Stärker werden sich die Nebel der Urzeit nicht lichten. Wir sehen Landraubtiere. Hetzende Beutefänger. Wölfe. Mit dem Leittier sind sie zu fünft. Ihr Fell zeigt das Gelblichbraun des Ingwers und reflektiert Farbtöne der Landschaft. In lockerer Formation folgen sie den Spuren von Antilopen. Ein Spürwolf ist weit vorausgeeilt. Hoch am Himmel kreisen Raben über der Herde – eine kleine Hilfestellung, geeignet, das Überleben der Beutejäger und ihrer Abfallschmarotzer zu erleichtern. Die Wölfe haben bereits eine beträchtliche Strecke zurückgelegt. Die Witterung wird stärker und stärker. Sobald sie sich mit ihrem Späher vereinigen, beginnt der Kampf. Sie werden die Gruppe angreifen und in die Flucht jagen. Dabei werden sie erkennen, ob ein Tier schwächer ist als die anderen. Sie werden es abdrängen und attackieren. Das Wittern dieser Chance weist jedem Einzelnen von ihnen in jedem Augenblick eine besondere Aufgabe zu. Das bedingungslose Zusammenwirken ihrer Fähigkeiten vergrößert die Aussicht auf Erfolg.
Diesmal sind sie da draußen nicht allein. In weiter Ferne sehen sie Wesen halb gebückt, halb mit aufrechtem Gang. Sie weisen geringes Haarkleid auf. Es ist eine kleine Schar Zweibeiner, und sie verfolgt offensichtlich das gleiche Ziel. Die Wölfe begegnen diesen Konkurrenten mit Respekt. Diese Jäger beherrschen besondere Künste. Sie schleudern Steine. Sie schlagen mit Knüppeln. Sie stellen aus Knochen und Geweihen wirksame Waffen her. Sie legen tiefe Gräben an und verdecken sie mit Zweigen. Sie verständigen sich durch Zeichen, Schreie und Schnalzlaute. Doch weder sind sie schnell genug, noch verfügen sie offensichtlich über weit reichenden Spürsinn. Denn häufig verlieren sie die Fährte. Meistens stehen sie am Ende mit leeren Händen da.
In großem Abstand hetzen die Vierbeiner an ihnen vorbei. Vorne schließen sie zur Gruppe der Antilopen auf. Der Spähwolf hat bereits ein junges Tier ausgemacht. Sie kreisen die Herde ein und greifen an.
Bis die Zweibeiner die Stätte erreichen, ist die Jagd entschieden. Diesmal bleiben für sie wenigstens Abfälle übrig. Mit ihren geschickten Fingern und den winzigen Zähnen vermögen sie noch die winzigsten Fleischreste von den Knochen zu lösen.
Warum schlich der Hund näher, legte sich ans Feuer und blieb?
Sein Interesse an den Menschen – und nicht umgekehrt - war die größte Energie. Mit einem einzigen Tier, vermutlich, begann es: Diese Kreatur spürte den Funken. Wollte dieses Wesen nur von Fähigkeiten des Zweibeiners profitieren? Hungerte es vielleicht nach einem Gefährten? War es süchtig nach der Friedfertigkeit dieses Wesens? Ahnte es gar seinen eigenen Beitrag zum unvorstellbaren und beispiellosen Siegeslauf des Menschen voraus?
Unmöglich ist nichts.
Über die Begleitumstände dieser Annäherung haben Forscher lange gerätselt. Ihre Antworten basierten immer auf archäologischen Entdeckungen. Knochensplitter und Felszeichnungen. Fossile Hundeknochen wurden rund um den Erdball in unmittelbarer Nähe menschlicher Spuren gefunden. In Höhlen, in den Resten von Pfahlbauten, bei Kultstätten. Die ältesten Relikte waren beheimatet im heutigen Nahen Osten, in Europa und in Südostasien. Das Zeitfenster spannte sich über 10.000 bis 20.000 Jahre vor unserer Zeit und lag ein wenig vor den Anfängen des Ackerbaus. Das war erstaunlich. Diese Vorfahren hatten keine Herden, die zu bewachen waren, keinen Besitz, den es zu schützen lohnte, und sahen doch einen Nutzen von Tieren in ihre Nähe?
Die meisten Wissenschaftler vermuteten sehr lange, dass die ersten Hunde Abkömmlinge domestizierter Wölfe waren. Als ob das so einfach wäre. Wie zähmt man ein wildes Tier? Einige wenige glaubten hingegen, dass sie Kreuzungen mit dem Aas fressenden Schakal oder dem Präriewolf Kojote entstammten.
Heute wissen wir: Die Gene des Hundes erzählen eine völlig andere Geschichte als seine Knochen.
Besonders an der University of California in Los Angeles, UCLA, widmete sich ein Team von Molekularbiologen gewissenhaft der intensiveren Erforschung dieser ersten engen Tier-Mensch-Beziehung. Sie interessierten sich vor allem für genetische Informationen, die jedes Lebewesen in der Desoxyribonukleinsäure, englisch: desoxyribonucleic acid, abgekürzt DNA, speichert. Für ihre Analysen verwendeten sie Blutproben oder Tierhaare.
Die Experten untersuchten die Abstammungslinien von 162 lebenden Wölfen aus 27 Rudeln in Europa, Asien und Nordamerika. Gene können sich im Laufe der Zeit langsam und allmählich neuen Lebenserfordernissen anpassen, und aus den Abweichungen ziehen Wissenschaftler Rückschlüsse auf den Zeitraum, in dem sich Mutationen entwickelt haben. Das gilt für Tiere, Pflanzen und Menschen gleich. Je abweichender zwei Abfolgen sind, um so mehr Zeit stand den Molekülen zur Verfügung. Die jüngste, wissenschaftlich erforschte genetische Veränderung, beispielsweise, betrifft die Anpassung von Bewohnern der Tiefebene Chinas an die Lebensbedingung in der Hochebene von Tibet: Erst nach etwa 3.000 Jahren war ein Dasein in 4.000 Meter Höhe ohne die damit eigentlich verbundene Erkrankungen dauerhaft möglich.
