1. Ein Mythos auf dem Prüfstand – Warum Computerspiele besser sind als ihr Ruf
Donnerstagvormittag an Hamburgs Uniklinik, dem UKE. Das Wartezimmer von Michael Schulte-Markwort, einem der renommiertesten Jugendpsychiater des Landes, ist voll. Einmal in der Woche hört sich der 62-jährige Professor die Probleme der Kinder und ihrer Eltern an. Es geht oft um Schule, Leistung, die Verzweiflung der Eltern, und ganz oft geht es – zumindest bei den Jungen – um Computerspiele. Michael Schulte-Markwort reagiert dann meist gar nicht so, wie es die Erwachsenen erwarten. Er schlägt nicht die Hände über dem Kopf zusammen, spricht nicht von Computersucht und empfiehlt weder Zeitschaltuhren und Verbote noch die Anmeldung bei den Pfadfindern. Nein, Computerspiele sind für ihn ein Teil der Moderne.
Er erinnert die Eltern an Zeiten, in denen sie glücklich waren, wenn sie ihre Kinder nach der Geburt möglichst lange von Süßigkeiten fernhalten konnten. Dies habe allerdings regelmäßig dazu geführt, dass sich diese Kinder auf den ersten Kindergeburtstagen bei anderen Familien wie ausgehungert auf Schokolade und Bonbons gestürzt haben und völlig auf Süßes fixiert waren. Andere Generationen durften auf keinen Fall fernsehen und wurden mit 20, kaum dass sie von zu Hause ausgezogen waren, zu TV-Junkies. Sie verschlangen eine Serie nach der anderen und brauchten Jahre, um sich davon zu erholen. Und wieder andere – Jahrzehnte zuvor – bekamen mahnende Worte zu hören, wenn sie zu lange gelesen haben. »Du verdirbst dir noch die Augen«, hieß es dann. Und: »Geh doch mal raus, spielen.« In den 1970er Jahren fanden viele Eltern sogar die Carrera-Bahn zu modern im Vergleich zur guten alten BRIO-Eisenbahn. Monopoly galt als kapitalistisch und asozial, weil man sich da bereichert und Dagobert Duck spielt.
»Das lässt sich doch gar nicht vergleichen«, sagen viele Eltern von heute: »Kinder, die gamen, werden dumm und dick, bekommen eine schlechte Haltung, eine schlechte Haut, sind unkreativ und werden in sozialen Netzwerken gemobbt.«
Das stimmt nicht, sagt zumindest Michael Schulte-Markwort. Er findet, dass man das so pauschal nicht sagen könne, und viele andere Experten geben ihm Recht. Es finden sich keinerlei Hinweise darauf, dass die Kids von heute beziehungsgestörter geworden sind. Im Gegenteil: Der Hamburger Psychiater hält sie für sozial kompetenter als frühere Generationen. Wenn er vor 20 Jahren Eltern und Kind ins Behandlungszimmer rief, redeten ausschließlich Mutter oder Vater. Heutzutage können auch jüngere Kinder sehr gut ausdrücken, was mit ihnen los ist. Das hat natürlich nur bedingt etwas mit der digitalen Welt zu tun. Hier zahlt sich die Erziehung auf Augenhöhe aus, die viele Kinder und Jugendliche in den Schulen und im Elternhaus erleben.
Schulte-Markwort rät den Eltern, sich einen Zettel an den Kühlschrank zu pappen, auf dem steht: »Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Kinder durch die Benutzung digitaler Medien dümmer werden oder in der Schule schlechter abschneiden!« Allein das kann schon entlasten und zum Familienfrieden beitragen.
Diesen Satz unterschreibt übrigens auch der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung. Die heutigen Kinder und Jugendlichen lesen und schreiben deutlich mehr als frühere Generationen – auch wenn sie nur noch selten in 300-Seiten-Wälzern schmökern. Es gibt kaum noch Analphabeten in dieser Altersgruppe. Analphabeten gibt es heutzutage vor allem unter den Menschen mit Migrationshintergrund, die spät die deutsche Sprache gelernt haben, sowie bei Menschen in der Generation 80plus, die kriegsbedingt keinen Schulabschluss gemacht haben.
Der Jugendpsychiater weiß die Bildungschancen des Internets zu würdigen. Er meint: Die Kinder müssten lernen, die digitalen Medien in ihr Leben zu integrieren. Sie aus dem Alltag zu verbannen sei unvorstellbar. Und weil das Smartphone zum Alltag seiner Klienten gehört, bietet der Experte mittlerweile auch Therapiestunden per WhatsApp und Skype an und erzielt damit Erfolge. Die Jugendlichen haben das Gefühl, jederzeit mit ihren Sorgen und Kümmernissen gehört zu werden, und der Psychiater kann auch mal als Feuerwehr fungieren, wenn die Nöte zu groß werden.
Ins gleiche Horn stößt der Münsteraner Psychotherapeut und Autor Georg Milzner: Er hält die Panik der Eltern vor dem Computerspiel ihrer Kids für »digitale Hysterie«. Er hat sich mit seinem 11-jährigen Sohn vor den Computer gesetzt und die gängigen Games durchgespielt. Dabei machte er eine überraschende Erfahrung: Die Jüngeren haben den Älteren etwas voraus – nämlich Fingerfertigkeit und Schnelligkeit.
