„Als Mann und Frau schuf er sie“.
Geschlechtsidentität bei Joseph Ratzinger 1
Barbara Vinken
„Als Mann und Frau schuf er sie“
(Genesis 1,27)
„Ni homme, ni femme, prêtre“
(Victor Hugo)
In dem leidenschaftlichen Eintreten für eine marianische Kirche, die ihn mit seinem Vorgänger verbindet, sieht Benedikt XVI. sich im schroffsten Gegensatz zur Moderne. Diese Moderne steht für ihn mehr denn jede andere Epoche im Zeichen der Ursünde, die zur Vertreibung aus dem Paradiese führte: des absolut gesetzten Wunsches, Gott gleich zu werden (Genesis 3,5). Das Streben nach Unabhängigkeit, Autarkie und Autonomie erkennt Ratzinger als das konstitutive Begehren der Modernen, sich keinem zu verdanken, von keinem abzuhängen, selbstbestimmt und selbstbewusst zu sein. Wichtiger, neuer: Den Impetus und das Pathos der Selbstbehauptung erkennt er als dezidiert männlich.
Denn in der heutigen Welt des Geistes gilt nur noch das männliche Prinzip: das Machen, das Leisten, die Aktivität, die selbst die Welt planen und hervorbringen kann, die nicht auf etwas warten will, von dem sie dann abhängig ist, sondern die allein auf das eigene Können setzt. Es ist, so glaube ich, kein Zufall, daß wir in unserer westlichen, maskulinen Mentalität immer mehr Christus von der Mutter losgetrennt haben (Ratzinger 1997 f., S. 11 f.).
In der Moderne ist das weibliche Prinzip auf der Strecke geblieben, unter die Räder des männlichen Prinzips gekommen, das auf ganzer Linie gesiegt hat. Der Egozentrismus – die Behauptung und Durchsetzung des Selbst – hat den Sieg über die Mystik – die Preisgabe des Selbst, die durch das Begehren des Anderen und dem Anderen einen Ort einräumend ermöglicht wird – davongetragen (vgl. Tugendhat 2004). Der Feminismus, wie ihn Benedikt XVI. wahrnimmt, erscheint als eine Variante des Egozentrismus, der das weibliche Prinzip des Empfangens und Gebärens zugunsten maskuliner Selbstbehauptung verleugnet, negiert.
Im Prozess der radikalisierten „Emanzipation“ der Moderne, im rasenden Begehren der Modernen, zu sein wie Gott, komme es zu einer „Lösung“ von der Schöpfung, zu der
Loslösung des Menschen von seiner biologischen Bedingtheit, von dem ‚Als Mann und Frau schuf er sie‘ (der Genesis). Diese Differenz, die zum Menschen als biologischem Wesen unaufhebbar gehört und ihn zutiefst zeichnet, wird als vollkommen unerhebliche Belanglosigkeit, als geschichtlich erfundener ‚Rollenzwang‘ in einen den Menschen nicht eigentlich angehenden, ‚bloß biologischen‘ Bereich verwiesen. Das bedeutet, dass dies ‚bloß Biologische‘ als Sache dem Menschen verfügbar, außerhalb der humanen und geistigen Maßstäbe angesiedelt wird (bis zur freien Verfügung über werdendes Leben). Solche Versachlichung des Biologischen erscheint dann als Befreiung, in der der Mensch den Bios unter sich lässt, ihn frei gebraucht und im Übrigen unabhängig davon bloß Mensch ist – nicht Mann oder Frau. Aber in Wirklichkeit trifft er sich damit im Tiefsten seiner selbst, wird sich selbst verächtlich, weil er in Wahrheit eben doch Mensch als Weib, Mensch als Mann der Frau ist [...]. [D]ie Befreiung wird zur Erniedrigung ins Machbare hinein (Ratzinger 1997c, S. 26).
Im Bestreben, Gott gleich zu werden, hat der Mensch sich verdinglicht. Der Prozess der Moderne trägt die Züge einer objektiven Ironie, in der die Menschen im Bestreben, ihr Wesen zu überhöhen, ihres Wesens verlustig gingen und sich selbst zur Sache würden, biologisches Material bis hin zum Patientengut. Es ist diese angemaßte Autarkie, eine verhängnisvolle Täuschung, sich immer neu entziehende Fata Morgana, die in Wahrheit sterblich macht: Ein moderner Kommentar zur Genesis, denn es war der Wunsch, gottgleich zu sein, der zur Vertreibung aus dem Paradies führte und mit der erkannten Geschlechtlichkeit die Sterblichkeit über die Menschheit brachte. Indem Ratzinger den Zug zur Selbstermächtigung in der Moderne radikal wie in keiner anderen Epoche am Werk sieht, sieht er sie exemplarisch als verblendete, verdunkelte, gottferne Zeit.
In dieser verzweifelten Kritik an der Moderne zeigt sich Benedikt selbst als radikal modern – und es fällt schwer, die andrängenden Assoziationen an Autoren wie Marx und Heidegger, Adorno und Hannah Arendt oder auch Pasolini zu vermeiden. Dabei ist die eher ungewöhnliche Pointe leitend, dass die verblendete Gottferne der Moderne bei Ratzinger explizit wie selten geschlechterdifferenzspezifisch zu denken ist. Was die den „Bios negierende Emanzipation“ im Zeichen des Männlich-Menschlichen, in ihrer cartesianischen Dualität von Geist und Körper, verkennt und austreibt, sei „diese biologische Bestimmtheit des Humanen“, die „in der Frage der Mutterschaft ihre am wenigsten verdeckbare Realität“ habe. Er nennt deshalb diese Art von Emanzipation vor allem „einen Angriff auf die Frau: die Leugnung ihres Rechts, Frau sein zu dürfen“ (Ratzinger 1997c, S. 26).
