Kapitel 2: Kundennetzwerke nutzen
Als Bobby Gruenewald Pastor bei der Life Church in Oklahoma wurde, war es zwar erst zwei Jahre her, dass er das College verlassen hatte, dennoch hatte er zu diesem Zeitpunkt aber auch bereits zwei webbasierte Unternehmen aufgebaut und verkauft, einschließlich einer Online-Community für Fans des Profi-Wrestlings. Bei Life Church konzentrierte er sich nun jedoch auf eine ganz andere Art von »Community«: Er sollte als eine Art Innovationsleiter für die seit erst drei Jahren bestehende evangelikale Kirche neue Wege erschließen, um ein modernes Publikum erreichen und für den christlichen Glauben begeistern zu können.
Viele Kirchen nutzen heutzutage Podcasts oder Streams ihrer wöchentlichen Gottesdienste, um Gemeindemitglieder auf dem Weg von und zur Arbeit, zu Hause oder anderswo zu erreichen. Life Church ist allerdings noch deutlich weiter gegangen: Dort hat man eine »digitale Mission« entwickelt, zu der On-Demand- und Live-Streaming-Videodienste auf LifeChurch.tv sowie eine Plattform mit Tools für die Mitbenutzung durch andere Kirchen gehören. Auf dem Höhepunkt der Online-Community Second Life entwickelte Gruenewald eine virtuelle Kirche, mit der er Gläubige in ihren dreidimensionalen Avatar-Formen erreichen wollte. Er buchte Google-Anzeigen, um Leute anzusprechen, die im Internet nach pornographischem Material suchten, und um sie stattdessen gezielt auf den Weg der Kirche zu lenken. Auf Twitter schrieb er: »We’ll do anything short of sin 2reach ppl who don’t know Christ. 2reach ppl no one is reaching we’ll do things no one is doing.« (»Außer Sünden tun wir alles, um Menschen zu erreichen, die Christus nicht kennen. Um Menschen zu erreichen, die sonst niemand erreicht, tun wir Dinge, die niemand sonst tut.«)1
Gruenewalds größte Leistung besteht jedoch vermutlich in der Schöpfung von YouVersion, der beliebtesten Bibel-App für Smartphones. Mit mehr als 168 Millionen Downloads kann sie sich mit den größten Handyspielen und sozialen Netzwerken messen. YouVersion erlaubt es den Usern, die Bibel in mehr als 700 Sprachen zu lesen, vom Inuktitut der östlichen Arktis bis zum Kreolisch des Hawaii-Archipels. Sie ist die einzige App der Welt, die solch obskure Sprachen wie das bolivianische Guarani enthält. Selbst innerhalb einer Sprache gibt es zahlreiche Übersetzungen, darunter 30 Versionen in Englisch – von der King-James-Bibel über das New International bis zum ultramodernen »The Message«. Die Leser können sich eine Übersetzung aussuchen, nach einer Passage oder Wendung suchen und den Text markieren, bookmarken und mit anderen teilen. Auf diese Weise tauschen Leser mehr als 100.000 Verse pro Tag miteinander aus, direkt aus der App heraus. Jen Sears, Personalleiterin aus Oklahoma City und Userin der App, sagt, wenn sie beten möchte, greift sie jetzt zu ihrem Smartphone. »Ich habe meine gedruckte Bibel zu Hause auf der Kommode und dort liegt sie seitdem.«2
Jeden Sonntag leuchten die Displays in den Händen der Gemeindemitglieder der fast 2.000 Kirchen, die YouVersion für ihre Gottesdienste einsetzen. Während die Pfarrer predigen, verfolgen die LifeChurch.tv-Server 600.000 Anfragen pro Minute und registrieren, welche Verse in den verschiedenen Gemeinden am beliebtesten sind. Dies unterstützt Life Church bei der Auswahl des täglichen Bibelspruchs, der an die 168 Millionen User der App geschickt wird. Andere Prediger, von Megachurch-Gründer Rick Warren bis Pastor Billy Graham, nutzen YouVersion, um ihre eigenen Predigtpläne an ihre Anhänger auf der ganzen Welt zu verbreiten. Geoff Dennis, einer der Herausgeber, dessen eigene Übersetzung ebenfalls auf YouVersion zu finden ist, sagt: »Sie haben definiert, was es bedeutet, Gottes Wort auf einem Mobilgerät zu empfangen.«3
Kundenbeziehungen überdenken
On-Demand, anpassbar, vernetzt, gemeinsam nutzbar – dieselben Eigenschaften, die LifeChurch.tv bietet, um seine im digitalen Zeitalter angekommenen Gemeindemitglieder einzubeziehen, möchten Kunden heutzutage praktisch von jedem Unternehmen geliefert bekommen.
Der erste Strategiebereich, den wir überdenken müssen, sind die Kunden. Sie sind als Käufer von Waren und Dienstleistungen immer schon der entscheidende Faktor für jegliche Form von Unternehmen gewesen. Um zu expandieren, haben Unternehmen Massenmarketing-Tools eingesetzt, die darauf ausgerichtet sind, die Kunden direkt anzusprechen, zu informieren, zu motivieren und zum Kauf zu überreden. Im digitalen Zeitalter ist die Beziehung der Kunden zum Unternehmen jedoch dramatischen Veränderungen unterworfen (siehe Tabelle 2.1).
