Einstieg:
Erschauern vor dem All
Auf dem Gaisberg bei Salzburg, 1260 Meter über dem Meer. Die letzten Sonnenstrahlen sind hinter dem Untersberg, einer gewaltigen, 1000 Meter hohen zerklüfteten Masse aus Kalk, verglüht. Ins Salzachtal, aus dem ferner Motorenlärm heraufhallt, sinkt dunkle Kühle. Aus dem verdämmernden Himmel, nur noch im Westen ein goldener Streifen, treten erste Sterne hervor. Gebannt blicke ich dorthin und sinniere über die Weite unseres Planeten. Nicht mehr zu sehen, aber zu erahnen sind noch höhere Gipfel, der Montblanc in ewigem Eis. Und noch ferner die Wogen des Atlantik, die seit Jahrmillionen an die Algarve rauschen. Immer dunkler wölbt sich der Himmel über die weite Landschaft, die schwarzen Gipfel und Grate. Immer mehr Sterne sind zu sehen, nicht nur die Venus – hell funkelnd im Westen herabsinkend, Lichtstrahlen in die Pupillen schickend –, sondern Sternbilder: Großer Wagen, Schütze. Hinter diesen liegt das Zentrum der Milchstraße, ein schwarzes Loch, die Masse von vier Millionen Sonnen zusammenballend, so dicht, dass die Erde, würde sie dorthin verschluckt, in einer Cappuccino-Tasse Platz hätte.
Bei diesem Anblick beschleichen mich Gefühle, die stärker und stärker werden. Staunender Schwindel, wenn ich die kosmischen Tiefen und Weiten zu erahnen versuche. Viele Sterne, die so winzig glitzern, teils gleißend, teils rötlich, sind tausendfach größer als die Sonne. VY Canis Majoris würde in unserem Sonnensystem bis zum Saturn glühen. Viele Sterne sind längst erloschen. Aber die Photonen, vor Jahrmillionen weggeschleudert, jagen noch immer durch das gewaltige All, in jeder Sekunde eine Strecke von mehr als siebenmal um die Erde. Sie treffen auf Millionen von Zellen im Augapfel, auf die Retina, die die Impulse in den visuellen Cortex im Hinterkopf schickt. Größenvergleiche fallen ein: Unsere Milchstraße, spiralförmig, reduziert auf zehn Kilometer Durchmesser, durchschnittlich einen Kilometer hoch, darin ein imaginiertes Schneetreiben. Unsere Sonne wäre eine von mehr als 100 Milliarden Schneeflocken und so winzig, dass sie durch ein Mikroskop nicht zu sehen wäre. Unser gesamtes Sonnensystem bis zur Umlaufbahn des Pluto: ein winziger Punkt von 0,1 Millimeter Durchmesser.
Ein greller Lichtstrahl, jäh erloschen: eine Sternschnuppe! Aber was, wenn es ein Asteroid gewesen wäre, zehn Kilometer im Durchmesser, zwar ein kosmisches Staubkorn, aber ganz Salzburg zermalmend und pulverisierend, die Säuglingsstation wie den Flughafen, einen gewaltigen Krater reißend, Milliarden Tonnen Staub aufwirbelnd, sodass der Himmel über Jahre verdunkelt bliebe? Diese Bilder erzeugen Angst, ebenso die unbegreiflichen Gewalten da draußen, dichteste Materie, die jedes Licht verschluckt; lohende Hitze, Millionen Grad, alles zerschmelzend, und klirrendste Kälte, in der jedes Leben zersplittert!
Doch in die Furcht mischt sich das Staunen, dass dies alles überhaupt ist, dass gerade ich gerade jetzt meinen Atem als blasse Schwade diesen Tiefen entgegenhauchen darf, die schon Jahrmilliarden waren, bevor mein Herz schlug – und dies nur kürzeste Zeit, auch wenn dies Leben 100 Jahre währen sollte. Und das dankbare Staunen, dass ein milder Windhauch die Stirne umfächelt und in diesem gewaltigen Kosmos plötzlich, wie aus dem Nichts, das muntere Lachen eines Kindes zu hören ist, das an der Hand der Mutter daherkommt, um auf die nächtliche Stadt sehen zu können. »Ist das schön!«, sagt es. Und mir geht durch den Kopf: Dass dieses Mädchen jetzt atmen und schauen kann, dafür lebten und starben Millionen von Generationen, erst mäuseartige Säuger, dann sich aufrichtende Primaten und schließlich betende Menschen; dafür wurden Billiarden Spermien ausgestoßen, pochten unzählige Herzschläge Meere von Blut durch die Adern in die Kapillaren und zu den unendlich vielen Synapsen.
