Rainer Oberländer
2. Jungen
in den Blick nehmen
Ansätze der Jungenarbeit
In der Pädagogik wurden Anfang der 80er Jahre erste zaghafte Versuche unternommen, auch Jungen und männliche Jugendliche eigenständig in den Blick zu nehmen, mit dem Ziel, sich pädagogisch gezielter um sie zu kümmern. Erste pädagogische Konzepte entstanden. Diese werden im Folgenden kurz skizziert, denn letztlich lassen sie uns nicht gänzlich unberührt. Etwas schwappt immer auch in unsere Einstellungen und beeinflusst sie, und wenn es eine abwehrende Haltung ist. Festzuhalten bleibt, der gesellschaftliche Wandel wird immer auch die Pädagogik unter Veränderungszwang bringen und Weiterentwicklungen sowie neue Ansätze hervorbringen.
Pädagogische Ansätze1
Antisexistische Jungenarbeit
Entwicklung: Glücks/Ottemeier 1988
Ausgangspunkt: Probleme, die der Junge und später der Mann verursacht, bzw. verursachen wird.
Weg: Weibliche Persönlichkeitsanteile zulassen und anerkennen lernen. Abschaffung der gesellschaftlichen Benachteiligung von Frauen.
Ziel: Bewusstsein für geschlechtliche Gleichberechtigung vermitteln.
Reflektierte Jungenarbeit
Entwicklung: Sielert 1989
Ausgangspunkt: Er beschreibt das männliche und das weibliche Prinzip, ohne von einer Möglichkeit der Auflösung derselben auszugehen.
Weg: Stärken und Schwächen von Jungen werden berücksichtigt. In motivierenden Gedeihräumen haben Jungen die Möglichkeit neue Qualitäten zu entwickeln.
Ziel: Stabile männliche Identität zu erlangen und weibliche Anteile zu integrieren.
Emanzipatorische Jungenarbeit
Entwicklung: Schenk 1991
Ausgangspunkt: Deutliche parteiliche Grundhaltung. Jungen werden so wie sie sind in den Blick genommen.
Weg: Jungen werden nicht negativ oder positiv bewertet. Sie werden unterstützt, gefördert und angeregt, den gesellschaftlichen „Männerkodex“ abzustreifen.
Ziel: Eigene Erfahrungen machen, um eigene Identität zu entwickeln.
Identitätsorientierte Jungenarbeit
Entwicklung: Winter 1994
Ausgangspunkt: Männer fehlen in der Sozialisation von Jungen weitestgehend. Sie erfahren nicht, was Mannsein ist, bzw. sein kann.
Weg: So genannte weibliche Eigenschaften wie Weichheit, Angst, Gefühle sind ebenso männliche Eigenschaften wie Stärke, Mut, etc. Die Vielfalt des Mannseins setzt sich in Kontrast zur Einfalt der Männlichkeit.
Ziel: Jungen sollen ihre Handlungskompetenzen erweitern können.
Der mythopoetische oder maskulinistische Ansatz
Entwicklung: Forschungsgruppe Jungenarbeit Göttingen 1996
Ausgangspunkt: Jungen können ihre Aggressionen nicht in positiver Weise ausleben. Statt dessen wird dieses Potenzial in Wut und Gewalt ausgelebt.
Weg: Spirituelle, männliche Mentoren, die Jungen an ihrer positiven Energie teilhaben lassen.
Ziel: Im ersten Lebensdrittel positive Energien vermitteln.
Variablenmodell balanciertes Junge- und Mannsein
Entwicklung: Winter/Neubauer 2001
Ausgangspunkt: Die Gesellschaft hat traditionelle Männerbilder verworfen, bietet den Jungen aber keine neuen an.
Weg: Seiten und Dimensionen in den Blick bekommen, die das Gesunde, das Gute, das Gelingende beim Junge-/Mannsein in der Moderne hervorheben.
Ziel: Jungen werden ermutigt, so zu sein, wie sie sein wollen und ihre Stärken auszubauen.
Antisexistische Jungenarbeit
Mitte der 1980iger Jahre entwickelte sich die antisexistische Jungenarbeit (HVHS: Glücks/Ottemeier Glücks 1988). Dieser Ansatz formuliert als primäres Ziel die Abschaffung der gesellschaftlichen Benachteiligung der Frauen. Er unterstützt und ergänzt insofern die Forderungen der Frauenbewegung und Mädchenarbeit. Ausgangspunkt für das pädagogische Handeln sind die Probleme, die der Junge und später der Mann verursacht bzw. verursachen wird. Ziel ist es, den Jungen ein Bewusstsein für die geschlechtliche Gleichberechtigung zu vermitteln und die weiblichen Persönlichkeitsanteile zuzulassen und anzuerkennen.
