6. Gebäude: Anpassungsarchitekturen optimieren ihr Verhältnis zur Umwelt
Die Weltmeister im Überschwemmungsschutz sind die Niederlande. Hunderte Millionen Euro kostet jedes Jahr der Küstenschutz, und wenn mit dem Klimawandel tatsächlich der Meeresspiegel steigt, wird es noch viel teurer. Sich an den Klimawandel anzupassen ist deshalb nicht nur für Städte, sondern auch für einzelne Gebäude eine wichtige Aufgabe. Derzeit findet ein strategisches Umdenken statt. Nicht mehr nur Dämme, sondern reaktive Häuser sind eine Antwort auf zukünftige Überschwemmungen: Nun werden amphibische Häuser gebaut. Das sind moderne Pfahlhäuser, die bei Hochwasser nicht überschwemmt werden, sondern einfach nach oben treiben. Ist die Flut vorbei, sitzen sie wieder auf dem Trockenen.
Nicht nur auf Wasser, auch auf Hitze kann Planung in ähnlich taktischer Weise reagieren. Ein Beispiel dafür sind die Eco Boulevards[26] in Vallecas, einem Vorort von Madrid, der bereits heute unter starker Hitze leidet. Bis die Bäume in dieser Neubausiedlungen so gewachsen sind, dass sie im Sommer Schatten spenden, wird noch einige Zeit vergehen. Deshalb wurden dort künstliche Bäume gebaut, zylindrische Stahlgerüste von über 17 Meter Höhe und 20 Meter Durchmesser. Diese Strukturen sind auf der Innenseite mit künstlich bewässerten Pflanzen bestückt, die ein behagliches Mikroklima im öffentlichen Innenraum herstellen und auch auf die Umgebung ausstrahlen.
Wenn wir also über zukünftige, kühlende und luftreinigende Grünräume nachdenken, handelt es sich dabei nicht nur um Parks und Gärten, sondern auch um neue architektonische Typologien. Manche davon sind eigentlich schon lange bekannt, aber noch nicht weit verbreitet. Wie zum Beispiel Gründächer, die Ikone der Ökoarchitektur der 1980er Jahre. Nun hat Toronto ein Dachbegrünungsgesetz erlassen, um Gründächer zu fördern. Denn Gründächer bieten viele Vorteile: Sie verbessern nicht nur das Mikroklima, sondern sparen CO2, binden Feinstaub und dienen als Biotop für Insekten. Ein Vorteil ist auch, dass sie Kanalisation und Kläranlagen entlasten: Sie halten Regenwasser zurück, das wieder verdunsten kann. Das wiederum verursacht eine höhere Luftfeuchtigkeit, kühlt zudem und wirkt so dem Problem der »urban heat« in den Großstädten entgegen.
2006 startete Toronto mit dem Green Roof Incentive Pilot Program.[27] Das Royal Ontario Museum ist eines von 16 Pilotprojekten, die bis 2007 realisiert wurden. Im Climate Change, Clean Air and Sustainable Energy Action Plan von 2007 wurde dieses Programm und andere Initiativen unter dem neuen Eco-Roofs Program zusammengefasst und erweitert. Bis 2020 sollen mindestens 10 Prozent der gesamten industriellen, gewerblichen und staatlichen Dachflächen begrünt sein. 2009 verabschiedete Toronto das Green Roof Bylaw als Gesetz. Damit wird die stadtweite Dachbegrünungsstrategie auf Wohnbauten ausgeweitet. Gründachverordnung für Neubauten gibt es inzwischen in verschieden Städten, zum Beispiel in Linz, Toronto, Chicago oder Basel.
Die gleiche Funktion, allerdings in noch wenig bekannter Form, übernehmen grüne Fassaden und »vertikale Gärten«. Insbesondere vor dem Hintergrund von Hitzeinseln in verdichteten Innenstädten bekommen vertikale Gärten als klimaaktive Fassadenelemente eine neue Bedeutung. 1982 entwickelte der französische Botaniker und Gartenkünstler Patrick Blanc[28] ein patentiertes Verfahren, um Pflanzen in vertikalen Gärten den bestmöglichen Lebensgrund zu bieten. Mehrere Lagen Filz, die an der Wand fixiert und in den oberen Schichten eingeschnitten werden, ermöglichen eine dem Lokalklima angepasste Bepflanzung und Erweiterung des städtischen Biotops. Sein derzeit bekanntestes Projekt ist eine 600 Quadratmeter große Wand eines Gebäudes von Jaques Herzog und Pierre de Meuron am Caixa-Forum in Madrid. Inzwischen werden sogar Hochhäuser mit vertikalen Gärten geplant. Perspektivisch werden Gärten – ob vertikal oder auf Dächern als »Rooftopfarms« – auch für die Lebensmittelversorgung in Städten eine wichtige Rolle spielen. Eine erste, allerdings eher symbolisch motivierte Studie fertigte 2009 das niederländische Architekturbüro MVRDV[29] für Barcelona an.
Manchmal ist es aber nur die Farbe, die ein Gebäude ändern muss, um seine energetische Performance zu optimieren. So müssen seit Sommer 2009 in Kalifornien die Dächer von Gewerbeimmobilien weiß gestrichen oder mit entsprechend hellen Materialien ausgeführt sein, um die Aufheizung der Gebäude im Sommer zu verhindern – cool roofs, so heißt der Fachterminus in den USA.
