Glück und dann ...
Du schaffst es, du schaffst es, dröhnt es in meinem Hinterkopf. Die Kräfte schwinden. Gleichzeitig ein Gefühl wie im Rausch. „Sarah, Sarah,…“ - Anfeuerungsrufe dringen in mein Bewusstsein. Neben mir sehe ich die Konkurrentin aus England auftauchen. Wie in Trance mobilisiert mein Körper die letzten Kräfte, die Ziellinie fliegt auf mich zu. Ich ringe nach Luft, alle rufen „Sarah, Sarah,...“
Langsam beginnt mein Inneres zu hoffen - habe ich es tatsächlich geschafft? Bin ich Olympiasiegerin? Ganz allmählich wache ich auf aus der unwirklichen Trance und schaue auf die Tafel:
Platz 1: Sarah Kraft.
Ist das wirklich wahr? Ist es wahr geworden, wofür ich so viele Jahre alles gegeben habe? Ist der Augenblick des Glücks da? Ja, ja, ja -
welch purer Rausch des Glücks!
Immer noch wie benommen warte ich auf die Siegerehrung. Mein Name ertönt über den Lautsprecher, ich steige auf das Siegertreppchen, die Zuschauer jubeln … nur Jenny aus England rechts neben mir nicht. Das berührt mich nur ganz kurz. Jetzt nur freuen und feiern, das Ziel ist erreicht, die Ernte ist eingefahren. Eine Mischung aus Stolz und Euphorie packt mich. Später fließt Sekt und alle Anspannung fällt ab. Ich lache, andere lachen mit mir.
Nur einer scheint sich nicht richtig freuen zu können, mein Ehemann Gerd. Ich schiebe auch das beiseite, jetzt ist Freude angesagt.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem ungewohnten Gefühl: ein Brummschädel und alle Glieder taten weh. Ich hatte einfach keine Lust die Augen aufzumachen, geschweige denn aufzustehen. Irgendwann öffnete ich doch die Augen. Das Bett neben mir war leer, wo war Gerd?
Ich rief - keine Antwort.
Nach zwei Minuten öffnete sich die Hotelzimmertür und Gerd stand da, schon schrecklich wach und mit einem Tablett mit Kaffee und Croissants in der Hand. Ein ganz neues Gefühl für mich. Sonst war ich morgens immer als Erste auf den Beinen und hatte bereits eine Trainingseinheit hinter mir, bevor ich Gerd weckte. In meine Freude über das schöne Frühstück mischte sich ein komisches Gefühl. Gerd war so merkwürdig distanziert. Wieder schob ich das Gefühl beiseite und genoss das Frühstück im Bett.
Danach bereitete ich mich auf die Pressetermine vor. Was werden sie mich fragen? Jetzt nichts Falsches sagen, eine gute Figur machen, um für Sponsoren interessant zu sein. - Was spielt sich denn da jetzt in meinem Kopf ab?
Bisher war mir nur der Sport wichtig und nicht das Geld. Aber irgendwie veränderte sich gerade etwas. Ich war Olympiasiegerin, ich stand im Mittelpunkt. Jetzt galt es, diese Chance zu nutzen. Meine Nervosität stieg.
Ich beruhigte mich und stellte mir vor, es sei ein Wettkampf. Und da hatte ich bewiesen, dass ich im entscheidenden Moment voll da war.
Also wie üblich fünf Minuten sammeln und sich vorstellen, wie Sarah die Situation mit den Reportern souverän meistert.
Die Sportreporter erwarten mich schon im Foyer. Spontaner Applaus und dann die neugierigen Mikrofone vor der Nase.
„Frau Kraft, wie haben Sie es geschafft, die Favoritin im entscheidenden Rennen zu schlagen?“
Ich überlegte kurz und versuchte eine kluge Antwort zu finden: „Ja Jenny ist sehr stark und es war wichtig, mich nicht klein zu machen, mir meinen Sieg immer wieder als Tatsache vorzustellen. Mein Trainer hat mir einmal gesagt, es kommt nicht nur auf das Können und die Kraft an, sondern auch auf die mentale Stärke im entscheidenden Augenblick. In diesem Zusammenhang vielen Dank an meinen Trainer und dafür, dass er an mich geglaubt und mich täglich gequält hat.“ Das leichte Lächeln der Journalisten zeigte mir, dass meine Antwort gut war. Davon beflügelt ergänzte ich „Natürlich wäre dies alles nicht möglich gewesen ohne die großzügige Unterstützung der Sponsoren.“ Ich registrierte unterschwellig, dass der Nachsatz nicht so gut ankam und ich mich auch nicht mehr so sicher und souverän fühlte.
Aber für Reflektion blieb keine Zeit. Die nächste Frage war im Anmarsch: „Was werden Sie nach Ihrem Olympiasieg machen, werden Sie sich ein weiteres sportliches Ziel setzen oder sich aus dem aktiven Sport zurückziehen?“
Diese Frage erzeugte eine Schrecksekunde: Mattscheibe. Danach schossen mir im Millisekunden-Takt Gedanken durch den Kopf: Wieso aus dem aktiven Sport zurückziehen - das ist eine Frechheit! Sollte mit dem Sieg alles aus sein? Über alles hatte ich mir Gedanken gemacht, nur nicht über diese Frage.
