6. Betriebsvereinbarung gegen ständige Erreichbarkeit
Personal- und Betriebsräte, die gegen ständige Erreichbarkeit vorgehen möchten, müssen nicht nur dem Unternehmen, sondern auch den Beschäftigten gegenüber agieren. Anhand eines betrieblichen Beispiels soll das Vorgehen eines Betriebsrats dargestellt werden (vgl. CuA 5/2015, S. 18).
Die Erkenntnisse des Gremiums hatten Handlungsbedarf deutlich werden lassen: Die Beschäftigtenvertreter mussten etwas gegen die ungeregelte Erreichbarkeit unternehmen. Dieses Beispiel ist gut geeignet, die betrieblichen Handlungsmöglichkeiten darzustellen.
Der Betriebsrat war sich schnell einig, in einer Schwerpunktsitzung in aller Ruhe über das Thema zu beraten. Die Problematik der Erreichbarkeit ist auch gegenüber den Arbeitenden zu thematisieren, lautet eine Schlussfolgerung. Für die einen Betriebsratsmitglieder ist der Handlungsbedarf aus dem täglichen Alltag klar, andere werden von Kollegen angesprochen – das Problem liegt quasi „in der Luft“.
Wichtig sind dabei die unterschiedlichen Ebenen:
Ausrichtung des Betriebsrats
Zunächst hat eine Verständigung im Betriebsrat zu erfolgen: Schätzen alle die Situation für so problematisch ein? Da ein großes Technikprojekt ansteht, ist dem Betriebsrat klar: Einerseits benötigt der Unternehmer eine Einigung mit dem Betriebsrat aufgrund der Mitbestimmung, andererseits kann durch die zusätzlichen Aufgaben des Projekts die Situation noch verschlimmert werden.
Beteiligung der Arbeitnehmer
Da viele Beschäftigte – aus der Erwartung an sich selbst – häufig die Erreichbarkeit ins Private hinein anbieten, steht Aufklärungsarbeit des Betriebsrats an. Dazu gehört auch eine Präsenz vor Ort durch Betriebsbegehungen, da so direkter Kontakt möglich ist.
Verhandlungen mit dem Arbeitgeber
Die Überarbeitung bestehender Regelungen und die Erarbeitung einer neuen Betriebsvereinbarung werden umgehend per Arbeitsteilung im Betriebsrat angestoßen.
Per Intranet und E-Mail informiert der Betriebsrat die Belegschaft und thematisiert zugleich mögliche Probleme. Er stellt zunächst die Fakten dar und bezieht sich auf wissenschaftliche Ausarbeitungen:
In einer AOK-Studie gaben 34 Prozent der Befragten an, dass sie „häufig oder sehr häufig“ außerhalb der Arbeitszeit Mail- oder Telefonkontakt mit dem Unternehmer hatten (vgl. Böckler, Impuls Nr. 20/2013). Anhand der betrieblichen Situation wurde verdeutlicht, dass es sich bei den Problemen nicht um Einzelfälle handelt und dass diese nicht auf das Fehlverhalten Einzelner zurückzuführen seien. Ursache seien vielmehr die Arbeitsbedingungen, so die Position, die der Betriebsrat in einem Belegschaftsinfo deutlich machte: „Längst sind sich Arbeitsmediziner einig, dass ständige Erreichbarkeit negative Auswirkungen hat – auf das eigene Wohlempfinden und damit letztlich auch auf die eigene Leistungsfähigkeit. Wer immer online, wer rund um die Uhr auf dem Handy erreichbar ist, wer abends noch schnell seine E-Mails beantwortet, und sei es eine einzige, der kann eben niemals abschalten. Die Zeiten, in denen man sich von der Arbeit erholt, werden kürzer und kürzer, mehr und mehr dringt dafür die Arbeit ins Privatleben ein. Es braucht aber nicht einmal das tatsächliche Arbeiten am Abend – allein das Bewusstsein, nach Dienstschluss angerufen oder angemailt werden zu können, versetzt in einen Zustand dauerhafter Grundspannung. Das ist nicht gesund. Das fördert Stress.“ 11
Die nächste Stufe der Einbeziehung der Belegschaft ist die Betriebsversammlung. Dabei stellt ein Referent einer Krankenkasse das Thema „Burnout – Ursachen und Folgen aus Sicht der Beschäftigten“ dar. Die Versammlung hatte das Schwerpunktthema „Stress und ständige Erreichbarkeit“. Anhand der Ausarbeitungen des Wissenschaftlers Hannes Strobel werden die Arbeitenden durch einen Vortrag des Betriebsratsvorsitzenden aufgefordert, ihre eigene Einstellung zum Thema der ständigen Erreichbarkeit zu hinterfragen:
Indirekter Zwang
In einigen Unternehmen bestehe ein indirekter Zwang zur ständigen Verfügbarkeit. Arbeitende gingen davon aus, dass es „dazu gehöre“, auch am Wochenende für den Unternehmer erreichbar zu sein.
