Kapitel 1
Den Verlust eines Elternteils betrauern
von Judy Ball
Meine Mutter lag in einem abgedunkelten Krankenhauszimmer im Sterben. Aber als sie nach meiner Hand griff und mir direkt in die Augen sah, spürte ich, dass sie wusste, ihre jüngste Tochter war bei ihr.
»Judy, regnet es?«, fragte sie. »Nein, Mami, draußen ist schönes Wetter. Aber dort, wo du hingehst, ist es noch schöner«, antwortete ich mit Tränen in den Augen und zitternder Stimme und versuchte, so überzeugend wie möglich zu klingen.
Sie war fast so weit, ihre Heimreise zu Gott anzutreten. »Wirst du meine Partnerin sein?«, fragte sie und hielt meine Hände immer noch fest umklammert.
Und noch bevor ich ihr versichern konnte, dass ich so lange wie möglich bei ihr bleiben würde, war sie tot. Die Frau, die mich geboren hatte, die für mich von der Wiege bis zur Volljährigkeit gesorgt hatte, die mir beigebracht hatte, wie man betet und eine Straße überquert und die mich vor allen Gefahren beschützt hatte, war nicht mehr da.
Wie damit umgehen?
Hinter mir lagen 14 lange, anstrengende Monate, in denen ich miterlebt hatte, wie meine Mutter zunächst starrsinnig darauf bestanden hatte, dass sie weiterhin allein leben konnte, und wie sie dann allmählich immer mehr Pflege benötigte, nachdem eine Reihe kleinerer Schlaganfälle und schließlich der Krebs ihren Verstand und ihren Körper erschöpft hatten. Meine Familie und ich hatten eine Art Marathon hinter uns. Wir hatten stets versucht, unser Bestes zu geben, hatten aber immer das Gefühl, meiner Mutter nicht gerecht werden zu können.
Aber mit ihrem Tod verschwanden plötzlich all die Monate der Erschöpfung, der Angst, des Selbstzweifels, der Spekulation und auch des Jammerns: »Wann wird das endlich ein Ende haben?« Ich hatte schon vorher den Tod lieber Angehöriger miterlebt, aber der Schmerz war noch nie so groß gewesen wie jetzt. Ich war beinahe 44 Jahre alt, aber ich fühlte mich nun wie eine Vollwaise.
Ironischerweise hat unsere Gesellschaft sehr wenig Verständnis für den einzigartigen Schmerz, den man erleidet, wenn man die Mutter oder den Vater verliert – obwohl fast zwölf Millionen Amerikaner jedes Jahr einen Elternteil zu Grabe tragen. Wie sehr wir uns doch unterstützen könnten, wenn wir nur organisiert wären!
Vielleicht können die folgenden Hinweise Ihnen helfen, besser mit dem Tod eines Elternteils umzugehen.
Machen Sie sich immer wieder bewusst, dass Sie jeden Grund zum Trauern haben
Der Tod eines Elternteils löst bei erwachsenen Kindern häufig das Gefühl aus, verlassen worden zu sein. Wenn sie dann in Panik geraten, überrascht sie das selbst am meisten. Aber warum überrascht es uns so, wenn der Tod der Mami oder des Papis, deren Namen wir als Kleinkinder nur so mühevoll aussprechen konnten, uns deprimiert, zur Schlaflosigkeit verdammt und völlig aus der Bahn wirft?
Wir haben vermutlich lange genug gelebt, um selbst als erwachsen zu gelten, aber im Verhältnis zu unseren Eltern werden wir immer Kinder bleiben. Selbst wenn wir unsere Eltern vor ihrem Tod »beeltert« haben, so begraben wir doch die Eltern unserer Kindheit und Jugend. Und wie es R. Scott Sullender in seinem Buch Losses in Later Life ausdrückt: »Die Welt verändert sich mit dem Tod unserer Eltern.«
»Der Verlust eines Elternteils ist die am weitesten verbreitete Form eines schmerzlichen Verlustes in diesem Land. Und doch ist es eine unausgesprochene Tatsache, dass der Tod eines Elternteils im mittleren oder höheren Alter als geringerer Verlust gilt als andere Verluste. Es herrscht die Ansicht, dass die Trauer um den toten Elternteil irgendwie unangemessen ist.«
Edward Myers: When Parents Die.
A Guide for Adults
Nur selten sind wir als Erwachsene auf den Tod der Eltern vorbereitet. Wir haben genug damit zu tun, unsere beruflichen Ziele zu verfolgen oder eine eigene Familie zu gründen; wir verbringen unsere Freizeit damit, zu reisen oder nach einem Ort zu suchen, an dem wir uns niederlassen können; wir leben in der Nähe unserer Eltern oder am anderen Ende eines Kontinents. Aber ungeachtet der Umstände ist es praktisch unmöglich, sich emotional auf einen solchen Verlust vorzubereiten.
