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E-Book

Luise Rinser

Ein Leben in Widersprüchen

AutorJosé Sánchez de Murillo
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783104012711
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Zum 100. Geburtstag von Luise Rinser am 30. April: Die große Biographie Mit Romanen wie ?Mitte des Lebens?, ?Mirjam?, ?Abaelards Liebe? gehörte Luise Rinser zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen ihrer Zeit. Romanhaft sind, wie sich zeigt, auch ihre Autobiographien ?Den Wolf umarmen? und ?Saturn auf der Sonne?. Die streitbare Autorin, die die deutsche Kultur der Nachkriegszeit entscheidend mitprägte, sah sich gern als Gegnerin und Opfer des Nazi-Regimes. Aber sie schrieb Huldigungsgedichte an Hitler, leitete BDM-Schulungslager, entwarf Propagandafilme. Manches nie Ausgesprochene konnte Luise Rinser erst in ihren späten Jahren dem Freund José Sánchez de Murillo anvertrauen. Anderes hat sie literarisch verarbeitet: die Spannung zwischen Lebensentwurf und Wirklichkeit als schriftstellerische Inspiration.

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Leseprobe

I. Kindheit und Jugend
in Zeiten des Umbruchs
19101929


Josef Rinser und Aloisia Sailer


Über die ersten Jahre seiner Ehe führt Josef Rinser kein Tagebuch. Doch die wichtigsten Augenblicke hält er in einer illustrierten Ausgabe von Adelbert von Chamissos Frauen-Liebe und Leben fest. Neben dem Bild einer jungen Frau, die ihrem Mann etwas ins Ohr flüstert, steht: August 1910.[1]

Geheiratet haben der Oberlehrer Josef Rinser und die Hausfrau Aloisia, geborene Sailer, am 10. Juli 1910 in Pitzling bei Landsberg in Oberbayern. Getraut wurden sie von Georg Rinser, einem Bruder des Bräutigams.[2] Das Kind, das sich im August ankündigt, soll, wenn es ein Bub ist, Georg heißen wie Josefs Vater; ein Mädchen soll wie die Mutter genannt werden, aber mit »y«: Aloysia.

Josef Rinser, am 28. Februar 1883 in Rosenheim geboren, ist das jüngste von sechs Kindern des Salinenzimmerers Georg Rinser (18461935) und seiner Ehefrau Maria, geborene Pauker (18471923). Von den Geschwistern, die hier noch eine Rolle spielen, wären zu nennen: der schon erwähnte Georg (18761938), Pfarrer in Aschau am Inn, und Marie (18871967), Besitzerin einer Limonadenfabrik in Kirchanschöring. Während Josefs ältere Brüder Georg und Vitus[3] groß wie ihr Vater und gut gewachsen sind, ist er missgebildet. Zwar kann man ihm den Buckel kaum ansehen. Doch als er sich 1916, dreiunddreißigjährig, als Kriegsfreiwilliger meldet und gemustert wird, stellt der Militärarzt eine Verkrümmung der Wirbelsäule fest. Er wird als kriegsuntauglich abgelehnt. Warum habt ihr mich zum Krüppel werden lassen?, warf das Kind einmal seinen Eltern vor. Eine Tante habe ihn als Säugling zu Boden fallen lassen, erklärte die Mutter. Sie schämte sich, die Wahrheit zu sagen: Ihr Sohn hatte das, was damals als Arme-Leute-Krankheit galt: Rachitis, eine auf Vitamin-D-Mangel beruhende Missbildung der Wirbelsäule. Lebenslang leidet Josef unter Minderwertigkeitskomplexen. Ob er sich deswegen gelegentlich den Tod wünscht? Jedenfalls entwickeln sich bei ihm nekrophile Grundzüge. Und er hat eine Neigung zu tiefem Nachdenken, liebt das Alleinsein.

Sein Lieblingsfach Musik kann er aus finanziellen Gründen nicht studieren. Er wird Volksschullehrer. Diese Entscheidung, aus der Not getroffen, erweist sich freilich als richtig. Josef Rinser liebt Kinder, kann gut mit ihnen umgehen. 1936 lässt er sich vorzeitig pensionieren – unter dem Vorwand seiner Wirbelsäulenverkrümmung, in Wirklichkeit jedoch, weil er es ablehnt, unter Hitler Lehrer zu sein. Vom Schuldienst entpflichtet, wird er Organist an der Stadtpfarrkirche Rosenheim. Unbezahlt, da er eine Rente bezieht.

Doch die Schatten werden ihn sein Leben lang nicht verlassen. Die Sehnsucht nach dem unerreichbaren Traumberuf, die immer deutlicher werdende Verkrüppelung machen aus dem in sich gekehrten Jungen einen schwermütigen Mann, der in eine übertriebene Ordnungswelt mit streng katholischen Werten flüchtet. Auf diese Weise versucht er, sein Harmoniebedürfnis zu befriedigen. Und auch seinen Drang, überall der Beste zu sein.

Die Frau, die Josef Rinser heiratet, ist wahrhaftig in jeder Hinsicht sein Gegenstück. Aloisia Sailer wurde am 29. Juni 1883 in Balzhausen (Landkreis Günzburg, Bayerisch-Schwaben) als zweites Kind des Josef Sailer und seiner Ehefrau Anna, geb. Egger, geboren. Zu der wohlhabenden Großbauernfamilie zählen noch fünf weitere Töchter und zwei Söhne. Unter diesen vielen Geschwistern ist Franziska (»Tante Fanny«) hervorzuheben, von der hier noch oft die Rede sein wird.

