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Drüben und drüben

Zwei deutsche Kindheiten

AutorDavid Wagner, Jochen Schmidt
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783644042612
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Zwei Deutschlands und zwei Jungen, fast zeitgleich geboren, nur nicht im selben Staat. Der eine wächst im Westen auf, unweit der Bundeshauptstadt Bonn, der andere im Osten: in Berlin, der Hauptstadt der DDR. Sie spielen in der Wohnung, im Garten, zwischen Plattenbauten oder auf Baustellen und warten darauf, dass endlich das Fernsehprogramm beginnt. Sie fahren Rad mit Freunden, klauen ihren Geschwistern Süßigkeiten und streiten sich mit ihnen auf der Rückbank des Familienautos um den besten Platz. Sie träumen von der Fußballnationalmannschaft, üben wieder nicht Klavier und hören in der Schule, «'drüben» sei die Welt schlechter. Zwei der erstaunlichsten Schriftsteller ihrer Generation erzählen von der Kindheit: Jochen Schmidt, Jahrgang 1970, lebte in einem Neubaugebiet in Ost-Berlin, David Wagner, Jahrgang 1971, in einem Einfamilienhaus am Rhein. Von Kindheitsraum zu Kindheitsraum - Kinderzimmer, Wohnzimmer, Küche, Spielplatz, Viertel, Schule, bei Freunden, in den Ferien - durchmessen die beiden Meister der literarischen Alltagsbeobachtung ihre Vergangenheit. In unnachahmlich präzisen, aufeinander zu geschriebenen Erzählungen zeigen sie, was die eigene Kindheit links oder rechts der innerdeutschen Grenze ausgemacht hat: Alles war politisch, aber was weiß ein Kind davon. So entsteht das deutsch-deutsche Panorama zweier Kindheiten, die sich voneinander unterscheiden und doch auch wieder nicht.

Jochen Schmidt, 1970 in Ostberlin geboren, veröffentlichte die Romane «Müller haut uns raus» und «Schneckenmühle» sowie die Erzählbände «Triumphgemüse» und «Meine wichtigsten Körperfunktionen». Außerdem erschienen von ihm die Bücher «Schmidt liest Proust», «Dudenbrooks» und «Schmythologie». 1999 war er Mitbegründer der Berliner Lesebühne «Chaussee der Enthusiasten». Jochen Schmidt lebt in Berlin.

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Leseprobe

Kinderzimmer


Ich stand auf dem Bett und hüpfte auf und ab. Mein Zimmer leuchtete gelb, die Wände waren frisch gestrichen, am Wandstück neben mir hingen meine Messer. Ich hüpfte auf der grünen Frotté-Tagesdecke, die Liegefläche federte, unter der Matratze war kein Lattenrost, sondern ein aus Draht geknüpftes Gewebe: ein Trampolin aus federnden Metallringen. Das Bett ächzte, es war weich. Lag ich in ihm, fühlte ich mich sicher, denn unter meiner Matratze spannte sich Kettenhemdstoff, den kein Pfeil durchdringen konnte. Kettenhemden kannte ich aus den Ritterburgen am Rhein – schwere, aus winzigen Metallringen gefertigte Schutzkleidung, die Schwerthieben standhielt. Von unter dem Bett hätte mich niemand erdolchen können.

Die Messer an der Wand hingen an Nägeln, die ich selbst eingeschlagen hatte, die meisten krumm. Unser Haus war nicht gemauert, sondern aus Beton gegossen und anschließend ausgehärtet. So stellte ich es mir vor, und so sah ich es auf den Baustellen im Neubaugebiet: Verschalungsbretter wurden zu Formen gezimmert und Hohlräume mit Flüssigbeton gefüllt. Auf den nackten Wänden, so war es auch in manchen Räumen unseres Hauses, blieb später die grobe Maserung der Verschalungsbretter zurück, eine Zeitlang dachte ich, Beton sei eine Art versteinertes Holz. Waren da nicht sogar Astlöcher zu sehen? Und, zweite Frage, wohnten wir in einem Bunker?