Kunden als Massenmarkt | Kunden als dynamisches Netzwerk |
Werbebotschaften werden wahllos an alle Kunden verbreitet | Die Kommunikation verläuft in beide Richtungen |
Das Unternehmen ist der entscheidende Influencer | Die Kunden sind die entscheidenden Influencer |
Das Marketing soll zum Kaufen überreden | Das Marketing soll zum Kaufen inspirieren und Loyalität sowie Fürsprache anregen |
Wertströme in eine Richtung | Wechselseitige Wertströme |
Wirtschaftlichkeit durch Massenproduktion | Wirtschaftlichkeit durch (Kunden-)Werte |
Tabelle 2.1: Kunden: Änderungen der strategischen Annahmen beim Übergang vom analogen zum digitalen Zeitalter
Eine andere Branche, in der sich diese veränderte Beziehung ganz deutlich zeigt, ist die Musikindustrie. Vor nicht allzu langer Zeit bestand die einzige Rolle des Kunden noch darin, ein Exemplar des neuesten Produkts (CD oder LP) zu erwerben. Um ihre Produkte zu verkaufen, verließen sich Plattenfirmen auf diverse Massenkanäle für Werbung (Radio, MTV) und Vertrieb (Plattenläden, Großmärkte/Elektronikmärkte). Heute wollen die Kunden jederzeit beliebige Titel hören können und nutzen unterschiedlichste Streamingdienste auf einer Vielzahl von Geräten. Sie entdecken Musik durch Suchmaschinen, Social Media und Empfehlungen von Freunden und Algorithmen. Musiker können an der Plattenfirma vorbei direkt zum Kunden vordringen. Sie fordern sie sogar auf, sich an der Finanzierung von Alben zu beteiligen, bevor diese überhaupt aufgenommen wurden, sie in ihren Playlists zu teilen und ihre Lieblingsbands in den sozialen Netzwerken an ihre Freunde weiterzuempfehlen.
Kunden im digitalen Zeitalter sind keine passiven Konsumenten, sondern Knotenpunkte in dynamischen Netzwerken – sie interagieren und formen Marken, Märkte und einander. Und Unternehmen müssen diese neue Realität erkennen und ihre Kunden entsprechend behandeln. Sie müssen verstehen, in welcher Weise die Kundennetzwerke den Marketingtrichter neu definieren, den Path to Purchase, also den Weg des Kunden zum Kauf, umgestalten und neue Möglichkeiten eröffnen, um zusammen mit den Kunden Werte zu schaffen. Unternehmen müssen die fünf Kernverhaltensweisen verstehen – Zugang, Inspiration, Anpassung, Vernetzung und Zusammenarbeit –, die Kunden in ihren digitalen Erfahrungen und Interaktionen antreiben. Und sie müssen sich diese Verhaltensweisen zunutze machen, um neue Kommunikationsmöglichkeiten, Produkte oder Erlebnisse zu erfinden, die auf beiden Seiten der Unternehmen-Kunden-Beziehung einen Wert schaffen.
Dieses Kapitel erkundet, wie und warum sich die Beziehung zu den Kunden in allen Branchen ändert und welchen Herausforderungen sich Unternehmen im Zeitalter der Massenmedien gegenübersehen. Es bietet ein Framework zum Verständnis der vernetzten Verhaltensweisen und Motivationen der Kunden und stellt darüber hinaus den Strategiegenerator für Kundennetzwerke vor, ein Mittel zur Ideenfindung, mit dem sich bahnbrechende Strategien zum Inspirieren Ihrer vernetzten Kunden und zum Erreichen bestimmter Unternehmensziele entwickeln lassen.
Sehen wir uns zunächst genauer an, wie und warum sich die Beziehung der Kunden zu den Unternehmen so grundlegend ändert.
Das Kundennetzwerk-Paradigma
Das Verhalten der Kunden – wie sie Produkte, Dienstleistungen und Marken finden, in Anspruch nehmen, nutzen, teilen und beeinflussen – das alles stellt sich heute völlig anders dar als zur Entstehungszeit der modernen Geschäftspraktiken.
Im 20. Jahrhundert setzten Unternehmen üblicherweise auf das Modell des Massenmarktes (siehe Abb. 2.1). In diesem Paradigma sind die Kunden passiv und werden nur in ihrer Gesamtheit betrachtet. Ihre einzige wesentliche Rolle besteht darin, zu kaufen oder nicht zu kaufen, während die Unternehmen ihrerseits versuchen, Produkte oder Dienstleistungen zu finden, die möglichst vielen potenziellen Kunden nützen. Massenmedien und Massenproduktion beliefern so viele Kunden wie möglich mit den Angeboten und Waren des Unternehmens. Erfolg hängt im Massenmarktmodell unmittelbar mit der Massenproduktion zusammen. Und viele Jahrzehnte lang hat das auch funktioniert! Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind auf diese Weise die größten und erfolgreichsten Unternehmen der Welt entstanden.
Heute erleben wir dagegen einen grundlegenden Wandel hin zu einem neuen Paradigma, das ich als Kundennetzwerkmodell bezeichne (siehe Abb. 2.2).4 In diesem Modell ist das Unternehmen immer noch ein zentraler Akteur bei der Schaffung und Vermarktung von Waren und...