Auf gleiche Weise wurden 67 Hunderassen in der Gestalt von 140 Tieren enträtselt – vom afrikanischen Basenji (dem Einzigen, der nicht bellt) bis zum irischen Wolfshund. Die DNS-Analyse ergab Unglaubliches. Es gibt vier, höchstens fünf große Hundefamilien. Ihre Größte und gleichzeitig Vielschichtigste verrät erstaunlicherweise eine sehr enge Verwandtschaft relativ moderner Züchtungen mit prähistorisch geprägten, alten Hunderassen, wie des Retrievers und des Collies zum Dingo und dem in Neu-Guinea angesiedelten Singenden Hund. Eine andere Hauptgruppe mit dem Elchhund und dem Schäferhund ähnelt stärker bestimmten Wolfsarten als anderen Hunderassen auf. Diese und weitere Resultate liefern keinesfalls Antworten auf alle Fragen. Aber zwei Erkenntnisse sind sicher. Die Erste: Der Hund besitzt keinen anderen Vorfahren als den Wolf. Alle Rassen, die wir heute sehen, stammen einzig von ihm, dem wildesten und scheuesten aus der großen Familie der Kaniden, ab. Kojote und Schakal standen niemals Pate bei dieser Entwicklung; nicht einmal bei jenen heute noch wild lebenden Vierbeinern, die äußerlich eine gewisse Familiennähe zu ihnen besitzen.
Wolf und Hund verbindet eine unmittelbare Abstammungslinie ohne Zwischenschritt. Wie eine unendlich lange Perlenkette besteht sie aus einer ungeahnten Abfolge einzelner Mutationen des ursprünglichen Erbguts. Erst jetzt begreifen wir den Umfang dieser Evolution. Erst jetzt erkennen wir die enorme Zahl genetisch bedeutender Informationen. Jede Veränderung vollzog sich über viele, viele Tiergenerationen. Jede Einzelne konsumierte einen beträchtlichen Zeitvorrat. Ohne die Kenntnis der Gene war es nicht möglich, die Summe dieser Intervalle auch nur zu schätzen. Nun sehen wir: 15.000 oder 20.000 Jahre hätten unter keinen Umständen ausgereicht, um aus dem wilden, äußerst scheuen Wolf den handzahmen Hund werden zu lassen. Alles muss weit, weit früher begonnen haben.
Es gab vor unserem geliebten Vierbeiner eine ausgeprägte
Zwischenphase der Hundeartigen. Äußerlich waren sie noch Wölfe. Proto-Hunde, Basishunde oder Wolf-Hunde – wie auch immer
erfinderische Experten sie nennen mögen. Die frühesten Menschen-Hunde, die sich anatomisch von den wilden Verwandten unterschieden, stammen erst aus der Dämmerung von Kultivierung und Zähmung.
Es war am Ende der Eiszeit. Die neuen Umstände brachten den Menschen von einer Lebensform ab, in der er davor 99 Prozent seines Daseins existiert hatte. Er wurde sesshaft, legte Felder an und machte sich Tiere untertan. Von Felsmalereien oder Höhlenzeichnungen abgesehen, kennen wir keine Momentaufnahme aus dieser Zeit. Deshalb sind Grabstätten für die Forschung so interessant, weil sie der
Nachwelt überliefern, welche rituelle Beigaben aus Sicht der Hinterbliebenen für den Verstorbenen bedeutend waren. Vor allem vier Entdeckungen sind es, von denen die wissenschaftliche Meinung bestimmt wurde. In der Nähe des heutigen Rheinstädtchens Bonn wurde in jener Epoche ein junger Mann bestattet, dessen Arm auf der Schulter eines Hundes ruht. Ein ähnliches Arrangement zeichnete eine Totenkultstätte im Nahen Osten aus. Der dritte Beleg entstammt einer Ausgrabung nahe der Stadt Bohuslan (Schweden). Dort hat vor etwa 13 000 Jahren eine Familie gemeinsam mit ihrem Toten auch einen Hund bestattet. Ein Steinzeitgrab neben einer Höhle bei Oberkassel enthielt ein Stück Kieferknochen – es stammt aus dem Paläolithikum vor etwa 14.000 Jahren.
Doch nun öffnet die Wissenschaft einen Vorhang, der das Entstehen unserer Tierliebe bisher verhüllt hat. Die Forscher erkennen so viele Abweichungen, dass sie die frühesten Hundeartigen weit vor der Zeit der Neandertaler ansiedeln. Denn hintereinander hat sich eine aus der anderen entwickelt. Die Geburtsstunde des neugierigen Vierbeiners führt uns 100.000 bis 135.000 Jahre unserer Entwicklung zurück. Es gibt keinen Zweifel - als unsere Vorfahren aus den Wäldern traten, erregten sie bereits die Aufmerksamkeit einiger weniger besonders schlauer, wagemutiger, intuitiver Kaniden – nicht mehr ganz Wolf, noch lange nicht Hund. Hinter ihrer Abstammung verbirgt sich bereits ein spannendes Schicksal. Natürlich konnten die Zweibeiner jener Zeit nicht im Entferntesten ahnen, was wir heute wissen: Die Genspur unserer Hunde führt nach Asien. Dort, mit großer Wahrscheinlichkeit, hat sich diese intuitive erste Annäherung ereignet. Ein Wolf,...