Buch X Von großen und kleinen Dieben
Wider die Kultur III
1. Moral als Schutz der großen Räuber
Sich gegen Diebe, die Kisten aufbrechen, Taschen durchsuchen, Kasten aufreißen, dadurch zu sichern, daß man Stricke und Seile darum schlingt, Riegel und Schlösser befestigt, das ist's, was die Welt Klugheit nennt. Wenn nun aber ein großer Dieb kommt, so nimmt er den Kasten auf den Rücken, die Kiste unter den Arm, die Tasche über die Schulter und läuft davon, nur besorgt darum, daß auch die Stricke und Schlösser sicher festhalten. So tut also einer, den die Welt einen klugen Mann nennt, nichts weiter, als daß er seine Sachen für die großen Diebe beisammenhält. Darum wollen wir noch näher über die Sache reden. Gibt es unter denen, die die Welt kluge Leute nennt, einen einzigen, der seine Sachen nicht für die großen Diebe beisammenhält? Gibt es unter denen, die sie Heilige nennt, einen einzigen, der nicht für die großen Diebe Wache steht?
Woher weiß ich, daß das so ist? Da war das Land Tsi. Die Nachbardörfer konnten einander sehen und den Hahnenschrei und das Hundebellen voneinander hören. Die Fischer warfen ihre Netze, und die Bauern pflügten ihr Land. Über zweitausend Geviertmeilen weit erstreckten sich die Grenzen. Ahnenhallen waren errichtet, Altäre für die Götter des Bodens und des Kornes gebaut. Die Ordnung aller Dörfer und Familien, der Bezirke, Kreise und Gemeinden: alles war nach dem Vorbild der heiligen Männer eingerichtet. Da brachte eines Tages der Kanzler Tiën Tschong Dsï den Fürsten von Tsi um und raubte sein Land. Hat er etwa nur sein Land geraubt? Nein, sondern er hat damit zugleich auch alle die Einrichtungen der Heiligen und Weisen mit geraubt. So kam's, daß man den Tiën Tschong Dsï wohl einen Räuber nannte; aber er blieb unangefochten in der Ruhe, die ihm die Patriarchen Yau und Schun (durch ihre Einrichtungen) verschafft hatten. Die kleinen Staaten wagten ihn nicht zu tadeln; die großen Staaten wagten ihn nicht umzubringen. Zwölf Generationen lang blieb das Land Tsi in seiner Familie.
2. Räubermoral
Die Gesellen des Räubers Dschï fragten ihn einmal und sprachen: »Braucht ein Räuber auch Moral?«
Er antwortete ihnen: »Aber selbstverständlich! Ohne Moral kommt er nicht aus. Intuitiv erkennt er, wo etwas verborgen ist: das ist seine Größe; er muß zuerst hinein: das ist sein Mut; er muß zuletzt heraus: das ist sein Pflichtgefühl; er muß wissen, ob es geht oder nicht: das ist seine Weisheit; er muß gleichmäßig verteilen: das ist seine Güte. Es ist vollkommen ausgeschlossen, daß ein Mann, der es auch nur an einer dieser fünf Tugenden fehlen läßt, ein großer Räuber wird.«
An diesem Beispiel kann man sehen, daß ebenso wie die guten Menschen auf die Moral der Heiligen angewiesen sind, um zu bestehen, auch der Räuber Dschï auf die Moral angewiesen ist, um sein Handwerk betreiben zu können. Nun aber sind die Guten auf der Welt wenige und die Schlechten viele. Daraus folgt, daß der Nutzen der Heiligen für die Welt gering ist und ihr Schaden groß.
3. Heilige und Räuber
Jede Ursache hat ihre Wirkung: Sind die Lippen fort, so haben die Zähne kalt. Weil der Wein von Lu zu dünn war, wurde Han Dan belagert. Ebenso: wenn Heilige geboren werden, so erheben sich die großen Räuber. Darum muß man die Heiligen vertreiben und die Räuber sich selbst überlassen; dann erst wird die Welt in Ordnung kommen. Versiegen die Wildbäche, so werden die Täler von selber trocken; werden die Erhöhungen abgetragen, so werden die Gründe von selber aufgefüllt. Wenn die Heiligen erst einmal ausgestorben sind, so stehen keine großen Räuber mehr auf, die Welt kommt in Frieden, und es gibt keine Geschichten mehr. Solange die Heiligen nicht aussterben, hören die großen Räuber nicht auf. Nimmt man die Heiligen wichtig, um die Welt in Ordnung zu bringen, so heißt das nur, daß man es für wichtig hält, dem Räuber Dschï Gewinn zu verschaffen. Macht man Scheffel und Eimer, daß die Leute damit messen, so macht man gleichzeitig mit diesen Scheffeln und Eimern die Leute zu Dieben. Macht man Siegel und Stempel, daß die Leute treue Urkunden bekommen, so macht man gleichzeitig mit Siegeln und Stempeln sie zu Dieben. Macht man Liebe und Pflicht, um die Leute auf den rechten Weg zu weisen, so macht man gleichzeitig mit Liebe und Pflicht sie zu Dieben.
