Zeugung einer Supermacht
Die Geschichte Roms beginnt mit einer Vergewaltigung. Eine Prinzessin, eine geweihte Jungfrau, wird überrascht und missbraucht. Von dem fatalen Zwischenfall gibt es unterschiedliche Darstellungen. Einige sagen, es sei geschehen, während sie schlief und von einem Mann wundersamer Schönheit träumte, der sie zu einer dunklen Stelle am Flussufer führte und dort verloren und allein zurückließ. Andere behaupten, sie sei während eines Gewitters heimgesucht worden, als sie in einem heiligen Hain Wasser schöpfte. Eine Geschichte weiß sogar von einem mysteriösen Phallus, welcher der Asche der königlichen Feuerstelle entsprang und nicht die Prinzessin, sondern ihre Sklavin nahm. Immerhin sind sich alle bezüglich der daraus resultierenden Schwangerschaft einig; und die meisten – abgesehen von einigen wenigen miesepetrigen Revisionisten – bezweifeln nicht, dass der Vergewaltiger ein Gott gewesen sein muss.3 Mars, der Blutvergießer, hatte seinen Samen in einen sterblichen Schoß gepflanzt.
Die Folge war die Geburt zweier göttergleicher Knaben. Diese Zwillinge, Ergebnis der Schändung ihrer Mutter, waren noch kaum auf der Welt, da wurden sie auch schon in den nahen Fluss Tiber geworfen. Doch noch hatte es mit den Wundern nicht sein Bewenden. Der Korb mit den beiden Babys wurde von den Fluten des Flusses mitgenommen und dann am Fuß eines steilen Abhangs, der den Namen Palatin trug, an Land gespült. Dort, in der Mündung einer Grotte, unter einem Feigenbaum, von dessen überbordenden Ästen reife Früchte niederfielen, entdeckte eine Wölfin die Zwillinge; und anstatt sie zu verschlingen, leckte die Wölfin sie sauber und bot den hungrigen Mäulchen der Kleinen ihre Zitzen an. Ein Schweinehirt wurde Zeuge der wundersamen Szene. Er kletterte den Abhang des Palatins hinunter und rettete die Jungen. Die Wölfin machte sich davon. Die beiden geretteten Jungen erhielten die Namen Remus und Romulus, und sie wuchsen zu einzigartigen Kriegern heran. Einige Jahre später sah Romulus vom Gipfel des Palatin zwölf Adler: ein sicheres Zeichen der Götter, dass er dort auf dem Hügel die Stadt gründen sollte, die für alle Zeiten seinen Namen tragen würde. Er war der Erste, der als König über Rom herrschte.
Das war jedenfalls die Geschichte, die Jahrhunderte später vom römischen Volk erzählt wurde, um die Ursprünge Roms und das einfach wundersame Ausmaß seiner kriegerischen Erfolge zu erklären. Wenn Nicht-Römer diese Geschichte hörten, dann fanden sie sie mit Sicherheit nur allzu einleuchtend. Dass Romulus von Mars, dem Gott des Krieges, gezeugt und von einer Wölfin gesäugt wurde, erklärte denjenigen, die mit seinen Nachfahren in empfindlich unmittelbaren Kontakt kamen, vieles über den Charakter der Römer.1 Sogar ein Volk wie die Makedonier, die unter Alexander dem Großen selbst ein riesiges Reich erobert hatten, das sich fast bis zum Aufgang der Sonne erstreckte, wussten, dass die Römer ein Menschenschlag waren, der sich deutlich von anderen unterschied. Eine kurzer Eröffnungskampf mit unentschiedenem Ausgang, ausgetragen im Jahr 200 v. Chr., hatte gereicht, um das klarzumachen. Fünf Jahrhunderte und mehr waren seit der Zeit des Romulus vergangen – und dennoch haftete den Römern, so der Eindruck ihrer Gegner, etwas von der schaurigen Qualität von Kreaturen an, die vom Mythos ausgebrütet waren. Als die Makedonier ihre Toten vom Schlachtfeld bargen, waren sie völlig entsetzt von dem Gemetzel, das sich dort abgespielt haben musste. Von römischen Schwertern verstümmelte, zerstückelte Leichen hatten die Erde mit Blut getränkt. Arme mitsamt Schulter, abgeschlagene Köpfe, in stinkenden Pfützen schwimmende Eingeweide: Alles zeugte von einem Ausmaß an Gewalttätigkeit, das mehr tierisch als menschlich war. Man kann es den Makedoniern nicht verdenken, dass sie an jenem Tag »angesichts der Art von Waffen und dem Menschenschlag, dem sie sich entgegenstellen mussten«, in Panik gerieten.2 Die Angst vor Werwölfen war schließlich für zivilisierte Völker etwas völlig Normales. Die Wolfsnatur der Römer, die Andeutung von Klauen unter ihren Fingernägeln und das gelbe Glitzern in ihren Augen, war etwas, das die Völker im Mittelmeerraum und darüber hinaus als Tatsache hinzunehmen gelernt hatten. »Sie geben ja selbst zu, dass ihre Gründer mit der Milch einer Wölfin genährt wurden!