Vorwort
Am 22. Juni 1941 überfällt die Wehrmacht die Sowjetunion (mit der Deutschland im August 1939 einen Nichtangriffspakt geschlossen hatte). Es ist der Eintritt in ein neues Zeitalter des Verbrechens von Menschen an Menschen, etwas, das wir uns angewöhnt haben, Holocaust oder Shoah zu nennen – die Vernichtung der Juden im deutsch besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges, eine Tötungsenergie, wie die Welt sie noch nicht erlebt hatte.
Jetzt treten die sogenannten Einsatzgruppen auf, über die ganze 2000 Kilometer lange Front zwischen Leningrad und Schwarzem Meer verteilte mobile Todeskommandos, die mit Hilfe einheimischer Helfer innerhalb von weniger als einem Jahr in den baltischen Staaten, in Russland, Weißrussland und der Ukraine über eine Million Menschen umbringen werden, überwiegend Juden. Es ist so etwas wie der »wilde Holocaust«, die Ouvertüre, der Genozid vor seiner Technisierung durch die Gaskammern und Hochöfen der stationären Todesfabriken Auschwitz, Treblinka, Belzec, Sobibor und Chelmno.
Ein Teil des Dramas, seine Initialzündung, wird der Untergang der Litauer Judenheit. Er vollzieht sich in weniger als einem halben Jahr, von Ende Juni bis Ende November 1941, und ist akribisch aufgezeichnet in einem Dokument, das in der Holocaustforschung kaum seinesgleichen haben dürfte: dem »Jägerbericht« vom 1. Dezember 1941, ein früher Einblick in das Zeitalter der neuen Massenvernichtung, eine in den »Ereignismeldungen« an die Berliner Vernichtungszentrale Reichssicherheitshauptamt übermittelte Chronik, wann und wo wie viele Menschen erschossen oder erschlagen worden sind.
Benannt worden ist der Bericht nach Karl Jäger (1888–1959), Kommandeur des Einsatzkommandos 3 der Einsatzgruppe A, mit Schwerpunkt in Kaunas. Es ist die Probe aufs Exempel – wann immer es ab jetzt der Mörder bedurfte, sie waren zur Stelle. Wobei der Radius des Vernichtungsapparates stets identisch war mit dem der deutschen Fronten, ob Vormarsch oder Rückzug – der territoriale Machtbereich der Wehrmacht bildet die Voraussetzung für den Holocaust.
Und Karl Jäger wird zu seinem pedantischen Protokollanten auf litauischem Boden, dem es auf die Ziffer hinter dem Komma ankommt. Nur dass er nicht Erbsen zählte, sondern Leichen.
Seine Biographie ist eingeschlossen in die Geschichte des deutschen Nationalsozialismus und seinen Zeitgeist, eine weithin exemplarische Sozialisierung im Schoße der deutschen Rechten, mit frühem Eintritt in die NSDAP, schon 1923. Es ist ein Dasein, das man vor diesem Hintergrund überblickhaft vereinfachen kann auf die Formel: Ein Musiker aus der südbadischen Kleinstadt Waldkirch wird zum Henker, ein Orgelbauer zum Buchhalter des Todes. Unheimlicherweise verlässt einem beim Studium dieser Vita nicht das dumpfe Gefühl, es hier mit einem zeitgenössisch austauschbaren Schicksal zu tun zu haben. Karl Jäger wird jedenfalls nicht mit Teufelshörnern und Pferdehuf geboren, wohl aber zu einem der effizientesten Massenmörder der neueren Geschichte werden. Wir müssen mit der Erfahrung fertig werden, dass es viele seinesgleichen gegeben hat.
Den Anfang des Großpogroms übernehmen die Litauer selbst, noch bevor die Tötungsmaschine der Deutschen angeworfen ist – der Mob bedarf keiner speziellen Aufforderung, er weiß sich einig mit den Siegern und ihrer Übermacht. So kommt es in den ersten vierzehn Tagen nach dem Einmarsch schon zu einem wahren Tötungsrausch, komprimiert zwischen dem 25. und 29. Juni 1941 – Mord auf offener Straße und in Anwesenheit grinsender Wehrmachtangehöriger; Massenerschießungen durch rasch zusammengestellte litauische Peletons; stählerne Brechstangen als Tötungswerkzeug. Die Kollaborationsbereitschaft von Teilen der Bevölkerung ist erschreckend.
Dann sehr rasch die Ausweitung des Verbrechens über die Kollaboranten hinaus, die Expansion der Vernichtung durch die mobilen Todeskommandos, darunter das Jägersche Nr. 3; die Ghettoisierung der Juden in Kaunas; dann Namen, die bis dahin keiner kannte, die nun aber zu schrecklicher Bedeutung kommen: Rokiskis, Kedainiai, Paneriai und Hunderte andere, sie alle mit dem gleichen Merkmal – Leichengebirge.
Über allem aber der Herr der killing fields, Anführer des Einsatzkommandos 3, der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes für den Generalbezirk Litauen – Karl Jäger.
Der hat ein Bewährungssyndrom, eine psychoneuralgische Störung, mit fürchterlichen Folgen für die Juden Litauens. Jäger ist der Älteste der Einsatzgruppen- und -kommandoführer, ohne den akademischen Bildungsstand seiner jüngeren »Kollegen«. Das erzeugt einen Druck, sich selbst und anderen fortwährend beweisen zu müssen, dass er »mithalten« kann und nicht zu alt ist für die »Aufgabe«, die er hat. Er musste »besser sein«, musste höhere Mordziffern als andere vorweisen, wenn er vor seinen gebildeteren Kameraden und Vorgesetzten bestehen wollte.
