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E-Book

Dramaturgien des Films

Das etwas andere Hollywood

AutorMichaela Krützen
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl624 Seiten
ISBN9783104009445
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Das Hollywoodkino spielt vertraute Geschichten in immer neuen Abwandlungen durch - genau das ist seine Stärke. So variiert ein Film wie »Million Dollar Baby« virtuos die Muster des klassischen Erzählens und erweitert damit die filmsprachlichen Möglichkeiten. Anhand prominenter Beispiele untersucht Michaela Krützen, was die Filme des »etwas anderen Hollywood« so besonders macht und arbeitet die drei aktuellen Strategien heraus, mit denen die alten Geschichten neu aufgeladen werden: Das Kino der Gegenwart bietet unzuverlässige Erzählungen, nicht-chronologische Geschichten und mehrsträngige Handlungen. Wer die lebendig geschriebenen Analysen von »The Usual Suspects«, »Mulholland Dr.«, »Pulp Fiction«, »Memento«, »Short Cuts«, »Twelve Monkeys«, »Traffic«, »The Hours« oder »Adaption.« gelesen hat, wird diese Filme noch einmal, nämlich mit anderen Augen sehen wollen.

Michaela Krützen, geboren 1964 in Aachen, ist seit 2001 Professorin für Medienwissenschaft an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Im Fischer Verlag sind zuletzt  erschienen »Klassik, Moderne, Nachmoderne. Eine Filmgeschichte« (2015), »Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood« (2010), »Väter, Engel, Kannibalen. Figuren des  Hollywoodkinos« (2007), »Was ist Pop?« (Hg., 2004) sowie »Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt« (2003).

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Leseprobe

Zwei Variationen: Rocky Balboa und Jack LaMotta


Rocky Balboa ist ganz sicher kein Mann auf dem Weg nach oben. Seine besten Zeiten als Boxer sind längst vorbei, und er ist zu alt für einen Neuanfang. Rocky hat sich mit seinem Leben arrangiert und sucht keine Herausforderung. Er verdingt sich als Gelegenheitsboxer und verdient sein Geld als Geldeintreiber. Dabei ist Rocky viel zu gutmütig für seinen Job, da er den Gläubigern keine Finger brechen möchte. Der nette Italiener versorgt zwei Schildkröten und liebt einen hässlichen Hund. Er wirkt unbeholfen: Sein Hut ist zu klein, und seine Brille ist zu groß. Außerdem hat er sein Herz an die unscheinbare Adrianna Pennino verloren. Er umwirbt die bebrillte und verschüchterte Frau geradezu rührend. Auch diese Liebesbeziehung unterscheidet Rocky von allen seinen filmischen Vorgängern. Ihn wird keine Platinblondine verführen. Adrianna ist keine femme fatale. Sie fordert keinen Nerz, sondern füttert die Hamster in ihrer Zoohandlung. ROCKY zeigt einen nuschelnden Tierfreund, der eine schüchterne Verkäuferin verehrt; die Figurenzeichnung und die Figurenkonstellation des Films sind eine erste Variation des gängigen Schemas.

Abbildung 12: ROCKY (Adrianna und Rocky)

In Bezug auf die Boxkarriere scheint ROCKY jedoch dem konventionellen Muster zu folgen: Ein Zufall ändert Rockys Leben. Der amtierende Weltmeister Apollo Creed will einem unbekannten Amateur eine Chance geben, nachdem sich sein ursprünglich angesetzter Gegner verletzt hat. Und seine Wahl fällt ausgerechnet auf den lethargischen Rocky, den jetzt doch der Ehrgeiz packt. Der Boxer verändert sich: Unterstützt von seinem knorrigen Trainer bereitet er sich ernsthaft vor. Ihm gelingt es, seine Antriebslosigkeit zu überwinden. Er arbeitet an der Boxbirne, am Sandsack und mit dem Seil. Eine Montagesequenz zeigt {21}Rocky, der im Schlachthof auf Schweinehälften einprügelt und im Morgengrauen durch leere Straßen joggt. Begeistert reißt er die Arme hoch, als er eine steile Treppe bezwungen hat. Jetzt ist Rocky gerüstet für den finalen Kampf!

