Einleitung
Die Diplomatie ist ein staatlicher Dienstzweig, der die offiziellen Beziehungen zum Ausland besorgt. Er vertritt die nationalen Interessen auf internationaler Ebene und setzt somit souveräne Staaten voraus. Doch was soll dieses Konzept von souveränen Staaten und nationaler Interessenvertretung? Einige finden, man könne im Zeitalter der Weltinnenpolitik nicht mehr von Aussenpolitik sprechen, sondern nur noch von internationalen Beziehungen. Die Auffassung von innen und aussen, ja das ganze Konzept der Souveränität beruhe auf einem falschen Ansatz. Damit könne man die Komplexität der heutigen Welt nicht mehr erfassen. «Die Diplomatie hat sich überlebt», diese Behauptung hört man immer wieder. Sie sei ein Zombie, der noch etwas zucke, aber kein richtiges Leben mehr in sich habe. Freilich, so neu ist diese Ansicht nicht. Kein Geringerer als Hugo Grotius, der Begründer des Völkerrechts, befand schon zu Beginn des 17.Jahrhunderts, man würde die Diplomatie, die sich in ihrer neuzeitlichen Form mit ständigen Gesandtschaften eben erst entfaltet hat, am besten gleich wieder abschaffen.1 Und Leo Trotzki wollte die Diplomatie zusammen mit dem Kapitalismus begraben. «Ich werde», meinte der erste Aussenminister des sowjetischen Russland, «einige revolutionäre Aufrufe erlassen und dann das Geschäft zumachen.»2
Neben den konzeptuellen Vorbehalten entzieht auch, so scheint es, die technische Entwicklung der Diplomatie den Boden unter den Füssen. Wozu noch Diplomaten in fremden Ländern stationieren, wenn man mit Internet, Skype und Laptop die Beziehungen mit anderen Staaten direkt aus dem Aussenministerium herstellen kann? Erneut fallen Todesurteile – allerdings nur die letzten in einer langen Reihe. Um nur einige der vorangehenden Stationen zu erwähnen: Mit der Einführung des Faxgeräts, hatte der amerikanische Präsidentschaftskandidat Ross Perot verkündet, brauche es die Diplomatie nicht mehr;3 das Aufkommen des Fernsehens hatte den Schnelldenker Zbigniew Brzezin´ski zum Kommentar verleitet, nun müsste man die Aussenministerien mit ihrer Diplomatie, wenn es sie nicht schon gäbe, nicht mehr erfinden;4 und als die ersten Telegrafen die Nachrichtenübermittlung revolutionierten, meinte Lord Palmerston, der überragende britische Staatsmann des 19. Jahrhunderts: «My God, this is the end of diplomacy.»5
Das Ende der Diplomatie also? Sieht man die Anzahl der Personen, die sich als Diplomaten ausweisen, bekommt man allerdings ein anderes Bild. Noch nie gab es so viele Diplomaten wie heute. Auch scheint die Attraktivität des Berufs unvermindert anzuhalten. Mehr junge Leute denn je versuchen die diplomatische Karriere einzuschlagen. Was hat folglich das Schlagwort vom Ende der Diplomatie auf sich? Nun, es ist falsch – aber nicht in jeder Hinsicht. Tatsächlich hat sich der Beruf stark gewandelt. Vom einstigen ambassadeur extraordinaire et plénipotentiaire, der in fremden Landen fernab von jeglichen Interventionen der Zentrale Verträge für seinen Souverän aushandelte, ist nicht mehr viel geblieben. Der Diplomat wird heute an der kurzen Leine gehalten. Die von der Informationstechnologie zur Verfügung gestellten Möglichkeiten erlauben es der Zentrale, sogar in laufenden Verhandlungen einem Unterhändler das Wording zu diktieren. Gegenläufig zum technischen Fortschritt schrumpften die effektiven Vollmachten des Diplomaten.
Aber die Diplomatie erlebte einen Zuwachs in anderer Richtung. Bis tief ins 20. Jahrhundert hinein erachteten die meisten Botschafter nur die «grossen» politischen Fragen ihrer würdig. Um anderes, auch um die Wirtschaft, kümmerten sie sich eher mit der linken Hand. Gern schob man solche Angelegenheiten auf einen jüngeren Mitarbeiter ab. Doch das hat sich geändert. Immer mehr Aufgaben kommen auf eine Auslandsvertretung zu. Sie muss sich mit den unterschiedlichsten Sparten befassen, angefangen von der Wirtschaft, dem Handel, der Energie, der Wissenschaft, der Kultur, den Medien, den Migrationsfragen bis hin zur polizeilichen Zusammenarbeit und zur Touristenbetreuung. Zudem sollte eine Botschaft im Zeichen der Public Diplomacy medial überall präsent sein. Mehr denn je repräsentiert und empfängt ein Botschafter, hält Vorträge und betreut durchreisende Parlamentarier und andere Delegationen, netzwerkt er Tag und Nacht – nur eines tut er weniger: Er unterschreibt kaum noch Verträge im Namen seines Landes. Dass ein Botschafter sein Land nicht nur symbolisch, sondern auch rechtlich bei der akkreditierten Regierung vertritt, ist auf der Wichtigkeitsskala weit nach hinten gerutscht. Verkürzt kann man den Wandel so formulieren: Die Diplomatie hat an Tiefe eingebüsst, aber an Breite gewonnen. Und der Botschafter sticht weniger durch seine Vollmachten als durch seine Omnipräsenz hervor. Er ist zu einem ambassadeur extraordinaire et omniprésent geworden.
