Einführung: Die „Herrnhuter“
Die Anfänge der Brüdergemeine reichen in das 15. Jahrhundert zurück und gründen sich auf den tschechische Reformator Jan Hus. Als dieser 1415 in Konstanz sein Leben für seine Glaubensüberzeugungen lassen musste, begannen große Unruhen in Böhmen und Mähren, die zu den Hussitenkriegen 1419 bis 1434 führten. Große Teile des Volkes trennten sich zunächst von der katholischen Kirche, bevor es dann doch wieder zu einem Kompromiss mit Rom kam. Lediglich eine kleine Gruppe, die sowohl die kriegerische Gewalt der Radikalen als auch die Einigung mit Rom ablehnte, zog sich in die Wälder Ostböhmens zurück, um in einer Gemeinschaft ganz nach dem Evangelium zu leben. Als Geburtsstunde der „Unitas Fratrum“, der „Gemeinschaft von Brüdern“, gilt der 1. März 1457. Die Brüder-Unität breitete sich rasch aus und zählte Anfang des 16.
Jahrhunderts in Böhmen und Mähren etwa 100 000 Mitglieder.
Die Bibel wurde ins Tschechische übersetzt, eine vorbildliche Gemeindeordnung wurde entwickelt, und es entstanden viele Lieder, die zum Teil heute noch gesungen werden. Im Zuge der Gegenreformation wurde die Brüder-Unität dann nahezu ausgelöscht; wenige Familien hielten sich im Stillen noch zu ihr, viele waren geflohen, vor allem nach Polen und Ungarn. Der letzte Bischof der Böhmischen Brüder, der vor allem als Pädagoge berühmte Johann Amos Comenius (1592-1670) bemühte sich vergeblich um die gleichberechtigte Anerkennung der Brüder-Unität im Westfälischen Frieden.
Erst Anfang des 18. Jahrhunderts eröffnete sich für einen Teil der heimlich Evangelischen in Böhmen und Mähren der Weg zu einem Neuanfang. Unter dem Einfluss des deutschen Pietismus wanderten kleine Gruppen aus und fanden in Sachsen und Preußen eine neue Heimat. Einige siedelten sich auf einem Landgut des jungen Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf an.
1722 wurde der erste Baum zum Anlegen einer Siedlung nahe Berthelsdorf in der Oberlausitz gefällt. Dieser Ort erhielt den Namen Herrnhut, denn die Bewohner wollten sich bewusst „unter des Herrn Hut“ stellen. In wenigen Jahren entstand eine Siedlung, die unter der inspirierenden Leitung des Grafen Zinzendorf stand und zu einer geistlichen Gemeinschaft zusammenwuchs, in der man Glauben und Alltagsleben miteinander verband. Auch Gläubige aus deutschen und anderen europäischen Ländern, die im Konflikt mit ihren Kirchen standen, suchten in Herrnhut eine neue geistliche Heimat. Als eigentlicher Beginn dieser „Erneuerten Brüder-Unität“ gilt der 13.
August 1727. Nachdem die tiefgreifenden Spannungen unter den Siedlern beigelegt werden konnten, wurde bei einer Abendmahlsfeier in der Kirche in Berthelsdorf die geistliche Einheit in überwältigender Weise erlebt. Die Orts-Satzung, die man sich gab, orientierte sich weitgehend an den Statuten der Unitas Fratrum. Die Zahl der Mitglieder wuchs in den darauf folgenden Jahren auf einige Hundert. Es entstanden weitere Ansiedlungen in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Weltweit bekannt wurden die Herrnhuter durch ihre Missionstätigkeit. Bereits 1732 gingen die beiden ersten Missionare aus Herrnhut auf die Karibikinsel St. Thomas.
Weitere Sendboten folgten innerhalb weniger Jahre nach Grönland, Südafrika und Surinam in Südamerika. Herrnhuter Missionare waren mit unterschiedlichem Erfolg auf allen fünf Erdteilen tätig und machten die Brüdergemeine zu einer weltweiten Kirche.
Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, der schon als Jugendlicher beschlossen hatte, sein Leben ganz in den Dienst Jesus Christus’ zu stellen, fand in der Herrnhuter Brüdergemeine seine Lebensaufgabe und prägte diese Glaubensgemeinschaft maßgeblich. Er nahm große persönliche Entbehrungen auf sich, wurde angefeindet und zeitweise aus Sachsen verbannt. In dieser Zeit zog er mit seinen Getreuen, der „Pilgergemeine“, durch Deutschland und Europa.
Heute sind die Herrnhuter eine ganz „normale“ evangelische Freikirche. Viele der Besonderheiten und das meiste der typischen Lebensform aus den Anfangsjahren sind verloren gegangen. Die Gemeinschaft ist unter dem Namen „Evangelische Brüdergemeine“, aber auch als „Herrnhuter Brüdergemeine“, „Mährische Kirche“ oder „Moravian Church“ bekannt. Die in den Gründungsjahren übliche Schreibweise „Gemeine“ – ohne „d“ – ist heute Bestandteil des amtlichen Namens, im allgemeinen Sprachgebrauch sind beide Formen anzutreffen.