Die Auseinandersetzung mit Klimawandel erzeugt neue Formen von Architektur, die versucht, auf ihre Umgebung zu reagieren – oder sich von ihr unabhängig zu machen.
Zum Beispiel der Urban Forest Tower, den das Pekinger Büro MAD[30] derzeit für das Zentrum von Chongqing plant. In diesem »Waldturm« stapeln sich Offices, Geschäfte und Grünanlagen zu einem 385 Meter hohen Wolkenkratzer. Die Bäume wachsen durch die Geschossdecken hindurch und verbinden so die unterschiedlichen Ebenen. Zukünftige Gebäude, so die Perspektive, die das Urban Forest Tower eröffnet, bilden in sich geschlossene Kreisläufe. Überhaupt sind Kreisläufe das A und O zukünftiger Planungen. Das »Cradle to Cradle«-Prinzip sieht vor, die gesamte Industrieproduktion so umstrukturieren, dass nur noch geschlossene Materialkreisläufe entstehen. Die Natur macht es vor: Alles Alte wird zum Aufbau von Neuem verwandt. Für die Architektur heißt das, dass man nur Baumaterialien benutzt, die weiterverwendet werden können, statt nur auf Energieeinsparung zu achten. Der Stuttgarter Ingenieur Werner Sobek plant deshalb Häuser, die sich komplett recyceln lassen. Das führt so weit, dass er an Verbundsystemen forscht, die nicht mit Klebstoff, sondern durch Vakuumierung zusammengehalten werden – wie die Erdnüsse in ihrer eingeschweißten Verpackung.
An seinem Stuttgarter Forschungsinstitut ILEK[31] wird auch an noch avancierteren Technologien geforscht, zum Beispiel dem Tissue Engineering für Bauteile. Bekannt ist dieses Prinzip aus der Biomedizintechnik, um aus körpereigenen Zellen neue »Bauteile« zu erstellen, zum Beispiel neue Knorpel oder Knochen. Seit 2006 untersucht das ILEK gemeinsam mit dem Tübinger Zentrum für Regenerationsbiologie und regenerative Medizin (ZRM), wie mit Techniken des Tissue Engineering dreidimensionale statisch und mechanisch wirksame Bauteile aus Zellgewebe hergestellt werden können. Durchgeführt werden die Projektversuche mit einem neuartigen Bioreaktor, in dem ein Ultraschallzerstäuber dreidimensionale Gewebe auf einer Matrix aus Rinderkollagen aufbaut. Anwendungen in größerem Maßstab könnten in Zukunft für Leichtbaustrukturen durch die Nutzung von Bakterien, Pilzkulturen oder pflanzlichen Zellgeweben wertvolle Ansätze liefern. Diese Bauteile wären im wahrsten Sinne des Wortes »nachwachsend«.
Die Realität des Bauens 2010 ist allerdings noch lange nicht so weit, doch auch in der heutigen Baupraxis zeigen Projekte, was in 20, 30 oder 40 Jahren Mainstream sein könnte. Die Frage nach der Energieversorgung unserer Gesellschaft wird die Zukunft von Stadt und Architektur wesentlich mitbestimmen. Bauformen werden verschwinden, von denen wir wissen, dass sie besonders verschwenderisch sind: Einfamilienhäuser oder Siedlungen mit geringer Dichte. Anwachsen hingegen werden verdichtete Wohngebiete, in denen die Wege kurz sind. Diese Strukturen werden sich als Energienetze verstehen, in denen Energieverbraucher und Energieproduzenten sich gegenseitig unterstützen.
Passivhäuser brauchen keine Energie, Energie-Plus-Häuser produzieren mehr Energie, als sie verbrauchen. Das Haus der Zukunft wird, so die optimistische Perspektive, ein kleines Kraftwerk sein. Die Anfänge sind schon heute zu begutachten: Gebäude werden hochgedämmt, sind ausgerüstet mit Photovoltaik, nutzen mit Wärmerückgewinnung die letzten Fitzelchen Abwärme, haben eine Außenform, die die Windströmung für die im Gebäude befindlichen Windturbinen optimiert, und nutzen für Wärmung die unter dem Gebäude befindliche Erdwärme und zur Kühlung nahe gelegene Gewässer. Gebäude in Stockholm, Melbourne und ein Pilotprojekt in Toronto geben einen Ausblick auf solche intelligenten Netzwerke.
Ein Bürogebäude in Stockholm[32] wird zum Teil mit der Körperwärme von den 200 000 Passanten des benachbarten Hauptbahnhofs beheizt. Über einen simplen Wärmetauscher wird der erhitzen Bahnhofsluft die Wärme entzogen, welche wiederum Wasser erhitzt, das dann durch Rohre zu dem geplanten Bürogebäude geleitet wird. Die Heizkosten des Bürogebäudes sollen um bis zu 20 Prozent verringert sein.
In Melbourne, wo man bis 2020 eine Zero-Emission-Stadt[33] sein möchte, ist die Stadtverwaltung beim Bau des neuen Rathauses[34] mit gutem Beispiel vorangegangen – und setzt dabei auf innovative Technik. 2006 wurde ein Bürogebäude für die städtische Verwaltung...