Wenn einer eine Reise tut
Ein Plädoyer für das Erzählen
Zugegeben, die Volksweisheit mit der Reise und dem Erzählen stammt aus einer Zeit ohne Handy-Cams und Facebook. Wahr ist der Spruch trotzdem. Ob wir unsere Erzählung nun medial unterfüttern oder nicht, eine Reise schafft Geschichten: manchmal lustige, manchmal tragische. Wer reist, macht Erfahrungen, die nicht als Lehrsätze weitergegeben, sondern die erzählt werden. Die Erzählung vermittelt erlebte, individuelle Wahrheit, der wir uns anschließen können, aber nicht müssen.
Zwei Gründe,
warum es sinnvoll ist, in der Verkündigung zu erzählen
1. Die Bibel erzählt
Das Alte Testament enthält viele verschiedene Sprachformen, aber in ihrem Kern erzählt es Geschichten. Man kann sogar sagen, es erzählt eine Geschichte: Die Geschichte von der Reise Gottes mit den Menschen und der Reise der Menschen mit Gott. Viele einzelne Geschichten verbinden sich zu einer Geschichte. Gott ist mit seinem Volk, Gott ist mit den Menschen unterwegs. Das Alte Testament wird nicht müde zu erzählen und auch mancher Psalm (z. B. Ps 23) enthält eine narrative (erzählende) Grundstruktur.
Das Neue Testament folgt dem Alten, indem es die Jesusgeschichte erzählt. Die einzelnen Geschichten der Evangelien verbinden sich miteinander zu der einen Geschichte des Jesus von Nazareth, von der Ankündigung seiner Geburt bis zur Himmelfahrt. Die Apostelgeschichte erzählt und wer aufmerksam hinschaut, kann auch in der Briefliteratur des Neuen Testaments narrative Strukturen erkennen.
In der Einheit der Bibel verbinden sich die verschiedenen Geschichten von Israel und von den Jüngern zu der einen vielfältigen Geschichte Gottes mit den Menschen. Wenn die Bibel erzählt, sollten wir es auch tun!
2. Die Erzählung bietet den Hörern Räume für ihre eigenen Wege
Eine Geschichte, die ich höre, ist wie ein Raum, in den ich hineingehe. Ich entscheide selbst, welchen Ort ich in diesem Raum einnehmen will. Ich kann am Rand stehen und Distanz wahren, ich kann aber auch mitten hineingehen und mit den erzählten Personen leiden, hoffen, feiern. Manchmal sitze ich mit Josef im Gefängnis und werde vergessen. Ein anderes Mal wärme ich mich mit Petrus am Feuer und es fehlt mir der Mut zum Bekenntnis. Geschichten erzählen vom Leben konkreter Menschen. Als Hörer kann ich ihre Erfahrungen mit meinen Erfahrungen vergleichen. Kinder und Jugendliche tun dies intuitiv. Sie entdecken ihre eigenen Höhen und Tiefen in der Erzählung und erfahren Lösungsansätze.
Wenn ich eine Geschichte höre, dann wird mir nichts übergestülpt, sondern mir wird ein Angebot gemacht wie ein Raum, den ich betreten darf, soweit ich es heute kann und will.
Die Vorbereitung einer Erzählung
Eine Erzählung muss vorbereitet werden. Es reicht nicht, wenn wir meinen, die Geschichte schon zu kennen, oder wenn wir sie „eben mal schnell“ lesen. Wir müssen zu allererst wieder sehen lernen. Die biblische Geschichte hat vielleicht nur wenige Verse. Wenn daraus eine Erzählung werden soll, dann muss ich lernen, genau hinzuschauen.
Es ist vermutlich gar nicht möglich, eine Reihenfolge in der Vorbereitung festzulegen, denn es gibt verschiedene Bearbeitungstypen. Die beiden häufigsten sind der visuelle Typ / der kreative Kopf und der lineare Typ / der Richtigmacher:
Der visuelle Typ ist kreativ, sieht schnell das Gesamtbild und fühlt sofort den emotionalen Pulsschlag einer Geschichte. Er verliert sich aber leicht in Beschreibungen von Details und vernachlässigt dann den Faden der Geschichte. Wer so tickt, sollte mit Mindmaps und Zeichnungen (Strichmännchen) arbeiten. Die ersten Notizen dürfen ungeordnet und bunt sein. Aber bitte immer mit dem Wissen, dass nicht jedes Detail erzählt werden muss – Mut zur Lücke.
Der lineare Typ oder Richtigmacher geht in der Regel chronologisch vor und erzählt in korrekter Reihenfolge die biblische Geschichte mit eigenen Worten nach. Bewegungen und Regungen bleiben oft dahinter zurück. Es stimmt zwar alles, aber Spaß und Provokation einer Geschichte (und die Bibel provoziert oft) gehen verloren. Die Hörer steigen schneller aus.
Beide Bearbeitungstypen haben ihre Stärken und Schwächen und mit der Bibel empfehlen wir: Lernt voneinander! Nach einer guten Vorarbeit kann es jedem gelingen, aus einer Geschichte ein Erlebnis zu machen. Dafür reicht es nicht, die Erzählung zu verstehen. Man muss sie „durchdringen“ – auch emotional.