Selbstgefährdung
Oft ist es nicht nur der Druck von außen, der ständige Erreichbarkeit zur Belastung mache, sondern die Fehleinschätzung der Betroffenen selbst.
Der Betriebsrat macht jedoch auch deutlich, dass nur durch eine Neuregelung mit dem Unternehmer nachhaltige Veränderungen möglich seien – und die Lösung nicht allein beim Einzelnen liege.
Die nächste Information an die Belegschaft wird auch mit Blick auf den Arbeitgeber formuliert – gedacht als Vorbereitung auf die anstehenden Verhandlungen mit der Geschäftsführung. Der Betriebsrat zitiert dabei aus einem Interview mit der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Ingrid Schmidt: „Es ist wichtig, dass eine öffentliche Debatte stattfindet. Die Arbeitenden müssen sich zur Wehr setzen. Das fängt schon damit an, dass ein Arbeitnehmer das Diensthandy in der Freizeit ausschalten sollte. Niemand schuldet nach seinem Arbeitsvertrag eine ständige Erreichbarkeit. Auch berufliche E-Mails müssen nicht nach Arbeitsschluss gelesen werden. Selbstbewusstsein und einen geraden Rücken kann keine Verordnung ersetzen. Zudem müssen auch die Unternehmen ihren Führungskräften ans Herz legen, darauf zu achten, dass Freizeit ihrer Untergebenen nicht zur Arbeitszeit wird. Durch eine solche Kultur wäre mehr gewonnen als durch eine Regelung. Und nicht zuletzt: Die Betriebsräte haben schon jetzt erhebliche Eingriffsmöglichkeiten. Sie haben ein Mitbestimmungsrecht beim Gesundheitsschutz, bei der Verteilung der Arbeitszeit und der Anordnung von Überstunden. Auf dieser Grundlage können Betriebsvereinbarungen geschlossen werden.“ (Stress am Arbeitsplatz – Niemand muss ständig erreichbar sein, FAZ vom 14.02.2013)
Eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit ist gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG erzwingbar. Das bedeutet, der Arbeitgeber entscheidet nicht alleine, sondern es muss eine Einigung mit dem Betriebsrat geben. Die Betriebsvereinbarung wird in diesem Beispiel so geändert, dass überlaufende Arbeitszeitkonten verhindert werden.
Die Einigung mit dem Unternehmer beinhaltet eine der Rufbereitschaft vergleichbare Regelung. In der Anlage zur Betriebsvereinbarung wird genau festgelegt,
wo in welcher Form Erreichbarkeit erforderlich ist (z. B. im Bereich mit Kunden im Ausland) und
in welcher Zeit und in welchem Umfang eine Reaktion von den Beschäftigten erwartet wird. Denn für den betroffenen Beschäftigten macht es einen Unterschied, ob er unmittelbar nach einem eingehenden Anruf reagieren muss oder ob eine Reaktionszeit etwa von zwei Stunden vereinbart wird.
Ausnahmen müssen gut überlegt sein – und separat mit dem Betriebsrat vereinbart werden. Sollte ein Projektteam eine Erreichbarkeitsregelung wünschen, ist eine Abstimmung mit dem Betriebsrat Voraussetzung. Dabei müssen nicht alle Beschäftigten immer zur selben Zeit erreichbar sein. Oftmals ist es gar nicht notwendig, dass alle Arbeitenden eines Bereichs verfügbar sind. Entscheidend ist, die Erwartungen an die Beschäftigten deutlich und transparent zu formulieren. Es muss klar sein, von wem wann erwartet wird, dass er erreichbar ist. Darüber hinaus sind folgende Handlungsfelder wichtig:
Technische Lösungen
Der Betriebsrat fordert Lösungen durch die IT. Technisch können die Server so eingestellt werden, dass nach Feierabend oder an den Wochenenden keine E-Mails mehr an die persönlichen Postfächer der Beschäftigten weitergeleitet werden. Vorgaben der Betriebsvereinbarung legen fest, dass die Nutzer dienstlich zur Verfügung gestellter Smartphones nach Dienstende, spätestens 19 Uhr und frühestens 7 Uhr am Morgen sowie an Wochenenden keine E-Mails empfangen können.
Regelungen für die Urlaubszeit
Auch eine Regelung für die Urlaubszeit setzt der Betriebsrat durch. Um den elektronischen Posteingang jedes Einzelnen während des Urlaubs zu entlasten, ist es den Arbeitenden nach Abschluss der Betriebsvereinbarung möglich, eingehende E-Mails während der Abwesenheit automatisch löschen zu lassen. Gleichzeitig weist eine Abwesenheitsnotiz den Absender auf den zuständigen Vertreter hin, so dass jedes Anliegen dennoch bearbeitet werden kann.
Das Beispiel bezieht sich auf die Handlungsmöglicheiten eines Betriebsrats. Die beschriebenen Möglichkeiten hat aber auch der Personalrat. Nach dem allgemeinen Initiativrecht aus § 68 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG (und vergleichbaren Regelungen der...