Die Pause wurde peinlich lang. Daher besann ich mich auf das, wonach ich mich jetzt sehnte und antwortete: „Jetzt ist erst mal Zeit für Urlaub und für meinen Mann“ - und lächelte dabei Gerd an. Das rettete die Situation, die Journalisten hatten wieder ein leichtes Lächeln im Gesicht. Nur Gerd schien sich nicht besonders über meinen Kommentar zu freuen.
Irgendwie fühlte ich mich plötzlich gar nicht mehr als strahlende Siegerin, die es geschafft hat, sondern wie jemand, der ziellos und unsicher durch die Gegend läuft.
Wie die Pressekonferenz weiter verlief habe ich vergessen. Ich weiß nur, dass ich die Fragen mit der üblichen Routine beantwortete ohne viel preiszugeben.
Woran ich mich jetzt nach einem Jahr noch so genau erinnere als wenn es heute wäre, ist die Heimfahrt mit Gerd. Endlich war der Rummel vorbei, endlich mit Gerd alleine im Auto. Gerd war ungewöhnlich ruhig. Was ist mit ihm los? Kommt er nicht damit zurecht, dass ich jetzt so erfolgreich bin und er nur im Schatten steht? Irgendetwas lag in der Luft. Aber Gerd war nicht der Typ, den man direkt darauf ansprechen durfte. Also versuchte ich ihn erst einmal aufzubauen und sagte ihm, dass ich mich heute Morgen sehr über die Betreuung und den Kaffee am Bett gefreut hatte. Das schien ihn jedoch nicht besonders aufzuheitern, irgendetwas lag ihm auf der Seele.
Ich hielt es nicht mehr aus, ich musste ihn fragen: „Gerd, ich habe den Eindruck, du fühlst dich nicht wohl. Ich weiß, es ist nicht einfach im Schatten zu stehen, aber das bewundere ich ja an dir, dass du nicht im Mittelpunkt stehen musst!“ Gerds Mimik öffnete sich, aber er sah immer noch gequält aus, als ob ihn irgendetwas sehr belasten würde.
„Nein, das ist es nicht Sarah, ich finde es toll, dass du das geschafft hast, aber ich muss dringend etwas mit dir besprechen!“
„Was ist denn, Gerd?“, entgegnete ich.
„Lass uns das zuhause besprechen, das geht nicht beim Autofahren“.
Betroffen setzte ich mich zurück. Was war los? Was hatte er Wichtiges zu besprechen? Wie ich so eine Situation hasste, Andeutungen machen und dann den Partner zwei Stunden zappeln lassen. Ich entschloss mich, nichts zu sagen, war aber innerlich sauer darüber. Gerd war so sensibel und trotzdem kapierte er nicht, dass das für mich unnötige Quälerei bedeutete. Bei aller Härte im Sport stecke ich so etwas privat nicht so leicht weg. Zuhause angekommen schien Gerd alle Zeit der Welt zu haben, auszupacken. Er machte es noch bedächtiger als sonst. Er schien Angst zu haben vor dem Gespräch. Was war los?
Unvermittelt fragt er mich: „Möchtest du ein Glas Wein?“
Spontan stimmte ich zu, obwohl mir der Kopf noch brummte von dem vielen Alkohol auf der Siegesfeier. Vielleicht entkrampfte der Wein ja die Situation.
Wir gingen ins Wohnzimmer. Gerd machte den Kamin an und wir stießen noch einmal auf meinen Sieg an. Er schien immer nervöser zu werden. „Was ist los?“ fragte ich.
Gerd druckste herum und dann brach es aus ihm heraus: „Sarah ich weiß, dein Sport ist dir sehr wichtig, und wenn du ehrlich bist, war er in den letzten Jahren für dich wichtiger als ich.“
Diese Einleitung irritierte mich. Ich merkte intuitiv, dass es falsch sein würde, darauf zu antworten, sondern ließ ihn weiter reden.
„Sarah, ich verstehe das ja, aber verstehe bitte auch, dass das eine Partnerschaft auf Dauer nicht aushält. Ich wollte schon lange mit dir darüber sprechen, aber du warst so auf die Olympiade fixiert und ich wollte dich nicht damit belasten. “ Mit einem Mal war mir alles klar, sein merkwürdiges Verhalten in den letzten Monaten und jetzt dieses Drum-herum-eiern.
Ich platzte heraus vor Wut und Traurigkeit: „Kenne ich sie?“
„Nein“ war seine kurze Antwort mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung im Gesicht.
Erst jetzt spürte ich den vollen Schock, den diese Botschaft auslöste.
Jetzt, wo mein Ziel erreicht war und ich mich so danach gesehnt hatte, wieder Zeit mit Gerd zu verbringen, dieses Aus.
Wie paralysiert, als ob alle Gefühle schockgefroren wären, fragte ich sachlich und kühl „Und was jetzt?“.
„Ich ziehe aus. Ich lasse dich jetzt besser allein und hole dann in den nächsten Tagen meine Sachen.“
Völlig geschockt von seinem rücksichtslosen Verhalten entgegnete ich unterkühlt: „OK, dann geh.“
Alleingelassen und einsam am Ziel meiner Olympia-Träume, saß ich vor dem Kamin...