Kapitel 2 : Sweet Temptation: Warum Kinder scharf auf Süßes sind
Hammerharte Dinger
Sie sind beinahe so groß wie ein Tennisball, steinhart und süß. Sie bestehen fast nur aus Zucker. Innen drin versteckt sich ein Kaugummikern. Um da ranzukommen, müssen Kinder die Riesenkugel, die zunächst nicht in den Mund passt, ablecken. So werden die Bälle peu à peu kleiner, und Stunden später ist der ersehnte Kaugummikern erreicht. In England und in den USA werden die hammerharten Dinger »Jawbreaker« genannt, Kieferbrecher. Denn die Zuckerkugeln können in der Mundöffnung stecken bleiben, wenn die Kleinen sie, obwohl noch zu groß, voreilig reinschieben. Dadurch kann das Kiefergelenk ausrenken, und der Mund lässt sich nicht mehr schließen. Ärztliche Hilfe und ein spezieller Griff sind nötig, um die Kleinen von der Maulsperre zu erlösen. Schlimmer noch: Die Kugeln können in den hinteren Rachenraum gelangen, wo sie die Atemwege blockieren. Das Kind erstickt – wenn nicht rechtzeitig Hilfe kommt. Mehrere lebensbedrohliche Fälle seien bereits aktenkundig, sagt Dr. Kerstin Stiefel vom Landesuntersuchungsamt Rheinland-Pfalz, das mehrere Zuckerbälle unter die Lupe genommen hat. Zwar gab es diese Fälle nicht hierzulande, sondern in den USA. Aber das muss nichts heißen. Die süßen Kieferbrecher sind auch hier erhältlich. Bis vor Kurzem hatte sie der Billigmodehändler KIK im Sortiment. Dort hießen sie »Zauberball«. »Inzwischen gibt es gegen sie ein Einfuhrverbot«, weiß Kerstin Stiefel. Doch wer will, kommt an die fast 100 Gramm schweren Zuckerbälle problemlos ran. Im Internet bieten mehrere Süßwarenhersteller aus den USA die dicken Dinger ab 2,65 Euro je Stück an, plus Porto.
Süßes Geschäft auf Kosten der Gesundheit
Fast täglich kommen Süßigkeiten auf den Markt, die Kinderherzen höherschlagen lassen. Das ist auch in Ordnung, denn ein bisschen Naschkram darf sein. Doch der Spaß hört auf, wenn die süßen Sachen die Gesundheit gefährden. Und Jawbreaker sind nicht die einzigen kriminellen Süßprodukte. Auch süßsaure Candy Sprays sind eine Gefahr. Die Flüssigbonbons, die aus einer kleinen Flasche in den Mund gesprüht werden, enthalten viel Zitronensäure. Die bleibt nicht nur an den Zähnen kleben und ruiniert den Zahnschmelz. Kinder können sich und anderen Kindern damit die Augen verätzen – wenn sie das Spray ihren Spielgefährten ins Gesicht sprühen. Außerdem besteht die Gefahr, dass der süßsaure Inhalt auf einmal heruntergeschluckt wird, wenn Kinder den Deckel abschrauben und den ganzen Inhalt aus Neugier probieren. Durch die hohe Säurekonzentration werden die Schleimhäute verätzt.
Warnhinweise wie »Nicht geeignet für Kinder unter sechs Jahren« nützen wenig. Sie waschen nur den Anbieter rein, weil er damit aus der Haftung entlassen wird. Schließlich machen auch Grundschulkinder noch gerne Blödsinn, außerdem sind sie viel häufiger unbeaufsichtigt als Kleinkinder. Konsequenter wäre es, die sauren Sprays ganz zu verbieten. Doch davon will das Berliner Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) nichts wissen. Es rät den Herstellern lediglich dazu, die Flaschen so zu konstruieren, dass der Spraykopf nicht abgeschraubt werden kann, und fordert zusätzliche Warnhinweise zum Schutz vor Zitronensäure auf den Fläschchen. Schließlich schlägt es eine Begrenzung des Zitronensäuregehaltes vor – auf maximal sieben Prozent. Doch die Behörde räumt selbst ein, dass »sich anhand der vorliegenden Daten kein Zitronensäuregehalt festlegen (lässt), bis zu dem die Säure gesundheitlich unbedenklich ist«.
Die Süße lockt von klein auf
Der Mensch mag es süß. Kinder stehen drauf, und Erwachsene auch. Darum werden fast täglich neue Süßigkeiten auf den Markt gebracht, die in den Supermärkten so platziert werden, dass man gerne zugreift. »Das süße Empfinden hat sich in Millionen Jahren Evolution entwickelt und wird sich nicht über Nacht ändern lassen«, sagt Susana Peciña von der Universität Michigan, die seit Jahren die Genusszentren des Gehirns erforscht. Wir kommen also mit unserem Verlangen nach Süßem auf die Welt, und in den nächsten Jahrhunderten wird das wohl auch so bleiben.