Und das kann er: 133346 ermordete Juden innerhalb von fünf Monaten, von Ende Juni bis Ende November 1941, so die jubelnde Bilanz des Jäger-Berichts, ein bürokratischer Fanfarenstoß, der Triumph einer persönlichen Vollzugsmeldung: »Ganz Litauen ist nunmehr judenfrei.«
Sein »Bericht« lag den Nürnberger Tribunalen (1945–1949) noch nicht vor, obwohl der Sowjetführung schon während des Krieges eine Ausfertigung in die Hände gefallen war. Und so übergab das sowjetische Außenministerium erst im Jahr 1963 das Dokument lustlos der Ludwigsburger Zentralen Stelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen.
Da war Jäger schon seit vier Jahren tot.
Es ist eine Lektüre, die kein Mensch ohne Pausen und Unterbrechungen durchstehen kann. Was sich von Seite zu Seite immer mehr auftut, ist der kaum aushaltbare Gegensatz zwischen der entmenschten Statistik Karl Jägers und der blutigen Wirklichkeit dahinter durch die Zeugnisse der wenigen Überlebenden; der fürchterliche Kontrast zwischen der zahlenversessenen Bürokratie des Holocaust und seiner Individualisierung und Personifizierung durch die Entkommenen.
Aus dem Munde der Täter selbst erfahren wir nichts. Kein Wort, keine Silbe, kein Buchstabe, wie ihre Opfer entrechtet, ausgeraubt und schließlich umgebracht wurden – nur Schweigen. Schweigen über einen Ausrottungsfeldzug im Schatten der Wehrmacht, von logistischer Hilfe bis zu aktiver Beteiligung an den Exekutionen. Hatte es 1939/40 im besetzten Polen bei der sogenannten Flurbereinigung der SS (grausame »Umsiedlung« von Juden, mit Tausenden von Toten) noch offen geäußerte Empörung durch hohe Offiziere gegeben – davon jetzt keine Spur mehr.
Umso leuchtender die wenigen Gegenbeispiele von »unten«, wie das des Feldwebels Anton Schmid, der dem jüdischen Widerstand im Ghetto von Wilna half und dafür mit dem Leben bezahlen musste.
Das Neue, Ungeheuerliche, was da in die Geschichte der Menschheit einzieht, konnte aber selbst bei den Mördern nicht ganz ohne Wirkung bleiben – auch Karl Jäger musste zunächst mit inneren Hemmungen fertig werden. So hat er einem noch Schuldigeren, dem SS-Offizier, Chef der Einsatzgruppe A und Befehlshaber der Sicherheitspolizei Ostland, Heinz Jost, das Geständnis gemacht: Er sei ein verlorener Mensch, ihm nütze weder ein Sanatoriumsaufenthalt noch ein Urlaub, denn er fände keine Ruhe mehr, könne nicht mehr schlafen, und weder seiner Frau guten Gewissens gegenübertreten noch seine Enkel auf den Schoß nehmen, wenn er an die Erschießungen denke …
Wir kennen ähnliche Äußerungen von ehemaligen Angehörigen der Einsatzkommandos, ohne dass solche Hemmnisse faktische Folgen hatten. Es waren dann auch verschwindend wenige, die sich der Massentötungen an wehrlosen Männern, Frauen und Kindern verweigerten, ohne dass auch nur einer von ihnen dadurch einen Karriereknick hinnehmen musste, kein Einziger. Allerdings waren es wenige genug, und es bleibt die Frage, ob es bei größerer Verweigerung nicht sehr wohl zu drastischen Konsequenzen gekommen wäre.
Jägers innere Hemmnisse, wenn es sie denn tatsächlich gegeben hätte, haben zu keinem Zeitpunkt auch nur in die Nähe einer Verweigerung geführt. Eher wirkten sie noch über das »Soll« hinaus stimulierend.
Karl Jäger überstand den Zweiten Weltkrieg, er floh nach dessen Ende nicht und tauchte auch nicht unter, sondern lebte in der Nähe der alten Universitätsstadt Heidelberg unter seinem richtigen Namen, verschwieg aber seine Zugehörigkeit zu NS-Organisationen. Die Entnazifizierung stufte ihn als »nichtbelastet« ein.
Viele Sorgen seiner Landsleute wegen brauchte Karl Jäger sich damals in den 1950er Jahren nicht zu machen. Ihr überwiegender Teil hatte mit der Aufarbeitung des Dritten Reiches nichts im Sinn, und mit der eigenen Rolle darin schon gar nicht. Und so dauerte es denn auch noch vierzehn Jahre, bis Jäger festgenommen wurde – am 10. April 1959, wegen »Mordverdachts«. Man stockt …
Sein Verhalten in der Haft war charakteristisch für Täter seiner Gattung, und stimmt völlig überein mit meinen Beobachtungen bei den NS-Prozessen vor bundesdeutschen Schwurgerichten über Jahrzehnte hin. Genaue Erinnerungen bis in kleinste Details an alles jenseits des Tatbereichs, aber notorischer Gedächtnisschwund, sobald es um seine Rolle als Kommandeur des Einsatzkommandos 3 ging. Die leugnete er nicht, wollte aber mit den Erschießungen nichts zu tun gehabt haben, sondern nur ihr Chronist gewesen sein. Als hätten seine Männer aus eigenem Antrieb ein Massaker nach dem anderen verübt. Manchmal, so...