1. Kapitel:
Wir brauchen Liebe
Der Mensch ist ein Geschöpf der Liebe, er braucht Liebe, er ist Liebe und er will lieben. Wenn wir geboren werden, haben wir eine Zeit von neun Monaten hinter uns, in der es uns an nichts gefehlt hat, wir waren einfach rundum geborgen. Aber dann ist es uns bestimmt, in einer anderen Welt anzukommen, in der nichts mehr so ist wie zuvor. Wir sind plötzlich allein, völlig hilflos und unfähig zu leben.
Wir brauchen Menschen, die uns versorgen, uns Schutz und Geborgenheit geben. Wir brauchen einen Menschen, der stärker ist als wir, und wir brauchen vor allem die Gewissheit, dass er ständig in unserer unmittelbaren Nähe sein wird, was uns das Gefühl gibt, nicht allein und hilflos zu sein. Unsere Sinnesorgane, unsere Wahrnehmung müssen sich erst noch richtig entwickeln, und so ist es die Berührung der Haut, die Wärme, das Gestilltwerden, was uns hauptsächlich die erste elementare Verbindung gibt. Wir brauchen diese allererste Zuwendung, diese Liebe der Menschen, die bei uns sind – sie ist lebensnotwendig für Körper und Seele.
Die elementare Erfahrung von Liebe
Fast alle Eltern der Welt tun ihr Bestes, um ihren Kindern Liebe zu geben. Leider reicht das, was Eltern in unserer Kultur im Allgemeinen zu tun, nicht aus, um Kindern tatsächlich dieses elementare, tiefe Gefühl von Liebe und Geborgenheit zu geben.
Es gibt ein bemerkenswertes Buch von Jean Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, das diese Zusammenhänge aufzeigt. Im Urwald Südamerikas lernt sie als junge Frau einen ursprünglich lebenden Indianerstamm kennen und studiert dessen Lebensalltag. Sie erkennt die Ursache des Glücklichseins und des harmonischen Zusammenlebens dieser Menschen in deren Umgang mit Kleinkindern. Dadurch, dass dort Kleinkinder von der Mutter oder auch von einer anderen Person ständig am Körper getragen werden, also fast permanent Hautkontakt haben, wird das elementare Bedürfnis des Kindes nach Nähe, Zuwendung, Leben, nach “Richtigkeit” erfüllt. Es hat das Gefühl “Ich bin willkommen, ich werde bedingungslos angenommen, alles ist da, alles ist richtig, ich bin ein Mensch bei Menschen, ich werde getragen, ich darf einfach nur da sein, so wie ich bin, ich bin wertvoll, ich bin liebenswert”. In der Phase des Getragenwerdens bekommt das Kind diese Sicherheit und das Gefühl, angenommen zu sein – denn die Menschen nehmen es an sich.
Und es erfährt die Welt der Menschen, der Erwachsenen buchstäblich hautnah, es erlebt sein Umfeld in harmonischer Weise und entwickelt eine natürliche Neugier auf diese Welt, in der es nun lebt. Sobald es krabbeln kann, erkundet es seine Welt nach und nach, eigenständig, instinktiv und ohne die bei uns übliche angstbesetzte Kontrolle durch die Erwachsenen. Kleine Kinder spielen dort mit allem Möglichen, nehmen rasiermesserscharfe Macheten oder Messer in die kleinen Hände. Verletzungen sind dennoch selten. Kinder fallen nicht in nahegelegene tiefe Gruben und ertrinken nicht beim Baden in Flüssen mit starker, unberechenbarer Strömung. Kinder in dieser Weise sich weitgehend selbst zu überlassen, wäre bei uns der Albtraum jeder Mutter. Aber bei diesem Naturvolk tun die Menschen instinktiv das, was dem Menschen, dem Kind seit Urzeiten gerecht wird. Es bekommt dieses Urvertrauen vermittelt, auf dessen Grundlage es eigenständig wird und sich körperlich, seelisch und geistig voll entfalten kann. Es erfährt das “Liebe-ist-da-und-das-Leben-ist-richtig-Grundgefühl”.
Unsere Eltern sind nicht schuld ...
Wie gesagt, in unserer Kultur sieht es anders aus. Kleinkinder kommen in den Kinderwagen, die Trage und nachts ins spezielle Kinderbett. Es soll an nichts fehlen, wir tun alles, damit der kleine Körper versorgt ist, es warm hat, satt ist. Wenn das Kind schreit, weil es dieses Alleinsein, dieses Getrenntsein nicht aushält, wenn es Panik hat, wird es schön beruhigt, gefüttert. Aber Nähe, Liebe vermisst es weiter ... Unsere Eltern können nichts dafür, sie wissen es nicht besser, weil sie es so von ihren Eltern übernommen haben – und die von den Eltern der Eltern der Eltern ... So geht es schon seit Generationen.
In unserer modernen Welt sieht alles natürlich noch ganz anders aus. Kinder sind manchmal fast schon ein “Störfaktor” im Alltag. Da ist es viel praktischer, sie separat “handeln” zu können. Wir haben ja sooo viel anderes zu tun. Wir wissen uns schon einzurichten in dieser Welt, nicht wahr. Wissen wir es wirklich?
Viele Menschen haben das Gefühl, als Kind nicht genug Liebe, nicht genug Aufmerksamkeit erfahren zu haben. Manche sprechen sogar von einem dunklen Kapitel ihres Lebens, einer schrecklichen Kindheit. Aber auch in scheinbar heilen Familien bleibt es nicht aus, dass Kinder ein Gefühlsdefizit an Liebe und Geborgenheit, an Urvertrauen erfahren und diesen Mangelzustand in ihr Leben mitnehmen. Das muss uns nicht bewusst sein, aber das Defizit ist da und meldet sich – es sucht nach Heilung, nach Erfüllung ...