« So der verzweifelte Schlachtruf eines Königs, bevor auch sein Reich dem Untergang anheimfiel. »Was kann man anderes erwarten, als dass sie alle in der Brust das Herz eines Wolfs haben. Ihr Blutdurst und ihre Habgier sind unersättlich. Ihre Gier nach Macht und Reichtümern kennt keine Grenzen!«3
Naturgemäß sahen die Römer die Sache etwas anders. Sie waren überzeugt, dass die Götter selbst ihnen die Herrschaft über die Welt in die Hand gegeben hatten. Der römische Genius war geschaffen, um zu herrschen. Natürlich gab es andere, die auf anderen Gebieten Herausragendes leisteten. Wer konnte es beispielsweise mit den Griechen aufnehmen, wenn es um die Bearbeitung von Bronze oder Marmor, die Erkundung der Sterne oder die Abfassung von Sexhandbüchern ging? Die Syrer waren hervorragende Tänzer; die Chaldäer brillierten als Sterndeuter, und die Germanen als Leibwächter. Aber nur das römische Volk verfügte über die Gaben, die nötig waren, um ein Weltreich zu erobern und an der Macht zu bleiben. Was sie vollbracht hatten, hatte keine Argumente nötig. In der Kunst, die Unterdrückten zu verschonen und die Hochmütigen zu vernichten, konnte ihnen keiner das Wasser reichen.
Die Wurzeln dieser Größe, davon waren sie überzeugt, reichten zurück bis zu ihren frühesten Anfängen. »Das Wesen Roms liegt in den alten Gebräuchen der Stadt und in der Qualität ihrer Männer begründet.«4 Von Anbeginn war der Maßstab für die Tapferkeit der Stadt die Bereitschaft ihrer Bürger, alles für das Gemeinwohl zu opfern – auch ihr Leben. Als Romulus um seine Gründung eine Mauer gebaut und eine Furche – das pomerium – gezogen hatte, um alles innerhalb dieses Bereichs als dem Jupiter, König der Götter, geweihten Boden zu heiligen, da wusste er, dass mehr nötig war, um Rom wahrhaft unüberwindbar zu machen. Remus, sein Zwillingsbruder, hatte sich bereitwillig selbst als Menschenopfer dargebracht. Er übersprang die Grenze und wurde mit einem Spaten erschlagen; »und dadurch, mit seinem Tod, hatte er die Befestigungen der neuen Stadt eingeweiht«.5 Die Urerde, der erste Mörtel zur Errichtung Roms, war gedüngt mit dem Blut des Sohns des Kriegsgottes.
Remus war der Erste, der sein Leben hingab für das Wohl der Stadt – und natürlich nicht der Letzte. Fünf Könige folgten Romulus auf dem römischen Thron nach; und als der sechste, Tarquinius der Stolze, sich als grausamer Tyrann entpuppte, der seinem Beinamen nur allzu gerecht wurde, setzten seine Untertanen ihr Leben aufs Spiel und empörten sich gegen ihn. Im Jahr 509 v. Chr. wurde die Monarchie ein für allemal abgeschafft. Der Anführer der Rebellion, Brutus, ein Neffe des Tarquinius, nötigte das Volk von Rom, einen kollektiven Eid zu schwören, »dass sie es niemals mehr einem Mann allein erlauben würden, in Rom zu herrschen«. Von diesem Zeitpunkt an war »König« das verpönteste Wort in ihrem politischen Vokabular. Nun waren sie nicht länger Untertanen, sondern sie galten als cives, »Bürger«. Endlich stand es ihnen frei zu zeigen, was in ihnen steckte. »In der nun folgenden Zeit fingen alle an, sich hervorzutun und ihre geistigen Fähigkeiten freier zu entfalten. Einem Alleinherrscher ist ja der Tüchtige stets verdächtiger als der Untaugliche, und immer ist ihm fremdes Verdienst Grund zu Befürchtungen.«6 In einer Stadt, die vom eifersüchtig-argwöhnischen Blick des Monarchen befreit war, war es nicht mehr nötig, die Sehnsucht der Bürger nach Ruhm zu verbergen. Nun war der Ruhm des römischen Volkes der Maßstab wahren Erfolgs. Wollte er nicht die Verachtung seiner Mitbürger auf sich ziehen, war noch der niedrigste Bauer verpflichtet, seine Aufgaben als Bürger zu schultern und sich als Mann – als vir – zu...