Gegen die Moderne hat der Theologe Ratzinger seine marianisch geprägte Kirche gestellt, die „das mütterliche Bewußtsein der Urkirche wieder erlangen soll“ – „die Virgo Ecclesia, die Mater Ecclesia, die Ecclesia immaculata, die Ecclesia assumpta“ (Ratzinger 1997c, S. 22). Diese Kirche, könnte man sagen, ist der Raum der Antimoderne schlechthin, Exil des Bräutlich-Mütterlichen. Das marianische Kirchenverständis zu retten, erscheint Ratzinger umso nötiger, als er den Begriff der Kirche selbst vom Ungeist der Moderne bedroht findet: Wenn man Kirche soziologisierend als Institution und Struktur begreift, verkennt man das Wesen der Ecclesia: Kein Machen, sondern das Empfangen und Gebären ist ihr Teil. Mit Johannes Paul II. erinnert der Nachfolger
an ein viel zu wenig meditiertes Pauluswort: ‚ich leide von Neuem Geburtswehen um Euch, bis Christus in Euch Gestalt annimmt‘ (Gal 4.19). Leben entsteht nicht durch Machen, sondern durch Geborenwerden und verlangt daher Geburtswehen (Ratzinger 1997a, S. 48).
Die Kirche ist der Raum, in dem die in der Moderne verkannte, verdrängte, abgeschnittene Dimension des Frauseins, wie es von Maria verkörpert wird, ihren Ort hat. Maria Ecclesia und Moderne sind antithetisch, gegenläufig konstituiert.
Die Gottesmutter wird zur Gegenfigur des in der Moderne an rasantem Tempo gewinnenden Strebens der Selbstbestimmung, Selbstbehauptung. Ratzinger weist die Schlüsselbegriffe der Moderne nicht ab, er besetzt sie um, rückt sie in katholischer Perspektive zurecht in dem genauen und durchaus selbstbewussten Sinne eines ihnen Gerechtwerdens: Freiheit, Selbständigkeit, wirkliches Gegenüber, wahres Selbst lassen sich nicht durch Selbstbehauptung, sondern allein durch Preisgabe des Selbst an den Anderen, durch den Auszug, Exodus, aus sich selbst erlangen. Denn sie kommen nicht aus dem Selbst, sondern von diesem Anderen, Gott, her. Maria hatte in sich einen Ort für Gott geschaffen, weil sie nicht von sich selbst eingenommen war. Weil sie sich nicht selbst behauptet, kann sie dem Anderen vorbehaltlos Raum gewähren: In „der völligen Enteignung an Gott [wird sie] sich selber wahrhaft zu eigen“ (Ratzinger 1977, S. 70).
Die Empfängnis Mariens durch das Wort, das in ihr Fleisch wird, wird als Urbild des mystischen Prozesses der geistigen Geburt interpretiert, in dem jeder Christ in sich selbst sterben muss, um in Christo wieder geboren zu werden. Das Eigene – als Zeichen der Erbsünde und Abfall vom göttlichen Ebenbild, das In-Sich-Selbst-Stehen-Wollen – muss preisgegeben werden, damit man ein radikal anderer und im Nachvollzug des Kreuzes wirklich man selbst werden kann, Ebenbild Gottes. Erst diese geistige Geburt, die vollkommene Enteignung in der Übereignung macht unsterblich: „Unsterblich ist der Mensch [...] letztlich und wahr nur im Ganz-anderen und von ihm her: Gott“ (Ratzinger 1977, S. 79). Indem Maria dem Engel antwortet „ich bin die Magd des Herrn“ und „an mir geschehe wie Du gesagt“, gibt sie Selbstverfügung und Selbstplanung ihres Lebens auf. Die geistige Geburt der christlichen Erlösung vom Alten Menschen geht in Maria der Geburt im Fleische voraus. Sie kommt nicht vom Selbst, sondern verdankt sich der Gnade und der Liebe Gottes. Als liebende Preisgabe ist sie zugleich Vollendung in der Liebe, liebendes Fruchttragen. Eben dies vollzieht sich in Maria tatsächlich, und das heißt im Fleische:
Sie ist solche Darstellung des geretteten und frei gewordenen Menschen aber gerade als Frau, das heißt in der leiblichen Bestimmtheit, die vom Menschen unabtrennbar ist: ‚Als Mann und Frau erschuf er sie‘ (Gen. 1,27). Das ‚Biologische‘ und das Humane sind in ihrer Gestalt untrennbar, so wie das Humane und das ‚Theologische‘ untrennbar sind (Ratzinger 1997c, S. 25).
Das impliziert über das gewöhnliche Verständnis der Fleischwerdung in der Jungfrau, dass Benedikt in der Frau als Frau – und nicht allein in Maria – „die eigentliche Siegelbewahrerin der Schöpfung“ sieht. In ihr hat sie „ihre maßgebende, vom Mann sozusagen nur nachzuahmende Vollgestalt“ (Ratzinger 1997c, S. 27). Die Vollendung des Geschöpfes als Geschöpf vollzieht sich in der Frau, nicht im Mann, präziser: in der empfangenden, schwangeren, gebärenden Frau. Wie das männliche Glied, herausragend, hervorstechend, für Lacan zum biologischen Angelpunkt des Phallus wird, so wird die schwangere Frau für Benedikt Teil der kreatürlich-biologischen Offenbarung, Figur für ein Dem-anderen-Platz-Einräumen, für die Preisgabe des...