Woher weiß ich, daß es also ist? Wenn einer eine Spange stiehlt, so wird er hingerichtet. Wenn einer ein Reich stiehlt, so wird er Landesfürst. Wohnt er erst im Fürstenschloß, so hält er die Liebe und Pflicht hoch. Heißt das nicht Liebe und Pflicht und die Erkenntnis der Heiligen stehlen? Darum tun's die Leute jenen großen Räubern nach, die Fürstentümer an sich reißen und Liebe und Pflicht stehlen zugleich mit dem Gewinn, der aus Scheffeln, Eimern, Gewichten, Waagen, Siegeln und Stempeln entspringt. Wollte man ihnen Staatskarossen und Kronen zum Lohne geben, es würde keinen Eindruck auf sie machen. Wollte man sie mit Äxten und Spießen schrecken, sie ließen sich nicht abhalten. So hält man es für wichtig, dem Räuber Dschï Gewinn zu verschaffen, und macht es unmöglich, die Leute im Zaum zu halten. Das ist die Schuld der Heiligen.
Darum heißt es:
»Den Fisch darf man nicht der Tiefe entnehmen,
Des Reiches Förderungsmittel darf man nicht den Leuten zeigen.«
Die Heiligen aber sind es, die des Reiches Förderungsmittel sind. Sie können die Welt nicht erleuchten. Darum: »Gebt auf die Heiligkeit, werft weg die Erkenntnis, und die großen Räuber werden aufhören!« Werft weg die Edelsteine und zertretet die Perlen, und die kleinen Räuber werden nicht aufstehen! Verbrennt die Stempel und zerstört die Siegel, und die Leute werden einfältig und ehrlich! Vernichtet die Scheffel und zerbrecht die Waagen, und die Leute hören auf zu streiten! Wenn einmal die ganze Kultur auf Erden ausgerottet ist, dann erst kann man mit den Leuten vernünftig reden.
Wenn einmal die Stimmpfeifen durcheinandergebracht sind und alle Flöten und Harfen verbrannt und die Ohren der Musiker verstopft, dann erst werden die Leute auf der Welt anfangen, ihre eigenen Ohren zu gebrauchen. Wenn einmal die Ornamente vernichtet sind und die fünf Farbenharmonien zerstreut und die Augen eurer Späher verklebt, dann erst werden die Leute auf der Welt anfangen, ihr eigenes Augenlicht zu gebrauchen. Wenn einmal alle Winkel und Richtschnüre zerstört sind und alle Zirkel und Richtscheite weggeworfen und die Finger eurer Tausendkünstler abgebrochen, dann erst werden die Leute auf der Welt anfangen, sich auf ihre eigene Geschicklichkeit zu verlassen. Wenn einmal der Wandel eurer Tugendhelden beseitigt wird und der Mund eurer Sophisten mit der Zange zugeklemmt wird und man die Liebe und Pflicht in weitem Bogen fortschleudert, dann erst kommt das LEBEN der Welt in Übereinstimmung mit dem Überirdischen. Wenn erst die Leute sich auf ihr eigenes Augenlicht verlassen, so gibt's auf der Welt keinen leeren Schein mehr. Wenn die Leute sich erst auf ihre eigenen Ohren verlassen, so gibt's auf der Welt keine Verstrickungen mehr. Wenn die Leute sich erst auf ihr eigenes Wissen verlassen, so gibt's auf der Welt keine Zweifel mehr. Wenn die Leute sich erst auf ihr eigenes LEBEN verlassen, so gibt's in der Welt keine Unnatur mehr. Alle jene Kulturträger aber suchen ihr LEBEN in etwas Äußerlichem und verwirren durch ihren gleißenden Schein die Welt. Das sind Wege, bei denen nichts herauskommt.
Heutzutage ist es so weit gekommen, daß die Leute die Hälse recken und sich auf die Zehen stellen und zueinander sprechen: An dem und dem Platz ist ein Weiser. Sie nehmen Reisezehrung auf den Weg und eilen hin, indem sie ihre Familien und den Dienst ihrer Herren im Stich lassen. Fußspuren führen über die Grenzen der verschiedenen Länder, und Wagengleise ziehen sich über Tausende von Meilen hin. An all dem trägt die Schuld, daß die Fürsten (in falscher Weise) die Erkenntnis hochschätzen. Wenn die Fürsten nur die Erkenntnis schätzen, aber nicht den rechten SINN haben, so kommt die Welt in große Verwirrung.
Woher weiß ich, daß es also ist? Nimmt die Kenntnis von Bogen, Armbrüsten, Fangnetzen, Pfeilen und allerhand Schußwaffen zu, so kommen die Vögel unter dem Himmel in Verwirrung. Nimmt die Kenntnis von Angeln, Ködern, Netzen, Reusen und allerhand Fanggeräten zu, so kommen die Fische im Wasser in Verwirrung. Nimmt die Kenntnis von Fallen und Schlingen, Netzen und allerhand Fallstricken zu, so kommen die Tiere des Feldes in Verwirrung. Nimmt die Kenntnis von Falschheit, langsam wirkenden Giften, glatten Lügen, logischen Spitzfindigkeiten und allerhand Disputierkünsten zu, so werden die Sitten unsicher durch Sophisterei. Darum, jedes einzelne Mal, wenn die Welt in große Unordnung kommt, so ist die Schuld daran die Überschätzung der Erkenntnis. Wenn alle Menschen auf der Welt nur davon wissen wollen, nach dem zu streben, was sie nicht wissen, und nichts davon wissen wollen, zu streben nach dem, was sie schon wissen, und alle nur davon wissen wollen, zu tadeln, was sie nicht für gut finden, und nichts davon wissen wollen, zu...