Ich schaute mich um. Links von mir lagen Bücher auf dem Boden, die ich aus der Stadtbücherei ausgeliehen hatte, auch eigene waren dabei, Lustige Taschenbücher etwa, Donald Duck las ich jeden Tag. Vielleicht lagen da auch Die Insel der Abenteuer von Enid Blyton oder Die drei Fragezeichen und der tanzende Teufel, das nicht Alfred Hitchcock geschrieben hatte, wie ich von meiner ältesten Schwester wusste, obwohl sein Name und ein stilisiertes Schwarz-Weiß-Porträt von ihm auf den Umschlag gedruckt waren. Das Fußende meines Bettes zeigte Richtung Schreibtisch, über ihm hingen Regale mit weiteren Büchern. Eigentlich hatte ich zwei Schreibtischplatten, das Zimmer war groß oder kam mir groß vor, lag voll von allen möglichen Dingen, die im Kinderzimmer eines Grundschülers herumliegen können: Stifte, Pinsel, Blöcke, Papiere, Schulbücher, Zettel, Munition für Spielzeugpistolen, Steine, Murmeln, eine kaputte Erbsenpistole, eine Zwille, Dartpfeile, andere Malutensilien, Süßigkeitenpapiere, eine aufgebrochene Sparbüchse, Taschenmesser, eine Uhr, noch eine Uhr, Bilder, eine Blockflöte, ein Springseil und so fort. Dahinter das Doppelfenster, das hinunter – mein Zimmer lag im ersten Stock – auf den Garten ging, auf den Rasen, den ich jede Woche mähen musste, und die Bäume. Dem Haus am nächsten stand der Kirschbaum, dessen Kirschen im Frühsommer gegen die Vögel verteidigt werden mussten, dann kamen der Apfel- und der Pfirsichbaum, dahinter der Walnussbaum, die große Blutbuche stand schon einen Garten weiter.

Ich wippte leicht hin und her und auf und ab, nicht wild, nein, ich hüpfte nicht ausgelassen, denn ich stand mit einem Messer in der Hand auf meinem Bett, wollte mir alles noch einmal ansehen, wollte mir mein Zimmer einprägen, den grauen Teppichboden und den weißen Schrank, der die meinem Bett gegenüberliegende Wand komplett ausfüllte, ein riesiger Kleiderschrank mit fünf oder sechs Türen – «der Interlübke», wie meine Mutter sagte, um ihn von dem anderen Kleiderschrank in ihrem Schlafzimmer zu unterscheiden. Meine Anziehsachen belegten dort nur ein Segment, Spielzeug ein zweites, hinter den anderen Türen hingen ältere Kleidungsstücke meiner Eltern, Mäntel, Pullover, Skianzüge, Wintersachen. Der Schrank, seine Türen waren mit Bildern von Burgen, Flugzeugträgern und Raubvögeln beklebt, zog sich bis zum Fenster, dort blieb ein schmaler Spalt zur Wand, zu schmal, um sich hineinzuzwängen. Hin und wieder warf ich Papiere und leere Süßigkeitenverpackungen dort hinein und baute einen Sichtschutz aus Büchern und Spielsachen davor, die Verpackungen der mitunter geklauten Süßigkeiten hätten im Papierkorb ja auffallen können, dachte ich mir – aber natürlich war das Problem, als diese private Müllhalde eines Tages entdeckt wurde, dann viel größer.

Auf der Fensterbank stand mein Fernglas, da lagen auch ein paar Holzstücke und Äste, an denen ich gerne herumschnitzte, und, wenn ich den nicht unten im Garten gelassen hatte, mein selbstgebauter Bogen und ein paar Pfeile. Manchmal schoss ich durch das offene Fenster hinunter auf den Rasen, Richtung Spatzen.

Ich stand mit dem Dolch in der Hand auf dem Bett und wippte, die Klinge pikste mich auf Nabelhöhe durch den Stoff meines roten Cord-Hemds, ein Winterhemd, es war Februar. Ich war zehn, fast elf Jahre alt und wollte es wissen, wollte mich in den Dolch stürzen, den unsere Nachbarin mir aus Marokko mitgebracht hatte, wollte wissen, was es mit diesem Leben auf sich hatte. Müsste sich, dachte ich, doch herausfinden lassen.

 

Die Lustigen Taschenbücher neben meinem Bett gehörten fast alle meiner ältesten Schwester. Manchmal kam sie in mein Zimmer und forderte sie zurück.

«Die sind aber schon so lange bei mir», sagte ich dann. «Das sind jetzt meine.»

Wovon sie sich nicht beeindrucken ließ. Andere hatte ich von meinen Cousinen geliehen und bisher nicht zurückgegeben – es würde wohl auch nicht mehr passieren. Die restlichen stammten vom Flohmarkt, oder sie waren Freunden abgekauft.

Innen hatten sie abwechselnd eine kolorierte und eine schwarz-weiße Doppelseite, also war nur jede zweite Doppelseite farbig. Musste der Ehapa-Verlag Farbe sparen? Oder sollte ich diese Seiten ausmalen? Sobald ich in die Geschichte versunken war, fiel mir das gar nicht mehr auf, vielleicht mochte ich die schwarz-weißen Seiten sogar lieber. Gute Geschichten brauchten ja keine Farbe.