Der Ablauf dieses Films – karges Leben, hartes Training, entscheidender Kampf – entspricht auf den ersten Blick dem üblichen Bauplan. Auch kann der Film ganz klar in drei Akte gegliedert werden, wie alle früheren Boxfilme. Das zerschlagene Gesicht von Rocky unterscheidet sich nicht von dem Midge Kellys. Auch sein Weg ist ein Opferweg. Doch gibt es eine wichtige Innovation im Ablauf der Geschichte: Es ist von Beginn an klar, dass Rocky nicht gewinnen kann. Aber überraschenderweise gelingt es ihm, alle Runden gegen Creed zu überstehen. Rocky hat seine Ehre verteidigt. Mit blutüberströmtem Gesicht schreit er den Namen der von ihm geliebten Frau – so endet der Film. Setzt man das Ende des Films in Beziehung zu seinem Anfang, so zeigt sich, dass ROCKY das Muster des Boxfilms nicht nur in Bezug auf die Figuren, sondern auch in dramaturgischer Hinsicht modifiziert: Der Film zeigt eine ungewöhnliche Auflösung, einen innovativen Showdown. Rockys Niederlage ist sein Sieg.

 

Rund sechs Jahre nach Rocky tritt ein weiterer Boxer in den Ring: Jake LaMotta, die Hauptfigur aus RAGING BULL. Martin Scorsese schildert {22}im Rückblick das Leben des Mittelgewichts, von seinen frühen Kämpfen zu Beginn der vierziger Jahre bis zu seinem Leben als Entertainer, gut zwanzig Jahre später. Zwar stammt The Raging Bull Jake wie auch The Italian Stallion Rocky aus einer mittellosen, italienischen Einwandererfamilie. Doch damit sind die Gemeinsamkeiten auch schon benannt. Rocky ist ein integerer Ehrenmann, während Jake sich für einen Titelkampf bestechen lässt. Der Choleriker schlägt seine Ehefrau und betrügt sie mit einer minderjährigen Platinblondine, mit der er heimlich in der Wohnung seiner Eltern schläft. Jake ist nicht nur gewissenlos, sondern auch noch unbeherrscht und unberechenbar. Als seine Frau ihm das Steak nicht sofort auf den Teller legt, wirft er gleich den ganzen Tisch um, schubst sie aus dem Raum und brüllt, er werde sie töten.

Die Differenz zwischen den beiden Boxern ist augenfällig: Jake ist skrupellos, Rocky fürsorglich. Er bringt ein junges Mädchen aus seinem Viertel nach Hause, damit ihm auf dem Heimweg nichts passiert. Jake hingegen verführt einen Teenager, ohne die Folgen zu bedenken. Geht es Rocky um Liebe, so kennt Jake nur Lust. Rocky hat Freunde, ist loyal. Jake hingegen ist ein egoistischer Tyrann, eifersüchtig und blutrünstig. Der Farbfilm ROCKY zeigt das harte Training des Boxers, während die schwarzweißen Bilder von RAGING BULL vor allem die Maßlosigkeit seines Titelhelden präsentieren. Der junge Jake schlägt wie im Rausch auf seine Gegner ein, der alte Jake isst und trinkt zügellos. Ein bezeich{23}nender Unterschied: Der muskelbepackte Rocky drischt im Training auf Schweinehälften ein, der fette Jake verputzt sie genüsslich.

Abbildung 13: RAGING BULL (Jake mit Vicky)

Rocky und Jake – die gute Seele und der bösartige Schläger. Die beiden Figuren sind Extreme, die es so im Boxfilm noch nie gegeben hat. Die Zuschauer am Ring bejubeln Rocky und buhen Jake aus: »People hate him!« Stallone erzählt in seinem Drehbuch von einem rasanten Aufstieg, einer Selbstfindung, die sich innerhalb weniger Wochen vollzieht. Scorsese hingegen schildert einen über Jahrzehnte dauernden Lebensweg, eine stufenweise Selbstzerstörung.