Wohlmeinende Freunde und Bekannte versuchen, uns zu trösten, indem sie sagen: »Deine Mutter hat doch ein erfülltes Leben gehabt.« Oder: »Dein Vater hat so gelitten, da ist es für ihn doch eine Erlösung.« Aber solche Worte haben einen schalen Beigeschmack, wenn im Sarg unsere geliebte Mutter oder unser lieber Vater liegen. Selbst wenn wir ein tiefes Gefühl der Erleichterung neben unserem Kummer verspüren, so ist die Trauer doch tief und sehr real.
Weinen Sie und sprechen Sie darüber
Ergreifen Sie die Möglichkeit, mit anderen über Ihre Trauer zu sprechen, solange Sie das Bedürfnis danach verspüren. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird es vielen Familienmitgliedern nichts ausmachen, wenn Sie über Ihre verstorbenen Eltern sprechen.
Freunde, besonders jene, die noch nicht selbst den Tod eines Elternteils erlebt haben, werden zum Beispiel eher fragen, wie Ihr Vater mit dem Tod Ihrer Mutter umgeht, als zu fragen, wie Sie damit umgehen. Aber eine solche Frage können Sie als Einstieg nutzen, um Ihre Gefühle auszudrücken.
Und sollten Freunde überhaupt nicht auf das Thema zu sprechen kommen, können Sie es selbst anschneiden. Gute Freunde wollen ja nicht unsensibel sein, vielleicht brauchen sie nur eine kleine Erinnerung, dass Sie noch darüber reden möchten und müssen. Wenn Ihre Augen dabei feucht werden, dann sei es drum; wenn Ihnen Tränen über die Wangen kullern, dann ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass sie geweint werden müssen.
Sie können über Ihre verstorbenen Eltern selbst mit Menschen sprechen, die Ihre Mutter oder Ihren Vater gar nicht gekannt haben. Angenommen, es ist Juni und Sie unterhalten sich mit Ihren Nachbarn über den Garten, dann können Sie beinahe beiläufig erwähnen, wie Ihre Mutter sich immer auf diesen Monat gefreut hat, weil nun ihre geliebten Rosen angefangen haben zu blühen. Wenn der Lieblingsfußballer Ihres Vaters stirbt und der Name dieses Spielers in der Unterhaltung mit einem Arbeitskollegen erwähnt wird, erwähnen Sie doch, dass er und Ihr Vater nun sicherlich im Himmel einiges zu bereden haben werden.
Und Sie sollten unbedingt mit dem Verstorbenen reden. Ein Besuch auf dem Friedhof kann eine großartige Gelegenheit für ein offenes Gespräch von Herz zu Herz sein. Wenn Sie in den Spiegel schauen und sehen, dass die grauen Haare Sie mehr und mehr wie Ihre Mutter aussehen lassen, sagen Sie es ihr. Wenn Sie krank sind, danken Sie Ihren Eltern für die Fürsorge, die sie Ihnen bei früheren Krankheiten angedeihen ließen. Allein schon das Aussprechen der Worte »Mami« oder »Papi« (oder wie auch immer Sie Ihre Eltern genannt haben mögen), kann wunderbar tröstend und heilend wirken.
»Ganz gleich, wie alt die Eltern zum Zeitpunkt ihres Todes auch gewesen sein mögen oder wie die Umstände waren, der Schmerz für das erwachsene Kind kann doch verheerende Auswirkungen haben.«
Katherine Fair Donnelly: Recovering From
the Loss of a Parent
Vergeben Sie sich dafür, dass Sie auch nur ein Mensch sind
Nur die wenigsten von uns haben ein unproblematisches Verhältnis zu ihren Eltern. Voller Schmerz erinnern wir uns an barsche Worte, die ausgesprochen wurden, an tiefe Gräben, die nie zugeschüttet wurden, und an verpasste Gelegenheiten, unsere Liebe auszudrücken. Dieses Unbehagen kann nach dem Tod eines Elternteils fruchtbarer Boden für lähmenden Schmerz sein, weil nun die Chance zur Versöhnung dahin ist. Aber wir dürfen getrost darauf vertrauen, dass unsere toten Eltern uns vergeben und darüber hinaus auch ihren Anteil an der Situation erkennen.
Wir müssen auch uns selbst für unsere unzureichenden Bemühungen vergeben, auf die Bedürfnisse unserer Eltern einzugehen, als sie älter und abhängiger wurden und höhere Ansprüche an uns stellten. Der räumliche Abstand mag es unmöglich gemacht haben, die Eltern so zu unterstützen, wie sie es wollten. Begründeter Zeitmangel könnte ebenfalls ein Thema gewesen sein.
Auf emotionaler Ebene waren wir möglicherweise nicht in der Lage, mit den an uns gestellten Ansprüchen fertig zu werden: zum Beispiel mit dem Rollentausch oder mit der extrem schwierigen Entscheidung, Mutter oder Vater in ein Pflegeheim zu geben. Aber noch einmal: Es mag uns trösten, dass unsere verstorbenen Eltern uns verstehen und vergeben.
Wachsen Sie an dieser tragischen Erfahrung
Wenn Sie ein Elternteil oder beide...