Träufelt man einem Säugling etwas Wasser auf die Zunge, das entweder süß, salzig, sauer oder bitter schmeckt, so erhält man nur bei dem süßen Tropfen eine positive Reaktion: Das Kind verzieht das Gesichtchen zu einem feinen Lächeln. Der Grund für diese Vorliebe liegt nach Ansicht von Susana Peciña darin, dass wir durch die Evolution auf die intuitive Erkenntnis getrimmt wurden, »dass süße Nahrungsmittel für sichere und schnelle Energiequellen stehen, während der Bittergeschmack mit riskanten Nahrungsmitteln verbunden ist« (siehe auch Kapitel 3). Andere Wissenschaftler vermuten hingegen, dass die süße Vorliebe im Mutterleib durch den Geschmack des Fruchtwassers geprägt wird, denn das schmeckt – wie auch die Muttermilch – leicht süß. Vermutlich ist beides richtig. Denn Evolution und Fruchtwasser müssen ja kein Widerspruch sein.
Inzwischen weiß man sogar, wie süß ein Nahrungsmittel schmecken muss, damit ein Säugling den süßen Geschmack wahrnimmt: 8,6 Gramm je Liter müssen es sein. Das ist relativ süß und entspricht in etwa der Süße eines Fruchtsaftgetränkes, ergaben Untersuchungen des Bremerhavener Technologie-Transfer-Zentrum (ttz). Babys schmecken Süßes also erst ab einer recht hohen Konzentration. Darum ist selbst die Muttermilch, die ja die wichtigste Nahrung für das Baby ist, ein echter Süßdrink. Sie enthält knapp 70 Gramm Milchzucker je Liter. Obwohl Milchzucker weniger süß schmeckt als normaler Zucker, kommt der Süßgeschmack doch an. Je älter Kinder werden, etwa ab dem achten Lebensjahr, umso besser wird ihr Geschmacksempfinden. Mit zunehmendem Alter können sie Zucker und andere Süßungsmittel in Lebensmitteln also besser herausschmecken. Darum müssten Speisen und Produkte für ältere Kinder gar nicht so süß sein wie die für Babys, sagt Kolja Knof vom ttz. Doch das ist nicht der Fall. Viele Lebensmittel für Kinder sind einfach quietschsüß (siehe auch Kapitel 4).
Kindergetränk mit Koffein
Bedenklich sind auch »Bubble Teas«. Kerstin Stiefel bezeichnet sie als »den letzten Dreck«. Die quietschbunten Erfrischungsgetränke werden in Citybars und Teashops angeboten, die ähnlich wie Kaffeehausketten, fast täglich irgendwo neu eröffnen. Die Getränke enthalten eine Mischung aus grünem oder schwarzem Tee, der mit verschiedenen Fruchtaromen und Zucker verrührt wird. Dazu kommen zwei Esslöffel kleine Kugeln mit Joghurt, Mango- oder Orangengeschmack. Das Ganze wird durch einen dicken Strohhalm getrunken – damit die Kugeln durchpassen. Doch die kleinen, zehn bis 15 Millimeter großen Kugeln können beim Ansaugen in die Luftröhre von kleinen Kindern gelangen. »Dem BfR sind zwar noch keine Fälle von Erstickung bekannt, doch solche Fälle seien vorhersehbar«, teilt Präsident Dr. Andreas Hensel mit.
Das Verbraucherministerium fordert nun einen Warnhinweis auf den Bechern. Die Frage ist aber wieder, warum die Getränke nicht einfach verboten werden. Denn auch abgesehen von dieser Gefahrenquelle, sind sie kein Kindergetränk. Das rheinland-pfälzische Landesuntersuchungsamt nahm die Bubble Teas von fünf Lizenznehmern unter die Lupe. Und fand darin teils mehr Koffein als in drei Tassen Kaffee. Außerdem Konservierungsstoffe und gefährliche Azo-Farbstoffe. Diese Farbstoffe können Kinder hibbelig machen und wirken teils allergisierend. Ein Becher Bubble Tea (500 Milliliter) enthält nicht zuletzt bis zu 32 Stück Würfelzucker. Von all dem erfahren die Kunden aber nichts. Bubble Teas werden meist ohne Deklaration verkauft, auf dem Deckel finden sich lediglich ein paar kryptische japanische Schriftzeichen. Auf Nachfrage erhält man in der Regel auch keine Liste mit den verwendeten Zutaten und Zusatzstoffen, obwohl dies vorgeschrieben ist.
Doch nicht nur Bubble Teas, alle Sorten von Softdrinks sind Gesundheitskiller. Eine Studie des Children’s Hospital in Boston an 548 Schulkindern ergab: Mit jedem zusätzlichen Softdrink (0,3 Liter) pro Tag nimmt das Risiko für Übergewicht um das 1,6-Fache zu. Bei zwei Colagetränken oder Limonaden pro Tag – was nicht nur in den USA , sondern auch in Europa vorkommen kann – steigt es also sogar um mehr als das Dreifache. Der Softdrinkverzehr hat sich in den letzten 50 Jahren in den USA verfünffacht, und die Rate der übergewichtigen Kinder hat parallel dazu eine ähnliche Entwicklung genommen. Der Kinderarzt Robert Murray von der Ohio State University hat beobachtet, dass mittlerweile typische US -Teenies im Alter von zehn bis zwölf Jahren zwei Dosen Softdrinks pro Tag konsumieren. » Das entspricht 300 Kilokalorien und 20 Teelöffeln Zucker«, so Murray. » Damit bildet Zucker 18 bis 20 Prozent der Kalorientagesdosis eines Kindes – das Doppelte der empfohlenen Menge.« Es liege auf der Hand, dass dies nicht ohne Folgen auf das Körpergewicht und die Zuckerwerte bleiben...