Für das Verständnis der Lebensläufe sind einige Erläuterungen nützlich:
Männer und Frauen der Gemeine werden Brüder und Schwestern genannt, ohne dass damit ein besonderer geistlicher Stand verbunden ist. „Bruder“ und „Schwester“ ist auch die heute noch übliche Anrede, gewöhnlich in Verbindung mit dem Familiennamen. In der Schriftform verwendet man meist die Abkürzungen Br. und Schw. Mehrere Mitglieder der Gemeine unterschiedlichen Geschlechts bezeichnet man als Geschwister (Geschw.), auch wenn es sich um ein Ehepaar handelt. (Mit Geschwister Meiers ist also gewöhnlich das Ehepaar Meier gemeint.)
Eine typische Besonderheit der Brüdergemeine ist die Einteilung der Gemein-Mitglieder in die sogenannten „Chöre“. ( „das Chor“ – als Bezeichnung für eine Gruppe Personen mit ähnlichen Bedingungen und Interessen.)
Diese Einteilung gibt es heute noch, sie war früher aber noch sehr viel ausgeprägter. In der Brüdergemeine richtet sich die Chorzugehörigkeit nach Geschlecht, Alter und Familienstand. Es gibt also das Chor der ledigen Schwestern (alle unverheirateten Frauen), das Chor der ledigen Brüder (alle unverheirateten Männer), das Ehechor (verheiratete Männer und Frauen), das Witwenchor und das Witwerchor. Die Kinder und Jugendlichen wurden früher, als es sie noch in größerer Anzahl gab, außer nach dem Geschlecht auch nach dem Alter einem entsprechenden Chor zugeordnet: Knäblein, Knaben, Jünglinge, Mädchen, große Mädchen, Jungfern. Der Gedanke, der dahinter steckt, ist, dass sich Menschen mit ähnlichen Lebensumständen auch am besten verstehen und sich Beistand in weltlichen und geistlichen Dingen geben können. Die Chöre wurden jeweils von einem Chor-Helfer oder einer Chor-Helferin betreut. Die Leitung der Gemeine oder eines Chores war keine abgehobene Stellung.
Man blieb stets „Bruder unter Brüdern“ bzw. „Schwester unter Schwestern“. Das kommt auch in den Bezeichnungen „Helfer“, „Diener“ oder „Arbeiter“ zum Ausdruck.
Die einzelnen Chöre führten früher ein weitestgehend in sich geschlossenes Leben. Sie bildeten eine geistliche Gemeinschaft und einige Chöre auch eine selbständige wirtschaftliche Einheit.
So lebten, wohnten und arbeiteten die unverheirateten Männer und Frauen jeweils in eigenen Häusern: dem Brüderhaus und dem Schwesternhaus. Auch die Witwen lebten separat im Witwenhaus. Das Leben im Chorhaus war durch Arbeit und die täglichen Versammlungen geregelt. Die Brüder waren meistens Handwerker. Die Schwestern verdienten sich ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit Handarbeiten: Spinnen, Weben, Stricken, Sticken...
Bei den Herrnhutern war es über lange Zeit üblich, alle wichtigen Entscheidungen - insbesondere solche, deren Ausgang nicht vorhersehbar war – durch das Los zu treffen, in der Überzeugung, dass Gott auf diese Weise unmittelbar Einfluss nehmen kann.
Das Los wurde vor allem bei Personalentscheidungen zu Rate gezogen: Besetzung von Ämtern, Eheschließungen, Aussendung von Missionaren usw. Auch die in den Lebensläufen häufig erwähnte Aufnahme in die Gemeine und die erstmalige Zulassung zum Abendmahl wurden durch das Los entschieden.
Bei negativem Ausgang konnte in diesen Fällen aber in entsprechenden zeitlichen Abständen die Losbefragung mehrmals wiederholt werden. Deshalb mussten manche Brüder und Schwestern solange auf die Aufnahme bzw. das erste Abendmahl warten.
Die Wegweisung durch das Los spielte über lange Zeit auch für persönliche Entscheidungen eine wichtige Rolle. Man schlug sich selbst ein Los, indem man z. B. einen durch zufälliges Aufschlagen der Bibel erhaltenen Text entsprechend interpretierte. Eine große Bedeutung wurden auch die mit einem persönlichen Ereignis verbundenen Texte aus dem Losungsbuch der Brüdergemeine zugemessen. Diese in den Lebensläufen häufig erwähnten (Herrnhuter) Losungen gibt es auch heute noch. Sie werden seit 1731 ohne Unterbrechung heraus gegeben, inzwischen in Millionenauflage und in 50 Sprachen übersetzt.
Das Losungsbuch enthält für jeden Tag des Jahres ein ausgelostes Wort aus dem Alten Testament, ergänzt durch ein Wort aus dem Neuen Testament und einen Liedvers oder ein Gebet.
In den frühen Lebensläufen finden sich oft recht schwärmerische Bezeichnungen für Jesus: „mein bester Freund“, “Geliebter“, „Herzens-Bräutigam“,...