Reflektierte Jungenarbeit
Uwe Sielert veröffentlichte Ende der 80er Jahre sein Praxishandbuch für die Jungenarbeit und entwickelte darin die reflektierte Jungenarbeit. Er beschreibt das männliche und das weibliche Prinzip, ohne von einer Möglichkeit der Auflösung dieser unterschiedlichen Typen auszugehen. Er warnt vor einer Pädagogik, die geschlechtslose Jugendliche zum Ziel hat. Ziel des reflektierten Ansatzes ist es, eine stabile männliche Identität zu erlangen und weibliche Anteile zu integrieren. Stärken und Schwächen von Jungen werden berücksichtigt und in „motivierenden Gedeihräumen“ (Sielert 1989) haben Jungen die Möglichkeit neue Qualitäten zu entwickeln.
Emanzipatorische Jungenarbeit
Die emanzipatorische Jungenarbeit wurde im Wesentlichen von Michael Schenk (1991) entwickelt. Er geht von einer deutlich parteilichen Grundhaltung aus, die Jungen werden so wie sie sind in den Blick genommen, nicht negativ oder positiv bewertet. Jungen werden unterstützt, gefördert und angeregt, den gesellschaftlichen „Männerkodex“ abzustreifen, eigene Erfahrungen zu machen und ihre eigene Identität zu entwickeln.
Identitätsorientierte Jungenarbeit
Die identitätsorientierte oder kritische Jungenarbeit, von Reinhard Winter (1994) entwickelt, geht davon aus, dass die Männer in der Sozialisation der Jungen weitestgehend fehlen. Dadurch erfahren Jungen vielfach nicht was Mannsein ist bzw. sein kann. Sogenannte weibliche Eigenschaften wie Weichheit, Angst, Gefühle sind für Winter ebenso männliche Eigenschaften wie z. B. Stärke, Mut etc. Winter sagt: „Die Vielfalt des Mannseins setzt sich in Kontrast zur Einfalt der Männlichkeit“. Die kritische Jungenarbeit ermuntert Jungen, ihre Handlungskompetenzen zu erweitern.
Der mythopoetische oder maskulinistische Ansatz
Dieser Ansatz (Forschungsgruppe Jungenarbeit Göttingen 1996) geht davon aus, dass Jungen ihre Aggressionen nicht in positiver Weise ausleben können, stattdessen wird dieses Potenzial in Wut und Gewalt ausgelebt. Den Jungen fehlen in ihrem ersten Lebensdrittel spirituelle, männliche Mentoren, die ihnen positive Energien vermitteln. Von der traditionellen Pädagogik erwarten die Jungen nichts mehr.
Das Variablenmodell / Balanciertes Junge- und Mannsein2
Das Variablenmodell ist ein theoretisches Konzept zur Arbeit mit Jungen, das Reinhard Winter und Gunter Neubauer in ihrem Buch „Dies und das! Das Variablenmodell – balanciertes Junge- und Mannsein – als Grundlage für die pädagogische Arbeit mit Jungen und Männern“ darstellen. Ziel ist es, Jungen zu einer ausgewogenen Persönlichkeit zu verhelfen. Es wurde von den Autoren in der praktischen Arbeit mit Jungen erarbeitet und erprobt und bietet so eine ideale Möglichkeit, die Arbeit mit Jungen in einen pädagogischen Zusammenhang zu stellen. Das Modell bietet sowohl die Möglichkeit, einzelne Jungen als auch Gruppen in ihrer Entwicklung einzuschätzen. Wo sind Stärken, wo ist Entwicklungsbedarf? Durch die Orientierung auf die Stärken (Ressourcen) der Jungen wird ein Blick, der nur Defizite und Negatives an den Jungen entdeckt, vermieden. Es wird möglich zu erkennen, an welchen Stellen mit den Jungen im Sinne einer positiven Entwicklung gearbeitet werden kann. Es wird also nicht gegen, sondern für etwas gearbeitet. Das Variablenmodell bietet darüber hinaus eine gute Möglichkeit die eigene Arbeit als Pädagoge professionell zu reflektieren.
Folgende Reflexionsfragen sind ein Element einer jungenbezogenen Situationsanalyse, die den Blick für die Jungen öffnet:3
• Wie erlebe ich Jungen?
• Wo halten sich Jungen überwiegend auf?
• Welche Programmpunkte, Spiele, Materialien bevorzugen...