Schritt 1: Auf den ersten Blick
Die erste Begegnung mit einem biblischen Text bzw. einem Thema löst oft spontane Reaktionen aus. Es ist wichtig, diese ernst zu nehmen und nicht sofort zu rationalisieren. Deshalb legt man sich vor dem Lesen Block und Bleistift neben die Lektüre. Beim ersten Durchlesen kann man sich Notizen zu folgenden Fragen machen: Was wundert oder irritiert mich? Was tut mir gut oder was stört mich? Was passiert genau (zeitliche Abläufe, Personenkonstellationen, besondere Orte)? Wie kommt es, dass … (damaliges Weltbild, Frauenbild, Verständnis von Krankheit und kultischen Riten)? Wie reagieren die Hauptfiguren? Was hätte ich an ihrer Stelle gemacht? Frage lieber „Wie“ oder „Wodurch“ als „Warum“. „Warum“ gibt keine Antworten, sondern wirkt wie ein Stoppschild. In der konkreten Vorbereitung heißt das: früh und oft genug durchlesen und damit „spazieren gehen“, darüber sinnieren, meditieren, zeichnen oder auflisten.
Schritt 2: Struktur und Recherche
Wenn die ersten Gedanken notiert sind, ist es Zeit, an die Struktur und Recherche zu gehen. Ich notiere mir den Rahmen und die verschiedenen Phasen der Geschichte. Wo spielt die Geschichte? Wer sind die handelnden Personen? An welchen Stellen nimmt die Geschichte (überraschende) Wendungen? Wo und wie wird ein Höhepunkt erreicht? Für das Verständnis der Bibel ist es ebenso wichtig, historische, theologische und religiöse Hintergründe zu recherchieren. Vieles, was bei uns Unverständnis auslöst, lässt sich leicht beantworten, wenn es gelingt, in die Welt der Bibel einzutauchen. Es gibt für diese Aufgabe Hilfestellungen: Lexika, Wörterbücher, Literatur zur sozialen Umwelt der Bibel usw. Eine Empfehlung ist „Die Bibel elementar“ von Michael Landgraf, Calwer Verlag.
Schritt 3: Den Top-Gedanken finden
Nach den ersten Schritten geht es jetzt darum, die emotionale Bewegung oder den pulsierenden Gedanken meiner Geschichte zu entdecken. Anderenfalls verkommt die Erzählung zu einer schlichten Wiedergabe vom Ablauf einer Handlung. Statt nur sachliche Informationen in korrekter Form zu vermitteln, arbeitet der Erzähler wie ein Bibelübersetzer, der das Wesen und die Bedeutung der Geschichte auf eine ganzheitliche Ebene transportiert. Information wird übersetzt in Emotion und Aktion/Reaktion, das heißt: Die Information, die Handlung einer biblischen Geschichte, wird übertragen in Empfindungen (heiß, kalt, hart, schwer usw.), in Gefühle (Furcht, Freude, Sorge usw.) und in Aktion (wandern, schreien / rufen, erstarren, kichern, kochen usw.).
Schritt 4: Das Drehbuch
Wenn die Vorbereitungen soweit abgeschlossen sind, geht es an die konkrete Umsetzung, wie aus dem einfachen Wort eine lebendige Geschichte wird. Ich teile die Geschichte in Szenen / Standbilder auf. Fünf bis sieben Szenen genügen, diese dürfen aber liebevoll „ausgemalt“ werden.
Es ist hilfreich – zumindest am Anfang – wenn ich „meine“ Erzählung komplett wörtlich aufschreibe. Gute Erzähler erzählen frei, aber die haben oft auch jahrelange Erfahrung. Lieber eine gute Geschichte vorgelesen als eine holprige Erzählung mit etlichen Lücken.
Unterschiedliche Möglichkeiten des Erzählens
Es gibt nahezu unbegrenzt viele Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen. Wer mit dem Erzählen beginnt, sollte es zunächst möglichst einfach tun. Versuche die Geschichte so zu erzählen, wie du sie verstanden hast. Versuche jeden biblischen Satz mit zwei oder drei eigenen Sätzen wiederzugeben. Stelle die einzelnen Personen vor. Beispiel: In Markus 10 heißt es, dass ein blinder Bettler mit Namen Bartimäus am Wegrand saß. Kürzer kann man die Informationen nicht weitergeben. Beim Erzählen darf ich aber weiter ausholen. Ich muss mir mindestens zu folgenden Fragen eine Meinung bilden: Saß Bartimäus dort täglich? Hatte er sich an sein Blindsein gewöhnt? Gab es in biblischer Zeit viele Blinde? Wo hat er vielleicht gewohnt? Hatte er schon von Jesus gehört? Was redeten die Menschen über Jesus? Zugegeben, zu den gerade gestellten Fragen gibt der Bibeltext keine Antwort. Markus reduziert seine Erzählung auf die nötigsten Fakten. Aber wenn ich erzähle, dann wird die biblische Geschichte zu meiner Geschichte. Ich entscheide, wie ich erzähle und wie ich die biblischen Personen vor den...