Um die Zukunft der Diplomatie muss man sich somit keine Sorgen machen, gleichgültig welche Theorien über die internationalen Beziehungen und welche umwerfenden technologischen Neuerungen auch auf den Markt kommen. Die Diplomatie wird weiterbestehen. Aber wie es um deren Qualität bestellt ist, das sollte man sich in der Tat überlegen. Die leichtfüssige Eventkultur, das zwitschernde Plaudern auf allen Kanälen, das ständige Telefonieren bekommen einem Beruf schlecht, in dem die Sprache das wichtigste Arbeitsinstrument ist. In der Diplomatie zählt, was grosse Diplomaten von Metternich über Bismarck bis zu Kissinger wussten, jedes Wort. Nicht umsonst spöttelt man: Ein Diplomat ist eine Person, die zweimal überlegt, bevor sie nichts sagt. Bei den Benutzern von sozialen Medien bekommt man oft den Eindruck, dass sie das Gegenteil praktizieren: Sie versenden zwei Messages, bevor sie sich etwas überlegen. Wenig erstaunlich, dass schon einige Diplomaten über ihre impulsiven Facebook-Einträge gestrauchelt sind.
Zu viele Worte, zu wenige Gedanken: Das sind die Kennzeichen der neuen Entwicklungen in der Diplomatie. Dieser Befund ergibt sich aus einer enervierenden Rastlosigkeit der diplomatischen Omnipräsenz. Jedermann ist rund um die Uhr abrufbar, jedermann prüft mehrmals täglich sein E-Mail-Konto, jedermann verschickt laufend Messages mit Kopien an Krethi und Plethi. Der quantitative Output ist beeindruckend, der qualitative weniger. Für vertiefte Analysen besteht kaum noch Zeit, weder zum Verfassen noch zum Lesen. Der lange Atem fehlt. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb George F. Kennan sein berühmtes «Langes Telegramm». Der 8000 Wörter umfassende Text beeinflusste die amerikanische Strategie auf Jahre hinaus. Er trug wesentlich dazu bei, dass die USA der Sowjetunion gegenüber eine Containment-Politik einschlugen. Solches ist heute undenkbar. Eine Analyse von dieser Länge würde im Aussenministerium wahrscheinlich zuerst gestapelt und dann archiviert. Gelesen würde sie bestenfalls von einem untergeordneten Sachbearbeiter. Auch fragt man sich, was die permanente Verfügbarkeit bringt. Bismarck verbrachte Monate auf seinen Landgütern und zog sich tagelang zurück, um eine Denkschrift zu verfassen. Er war oft unerreichbar. Hat das seine Entscheidungsfähigkeit geschwächt? Man erhält den gegenteiligen Eindruck.
Vieles hat sich also am diplomatischen Betrieb geändert. Dennoch ist die Aufgabe des Diplomaten im Kern über die Jahrhunderte hinweg die gleiche geblieben. Ein Diplomat wird von seiner Regierung in ein anderes Land geschickt, um dort offiziell die Interessen zu vertreten. Und wie geschieht das? Indem er glaubwürdig auftritt und mit Geschick für seine Sache argumentiert. So gewinnt er das Vertrauen seiner Gesprächspartner. Mit der Kraft des Wortes und mit seiner Persönlichkeit muss er überzeugen können. Etwas anderes steht ihm nicht zur Verfügung. Denn wir haben es mit souveränen Staaten zu tun. Die Diplomatie mit ihren ständigen Vertretungen, wie wir sie heute kennen, ist zu Beginn der Neuzeit gleichzeitig mit den souveränen Staaten entstanden, sozusagen als deren Ergänzung. Die Idee der Souveränität lässt über dem Souverän keinen anderen Herrscher zu. Folglich ist es eine sehr diffizile Angelegenheit, zwischen Staaten, von denen im Prinzip keiner sich von einem anderen etwas sagen lassen muss, einen Modus Vivendi zu finden. Nur zu leicht drohen die zwischenstaatlichen Beziehungen dem Diktat roher Gewalt zu verfallen. Doch mit den Mitteln der Diplomatie sucht man einen solchen Zustand zu vermeiden und die unterschiedlichen Interessen durch freiwillig eingegangene Verträge zu überbrücken.
Völkerrecht und Diplomatie haben die Aufgabe, die pure Macht in den internationalen Beziehungen einzudämmen und durch verlässliche Regeln zu ersetzen, die für alle Vertragspartner gleicherweise gelten. Dadurch wird Rechtssicherheit und Stabilität geschaffen. In den letzten Jahrzehnten wurden dabei grosse Fortschritte erzielt. Man könnte sich den enormen Aufschwung, den die internationalen Beziehungen im Zeichen der Globalisierung auf allen Gebieten genommen haben, ohne den Ausbau des internationalen Rechts gar nicht vorstellen. Aber deswegen darf man die nach wie vor bestehende Schwäche der internationalen Ordnung nicht übersehen. Das Gewaltverbot lässt sich nur insoweit durchsetzen, als sich die Staaten daran halten. Wenn die USA entschlossen sind, einen militärischen Einsatz ohne Genehmigung durch den UNO-Sicherheitsrat durchzuführen, kann niemand sie daran hindern. Trotz aller Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen gibt es in den meisten Streitfällen keine oberste Instanz, die einen Vertragsbrecher gegen dessen Willen zur Rechenschaft ziehen könnte.
Auch die liberale Weltordnung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, beruht letztlich auf einem brüchigen Fundament, nämlich...