... aber das Defizit ist da.
Als Kind war ich sehr sensibel und hatte ein großes Bedürfnis nach Geborgenheit. Ich hatte viele Ängste, mit denen ich nicht umgehen konnte – Angst vor fremden Menschen, Angst, allein zu sein, Angst vor der Welt “da draußen”. Ich fühlte mich nur in der Nähe von vertrauten Menschen, zu Hause, bei den Eltern oder Großeltern wohl. Wenn es nach draußen ging, brauchte ich meinen “Begleitschutz”. Ich habe mir bei vielem schwergetan, was anderen Kindern keine Probleme machte. Allein zum Bäcker zu gehen, ein Eis zu kaufen, überhaupt auf Menschen zuzugehen, war für mich der blanke Horror. So war ich in meiner Seele nicht frei, und ich erinnere mich, dass ich schon als Kind viele Albträume hatte, Angstträume von Bedrohung, Verfolgung und Gefangensein.
Wenn ich im Vorigen auf seelische Defizite in der Kindheit eingegangen bin, bin ich mir bewusst, dass dies nur ein Aspekt für das mangelnde Gefühl von Geborgenheit ist. Der andere Aspekt ist sicher die uns mitgegebene Lebensaufgabe unserer Inkarnation.
Rudolf Steiner sagte, dass Kinder nicht zufällig in eine bestimmte Familie geboren werden, sondern sich ihre Eltern aussuchen, ja sogar die Eltern als Paar zusammenbringen. Wir wissen von diesen Dingen normalerweise nichts und können solche Aussagen nicht beweisen. Aber wir können sie auch nicht widerlegen. Jedenfalls sind es Sichtweisen, über die nachzudenken sich lohnt und die unser Verständnis vom Menschsein erweitern können. Deshalb sollten wir die Möglichkeit, dass unsere Persönlichkeit, unsere Seele nicht nur ein Produkt unserer Erziehung und Herkunftsfamilie ist, zumindest nicht ausschließen.
Auffällig ist die Beobachtung, dass Kinder oft Lebensthemen der Eltern übernehmen, gleichsam als ob sie diese heilen, irgendwie kompensieren wollten. Zusätzlich bringen wir mit Sicherheit Seelenthemen, “Unerfülltes” aus früheren Inkarnationen mit, um es jetzt zu bearbeiten, zu erfüllen und zu heilen.
Nach Liebe hungernde Kinder werden nie erwachsen
Da unser Bedürfnis nach Liebe nicht erfüllt ist, nehmen wir den Hunger nach Liebe mit in unsere Jugend und die späteren Erwachsenenjahre. Jugendliche grenzen sich in der Pubertät gegen die bisherigen Bezugspersonen ab – ein natürlicher Vorgang, der mit dem Eigenständigwerden einhergeht. Wenn das Verhältnis zu den Eltern ohnehin angespannt war, fliehen Jugendliche oft geradezu aus den alten Bindungen. Da sie aber noch immer ohne “Liebegefühl” in sich sind, brauchen sie nun andere Bezugspersonen. Freunde, die Clique treten an die Stelle der Eltern. In diesen Gruppen geht es oft darum, anerkannt zu werden, also wieder um das “Liebeerfahren”. Jugendliche machen alles Mögliche und Unmögliche für diese Anerkennung, und auch die Beziehungen zum anderen Geschlecht bekommen nun eine besondere Rolle. Jungs wollen nicht als Versager dastehen, Mädchen nicht die Anerkennung verlieren. Auf verfrühte intime Begegnungen lassen sich Jugendliche dann teils aus Neugier, mehr aber aus der Angst heraus ein, sonst nicht dazuzugehören. Es gibt in diesem Zusammenhang ein besonders für junge Menschen lesenswertes Buch eines jungen Mannes, der einen anderen Weg geht: Joshua Harris, Ungeküsst und doch kein Frosch. Warum sich warten lohnt – radikale neue Einstellungen zum Thema Nr. 1.
Für mich war als Jugendlicher die Begegnung mit Mädchen etwas, bei dem ich mich nicht wohlfühlte, ein zu unbekanntes Terrain. Ich fühlte mich sehr unsicher. Im Grunde bin ich vor möglichen Kontakten davongelaufen. Tanzunterricht war etwas, vor dem ich geradezu Angst hatte. Ein Freund überredete mich damals dann doch dazu mitzumachen, aber ich bin nach ein paar Abenden nicht mehr hingegangen, weil der innere Konflikt für mich zu heftig war. Einerseits fühlte ich diese Anziehung, andererseits war nur Unsicherheit in mir. Meine Mitschüler waren da freier und machten sich auf Partys und beim Tanzen an die attraktivsten Mädchen heran. Ihre Erzählungen heizten damals meine heimliche Sehnsucht zusätzlich an.
Die Sehnsucht nach Liebe verlagert sich auf Beziehungen
Konkreter wurde es für mich erst einige Jahre später bei der Berufsausbildung. Hier war es eine Mitschülerin in der Berufsschule, die ich kennenlernte. Zunächst war es ihr Äußeres, das mir auffiel und gefiel. Sie war groß, schlank, hatte kurze, blonde Haare. Bei unseren Begegnungen entstand schnell eine eigenartige, geradezu tiefe Vertrautheit. Sie war aufmerksam, freundschaftlich und ging frei und offen, aber gleichzeitig gefühlvoll-achtsam auf mich ein. Sie schenkte mir echtes Interesse und Wertschätzung, kümmerte...