen wird. Doch im digitalen Zeitalter konsumieren wir nicht mehr. Als Nutzer im Internet produzieren wir durch unser Verhalten laufend neue Daten, aus denen neue Produkte und Services entstehen. Wir sind „Prosumenten”, die gleichzeitig konsumieren und produzieren. So können fortlaufend neue Services entwickelt, getestet und verbreitet werden. Dadurch verändern sich Kundenbedürfnisse, die wiederum neue Daten liefern.
Für Amazon, Google & Co. sind wir alle sehr viel wert. Unser Verhalten hinterlässt Spuren. Und aus vielen Spuren werden durch geschickte Verknüpfung der Daten neue Angebote. Diese werden schnell getestet und weiter verbessert. Statt wenige Male im Jahr eine große Marktforschung zu starten, erfolgt vielfaches Probieren von unzähligen Varianten. Die einfachste Variante sind Empfehlungen zu anderen Produkten, wenn wir online einkaufen. Aus dem vergleichbaren Verhalten anderer Nutzer wird prognostiziert, was uns interessieren...