Hinzu kommt, dass RAGING BULL nicht auf einen finalen Kampf hinausläuft, eine wichtige Innovation im Umgang mit dem Genre. Der dritte Akt des Films handelt von Jakes Leben nach seinem letzten fight. Er muss ins Gefängnis, da er mit einem vierzehnjährigen Mädchen geschlafen hat. Seine Frau verlässt ihn, seinen Bruder hat er höchstpersönlich vergrault. Der einsame Jake hockt weinend in Einzelhaft: »I’m not that bad.« Schließlich landet er als abgehalfterter Alleinunterhalter in einem Striplokal. Die letzten Einstellungen des Films entsprechen den ersten Bildern: Der Ex-Boxer sitzt in seiner Garderobe und übt seinen Text für einen einmaligen Gala-Auftritt. Geht es in ROCKY um eine einmalige Gelegenheit, so handelt RAGING BULL von tausend verpassten Chancen.

 

Mit diesen beiden Filmen, die in relativ kurzem Abstand in die Kinos kamen und sogar vom gleichen Team produziert wurden (Robert Chartoff und Irwin Winkler), sind zwei mögliche Entwicklungslinien des Grundmusters ausgereizt; beide setzten sich jeweils deutlich, aber in ganz unterschiedlicher Art und Weise von Filmen wie CHAMPION ab. Sie loten sozusagen die Grenzen des Genres in zwei Richtungen aus. Jake ist eine radikale Steigerung von Midge, während Rocky als dessen Gegenentwurf zu verstehen ist. Diese Konstellation hat Konsequenzen für den Boxfilm. Es ist seitdem problematisch, überhaupt noch eine Variation zu finden. Wer kann gutmütiger sein als Rocky oder brutaler als Jake?

Auch aus diesem Grund kommen nach 1980 neben den Sequels zu ROCKY und ein paar Remakes nur noch Biopics in die Kinos, wie zum Beispiel ALI (2001). Daneben gibt es noch ein paar erfolglose Komödien wie etwa THE GREAT WHITE HYPE (1996) und AGAINST THE ROPES (2004). Die zweite Flaute des Genres dauert rund zwanzig Jahre – wie {24}schon die erste. Sie wird erneut von einem Überraschungserfolg durchbrochen: MILLION DOLLAR BABY, der 2004 in die Kinos kommt, erweist sich als tragfähige Variante des Boxfilms. Der Film spielt weltweit rund 217 Millionen Dollar ein und dominiert bei der Verleihung der Oscars im Jahr 2005 mit sieben Nominierungen und vier Auszeichnungen.[42]

 

MILLION DOLLAR BABY folgt bis zu Maggies unheilvollem Sturz im Prinzip dem bekannten Schema. Die Hauptfigur ist so arm, dass sie sich von Essensresten aus dem Lokal ernähren muss, in dem sie kellnert. Und sie ist so unerfahren, dass sie die Boxbirne kaum trifft. Maggie hat zudem das Handicap, zu spät mit dem Training begonnen zu haben. Sie ist chancenlos. Doch dann übernimmt Frank ihre Ausbildung, und sie wird immer besser. Zu sehen ist – wie üblich – Arbeit an der Boxbirne, am Sandsack und mit dem Seil. Sie ist außergewöhnlich talentiert und siegt. Mit dieser Entwicklungslinie knüpft MILLION DOLLAR BABY an ROCKY an. Es geht um eine winzige Chance, die ein Boxer nutzt.

Wie Rocky wird auch Maggie von einem alten, bärbeißigen Trainer unterstützt, der ein zweitklassiges Boxstudio betreibt. Die Skrupellosigkeit der Gegner ist eine weitere Parallele zwischen den beiden Figuren. Rocky kämpft gegen einen blonden, skrupellosen...

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