Lustige Taschenbücher waren teuer und wurden immer teurer. In Bahnhofsbuchhandlungen klebten nicht selten neue Preisaufkleber über den aufgedruckten Preisen. Ach, das war diese sogenannte Inflation! Das Gerede kannte ich ja: Alles wird immer teurer!

Nur zu besonderen Anlässen bekam ich ein neues, vor einer langen Bahnfahrt vielleicht – so lautete auch der Slogan der Reklame: Nicht nur auf langen Bahnfahrten. Den Preis eines Lustigen Taschenbuchs rechnete ich schon bald in Lesezeit um, die reine Lesezeit war bei einem neu gekauften teuer. Ich brauchte ja nie lange, um es durchzulesen. Eine Stunde? Zwei?

Es lagen auch Asterix-Hefte neben dem Bett. Asterix bei den Schweizern – wer sein Brotstückchen zum dritten Mal im Käsefondue verliert, wird mit Gewichten im See versenkt. Asterix bei den Goten fand ich nicht so lustig, ich hatte bereits verstanden, dass die Witze darin auf unsere, auf deutsche Kosten gingen.

 

Spielzeug lag nicht nur in meinem Zimmer, Spielzeug sammelte sich auch im Keller, Spielkeller genannt. Wir hatten viel gekauft, vererbt, geschenkt bekommen: Bauklötze, Lego, Spielzeugsoldaten, -cowboys und -indianer sowie ein Kasperletheater mit Handpuppen aus Kunststoff und älteren, holzgeschnitzten Puppen – wir besaßen zwei Krokodile und zwei Wachtmeister, die gegeneinander antreten konnten, einer der Wachtmeister hieß immer Dimpflmoser. Ich hatte Play-BIG-Figuren, die etwas größer waren als Playmobil-Figuren und ihre Füße bewegen konnten, außerdem frühe Playmobil-Figuren und ein Playmobil-Polizeiauto, die Playmobil-Welt war noch schlicht, sie war erst dabei, sich zu entwickeln, Playmobil gab es noch nicht lange, seit 1974 erst. Für meine älteste Schwester blieb Playmo, wie wir es schon bald abkürzten, «Spielen wir Playmo?», immer das neue Spielzeug, ihr gefiel Lego besser. Sie baute sich Lego-Puppenhäuser und ließ die batteriebetriebene Lego-Eisenbahn fahren, auf blauen Lego-Schienen, die mit Lego-Schwellen zusammengesetzt werden mussten.

Die Legosteine, alte und neue gemischt, steckten zusammen in großen Tonnen, sie verteilten sich in meinem Zimmer auf dem Boden, im Esszimmer und im Wohnzimmer, die Schiffe, Flugzeuge und Flugzeugträger, die ich konstruierte, mussten ja durchs ganze Haus. Es gab das Lego-Geräusch, das Lego-Rasseln, wenn wir in den Tonnen wühlten oder die Steine auskippten, in meinem Zimmer versuchte ich jedoch immer, einen Pfad von meinem Bett bis zur Tür freizuhalten, ich wusste ja, wie weh es tat, nachts barfuß auf dem Weg ins Bad auf einen Legostein zu treten.

Ich hatte viel und wünschte mir immer mehr, Spielzeug hatte ich nie genug. Ich wünschte mir mehr Piraten und das Wikingerschiff von Play-BIG, mehr Ritter für die Ritterburg und Weichen, Waggons, Signale und Lokomotiven für die LGB, meine Eisenbahn, Spurweite fünfundvierzig Millimeter. Die LGB war eine große Modellbahn, eine Groß-Bahn, zu Weihnachten und zum Geburtstag bekam ich Gleise und Waggons. Das erste Paket hatte ich ebenfalls zu Weihnachten bekommen, es war ein Starter-Paket und bestand aus einem Schienenkreis, einige Geraden gab es extra. Später kamen Weichen, Signale und eine Kreuzung hinzu.

Mir war schon damals klar, wie teuer diese Eisenbahn war, ein Waggon kostete über fünfzig Mark, aber anscheinend – waren wir so reich, war ich ein verwöhntes Kind? – konnten meine Eltern sich das leisten.

Mein Vater ließ mich mit meiner Eisenbahn allein, ich baute und baute, er baute nicht mit. Die größere der beiden Dampflokomotiven konnte aus dem Schornstein qualmen, ich musste bloß Dampföl einfüllen. Ich liebte den Kranwagen, die Kupplungen und die Rücklichter der Lokomotive. Die Eisenbahn auf-, um- und wieder abzubauen war das eigentliche Spiel,...

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