Aloisia ist nicht so attraktiv wie Fanny, dafür aber höchst intelligent, vital und wortgewandt. Nach der Mittelschule kommt sie zum Erlernen der höheren Kochkunst auf das Schloss Seyfriedsberg in Ziemetshausen zwischen Augsburg und Krumbach, wo die Fürstin Wallerstein residiert. Die junge Prinzessin ist derart angetan von dem gescheiten Landmädchen, dass sie es zu ihrer Gesellschafterin macht. Überall, ob auf dem Land oder in der Großstadt, sind sie zusammen. Überwintert wird teils im Stadtpalais in der Münchner Brienner Straße, teils im Wiener Palais.

Die flotte junge Frau genießt das Leben der aristokratischen Gesellschaft, ist allseits beliebt, bekommt sogar verlockende Heiratsanträge. Für eine Ehe fühlt sie sich jedoch noch zu jung. Stattdessen lernt sie ungewöhnliche Kochkünste, vornehmen Kleidungsstil, feine Umgangsformen bei Ballabenden und Empfängen.

Es überrascht nicht, dass die wohlhabenden Sailers einen Sohn aus der eher bescheidenen Rinser-Familie als Ehepartner für ihre Tochter ablehnen. Die Sailer-Mutter »aus dem Schwäbischen« – wie Schwiegersohn Josef sie später nennen wird – kann Armut nicht leiden. So ist für sie die bloße Vorstellung einer Heirat ihrer Tochter mit einem Volksschullehrer entsetzlich, zumal ein Brauereibesitzer beharrlich um sie anhält. Doch die Tochter wählt den Volksschullehrer und setzt sich bei ihren Eltern mit ihrem Wunsch durch.

Aloisia Sailer ist eine taktisch begabte Willensfrau, die ihr Herz beiseitezulassen weiß, wenn das Ziel es erfordert. Sie sei nicht gefühllos, allein das Gefühl sitze in ihrem Gehirn, wird ihre Tochter später schreiben. Entdeckt sie Not, hilft sie. Keine Theorien, nur Taten gelten ihr als Beweise von Mitmenschlichkeit. Energisch, intelligent und lebenslustig, überaus erzählfreudig, pragmatisch orientiert und durchsetzungsfähig: das ist Aloisia Rinser, geborene Sailer.

Recht bald lernt die Mutter Sailer ihren musikalischen Schwiegersohn zu schätzen und betont überzeugt, sie hätte sich für ihre Tochter keinen besseren Mann vorstellen können. Also kauft sie ihm gleich ein Klavier. Und da sie von materieller Enge nichts hören will, schickt sie dem jungen Paar regelmäßig Mehl, Schweineschmalz, Geräuchertes und gelegentlich, wenn nötig, auch Geld. In finanzielle Not gerät das junge Paar dennoch ziemlich oft, weil die an großzügiges Wirtschaften gewöhnte Ehefrau mit dem knappen Gehalt des angehenden Volksschullehrers nicht auskommt – vor allem wenn sie sich Kleidungsstücke leistet wie einen modischen Panamahut, der fast ein Monatseinkommen kostet. Sie hatte es nie nötig gehabt, auf den Preis zu schauen. Findet sie etwas schön, greift sie zu. Und die Rechnung wird pünktlich von der Mutter oder der Prinzessin Wallerstein bezahlt.

Die vitale Frau braucht den stillen Mann. Und der depressive Mann braucht eine Frau, die ihm Lebenslust und Unternehmungsgeist bringt. Im Laufe der Jahre lernen sie sich immer besser verstehen und derart innig lieben, dass sie nicht mehr ohne einander leben können. Wie hat sich dieses ungleiche Paar gefunden?

In der Erzählung Die gläsernen Ringe, die 1941 erscheint und sie als Schriftstellerin bekannt machte, schilderte die junge Luise Rinser einen Onkel »Felix«, der im oberbayerischen Kloster Wessobrunn wohnt und als Dorfpfarrer und Seelsorger der Missionsbenediktinerinnen fungiert. Der Mann, der ihr dafür Modell stand, Franz Hörtensteiner, war ein entfernter Verwandter der Sailer-Familie, geboren im schwäbischen Dorf Fischach, das Ende des 19. Jahrhunderts zum größten Teil aus einer jüdischen Gemeinde bestand. Er selbst entstammte einer schon lange zum Christentum konvertierten jüdischen Familie. Trotzdem nennt ihn Josef Rinser, wenn er auf ihn zornig wird, »den alten Juden«. Doch er ist kein Antisemit. Er bedauert es sogleich und schwächt ab in »der alte Hörtensteiner« oder einfach »der Alte«. Die anderen dagegen nennen ihn, wie damals für Geistliche üblich, ehrerbietig »der Herr«. Der Ortspfarrer, Klosterseelsorger, Dekan und geistliche Rat der Region ist also für seine Umgebung »der Herr« schlechthin.

Wenn Luise Rinser im späten Alter gelegentlich noch auf Onkel Franz zu sprechen kam, sagte sie, er sei ein skeptischer Atheist gewesen, den man in die Rolle des Geistlichen gedrängt habe. Durch die vielen Reisen habe er einen Ausgleich gesucht für die Entbehrungen, welche ihm sein Berufsstand als katholischer Kleriker auferlegte.

Josef Rinser und Franz Hörtensteiner leben in ständiger Spannung, die sich gelegentlich in heftigen Wortausbrüchen entlädt. Sie können einander nicht ausstehen. Gewiss gibt es zwischen den beiden politische Differenzen. Hörtensteiner ist eher nach rechts orientiert, Rinser dagegen, obwohl streng katholischen Glaubens, sozialistisch und antiklerikal. Die Ursache für diese Haltung lag darin, dass Anfang des 20. Jahrhunderts die Schulaufsichtsbehörde ausschließlich aus Klerikern bestand, denen mangelnde...

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