98 Prozent der Eltern, die Milzner kennengelernt hat, haben nie versucht, die Games ihrer Kinder mitzuspielen. Die überwiegende Mehrheit weiß eigentlich gar nicht, was die Kids da machen, und fragt auch gar nicht nach. Dabei bietet das gemeinsame Computerspiel durchaus Chancen des Miteinanders – gerade in der Entwicklungsphase, wenn die klassischen Spiele von Monopoly bis Playmobil »out« sind und die stereotype Antwort auf den Vorschlag einer gemeinsamen Unternehmung lautet: »Weiß nicht.«
Kinder nutzen das Internet übrigens sehr geschlechtsspezifisch: Der meiste Stress herrscht in Familien mit Jungen. Jungen zeigen nämlich eine stärkere Spiele- und Action-Orientierung als Mädchen. Bei Jungs muss es krachen und knallen, und es fallen permanent für Eltern so schockierende und gewöhnungsbedürftige Sätze wie: »Du hast nur noch ein Leben!« Mädchen chatten viel mehr und suchen im Internet nach Informationen. Allerdings schauen sie als Jugendliche genauso gerne wie die Jungen Videos bei YouTube oder streamen US-Serien.
Die Diagnose, dass deutsche Eltern sich oft gar nicht dafür interessieren, was ihre Kinder im Netz so treiben, deckt sich mit den Ergebnissen repräsentativer Studien. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist die Lage in Deutschland schizophren: Je kritischer die Eltern auf die Computerspiele und die Internetnutzung ihrer Kinder achten, desto weniger fühlen sie selbst sich in der digitalen Welt sicher. Sie reden also von etwas, das sie gar nicht kennen.
Das trifft natürlich nicht auf die gesamte Elternschaft in Deutschland zu – sie ist zweigeteilt: Je mehr die Eltern selbst das Internet in ihren Alltag integrieren, desto besser kennen sich auch ihre Kinder damit aus und zeigen eine hohe Internetkompetenz. Sie können Websites öffnen, Quellen recherchieren und Gefahren einschätzen. Zum Beispiel, wie sie reagieren sollten, wenn sie ein User im Internet anspricht. Diese Hälfte der Elternschaft meint, dass ihre Kinder im Internet recherchieren und Computerprogramme bedienen können müssen, um später im Beruf erfolgreich zu sein.
Dagegen versucht jede zweite Mutter und jeder zweite Vater, sein Kind vom Computer oder dem Internet fernzuhalten, und reibt sich in täglichen Streitereien über die Medienzeit auf. Diese Gruppe spricht nicht direkt mit dem Kind über das, was es im Internet entdeckt. Und viele Eltern fühlen sich auch abgehängt: Die Kinder entdecken im Schnelldurchgang einen Bereich, für den die Eltern am Arbeitsplatz Jahre gebraucht haben. Hinter der Abwehr stecken also auch Unsicherheit, Unkenntnis und jede Menge Vorurteile.
Es scheint eine große Hemmschwelle zu geben, selbst zum Joystick zu greifen und einfach loszulegen. Auch die potenziellen Gefahren, denen Kinder im Internet ausgesetzt sind, beurteilen jene Eltern am höchsten, die am wenigsten über die Möglichkeiten der Internet-Kindersicherung informiert sind. Viele Eltern fühlen sich dem Internet und seinen Gefahren ausgeliefert, ohne zu wissen, dass es mittlerweile auch technische Möglichkeiten gibt, gefährliche Seiten zu sperren.
Um den Einfluss des Internets und der Computerspiele einzudämmen, greifen die Eltern zu verschiedenen Strategien: Bei den jüngeren Kindern sagt die Mehrheit der Eltern, dass ihre Söhne oder Töchter nur Spiele spielen dürfen, die sie vorher begutachtet haben. Zwei Drittel sperren Smartphones, Tablets und Computer/Laptops mit Passwörtern oder Zeitschaltuhren, damit sie nicht unkontrolliert genutzt werden können. Zwei Drittel legen mit ihren Kindern Medienzeiten fest, zu denen sie am Computer spielen dürfen.
Bei den älteren Kindern sind die Eltern deutlich lässiger – zumal das Internet von 14- bis 18-Jährigen mehr und mehr für Schule und Hausaufgaben genutzt wird. Trotzdem zeigen sich viele Eltern hilflos, wenn der Jugendliche abends nicht vom Computer wegkommt. Da kursieren dann schon mal skurrile Geschichten, dass hier und da der eine oder andere Computer aus dem Fenster geflogen sein soll. Computerlatein eben.
Natürlich darf der Hinweis nicht fehlen, dass es auch das Gegenteil gibt: Eltern, die aus Bequemlichkeit ihre Kinder machen lassen, was sie wollen, und die zugeben, dass ihre Töchter und Söhne nicht selten beängstigenden Erfahrungen im Internet ausgesetzt seien. Hier fehlt es komplett an digitaler Erziehung.
Klar ist, dass Kinder über Jahre eine qualifizierte und umfassende Vorbereitung auf die digitale Welt benötigen. Sie brauchen Medienerziehung – nicht nur von den Eltern, sondern auch von Schulen und Kindergärten. Diese Erziehung wird derzeit vor allem von den Eltern geleistet, die selbst internetaffin sind, die der digitalen Welt positiv gegenüberstehen und das Netz Tag für Tag auch im Alltag nutzen. Für sie ist es selbstverständlich, dass auch ihre Kinder das Internet als Teil ihres Lebens sehen – allerdings altersgemäß und unter Beobachtung der Eltern.
Diese Form des Miteinanders kann durchaus eine Brücke zwischen Kindern und ihren Eltern bilden, zumal es überhaupt nicht mehr darum geht, ob...