Nun leuchtet im Westen nur noch ein schmaler oranger Streifen über der nächtlichen, schweigenden Erde. Mir ist, als dehne sich das staunende Bewusstsein weit in den nächtlichen Himmel hinein, die Frage nach sich ziehend: »Wie im gewöhnlichen Leben allen diesen Wundern ähnlicher werden?« Viele Vorsätze drängen sich auf: tiefer empfinden, bewusster leben, gelegentlich innehalten.
Was bisher beschrieben wurde, lässt sich »Ehrfurcht« nennen: Die Begegnung mit etwas viel Größerem, Stärkerem, Geheimnishaftem, das erschauern lässt, Gänsehaut erzeugen kann und dazu motiviert, diesem im Geist, in der Seele, im Verhalten ähnlicher zu werden. Allerdings: Viele Menschen stoßen sich an diesem Wort. »Ehrfurcht, nein, nur das nicht!«, beteuerte eine Studentin. »Ehrfürchtig mussten wir in der Kirche sein, knien, den Kopf senken, uns an die Brust schlagen, schuldig! Ehrfurcht läuft doch nur auf Macht und Unterwerfung hinaus!« In der Tat: Viele Mächtige dieser Welt umgaben und umgeben sich mit einem Nimbus der Ehrfurcht. Der frühere Diktator in Nordkorea, Kim Jong-il, pflegte sich als göttliche Führergestalt zu präsentieren, die vom Himmel herabschwebt – die Menschen sanken in die Knie. Die Nationalsozialisten ließen das 245 Meter lange Luftschiff »Hindenburg« über großen Menschenmassen kreisen, so bei den Olympischen Spielen in Berlin, um Ehrfurcht ins Riesenhafte zu steigern. Generationen von Christen wurden zu Ehrfurcht gegenüber geistlichen Vätern erzogen, denen zu widersprechen undenkbar war. Der Katholizismus sei »die größte, die heiligste Schule der Ehrfurcht«.1 Ab dem Jahre 1910 hatten alle Kleriker zu schwören: »Ich unterwerfe mich mit gebührender Ehrfurcht«2 – nicht Gott, sondern dem päpstlichen Lehramt.
Aber: Was missbraucht wurde (und wird), muss deswegen kein Übel sein. Gilt dies nicht in besonderem Maße für Ehrfurcht? Kein Geringerer als Johann Wolfgang Goethe schrieb in seinem Bildungsroman »Wilhelm Meisters Wanderjahre«: »Aber eins bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei: … Ehrfurcht.«3 Und Albert Einstein, der tief in die schwindelerregenden Weiten des Universums und in das Mysterium der Atome zu blicken vermochte, sagte: »Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits tot.«4
Dieses Buch will »Ehrfurcht« aus den Fesseln befreien, die um sie geschnürt wurden, weil Menschen stumm ihr Haupt senken sollten: vor Herrschern, Kirchenfürsten, Pracht- und Machtbauten. Es soll deutlich machen, dass Ehrfurcht vielmehr als tiefe Emotion zu würdigen ist, die den Menschen gerade nicht klein macht, sondern ihn zu seiner wahren Größe erheben, das Leben enorm bereichern und vertiefen kann. Auch wird belegt, dass Menschen im 21. Jahrhundert keineswegs so seicht und ehrfurchtslos sind, wie vielfach behauptet wird, auch von Vertretern der Kirche: Ehrfurcht sei in unserer materialistischen Lebenswelt ein Fremdwort geworden.
Ehrfurcht, wenn intensiv, mit Gänsehaut und als Erschauern erlebt, kann das Leben tief verändern. Eine klassische Schilderung findet sich in der Bhagavadgita, einer alten heiligen Schrift der Inder. Sie erzählt, wie der Königssohn Arjuna gegen ein übermächtiges Heer kämpfen soll. Er ist niedergeschlagen, verzweifelt. Da erscheint ihm Krishna und lässt ihn durch ein göttliches Auge schauen. Als er das ewige Brahma erblickt, heller als tausend Sonnen, und die Kleinheit der Menschen vor dem alles verschlingenden Rachen des Todes, gerät er in tiefste Ehrfurcht. Und rafft sich in neuer Stärke auf, um den Kampf zu bestehen.
Obschon Ehrfurcht die Psyche stärken kann, habe die Psychologie zu ihr »erstaunlich wenig zu sagen«.5 Eine weithin vergessene Ausnahme ist Carl Gustav Carus, zu seinen Lebzeiten in der Romantik (1789–1869) ein angesehener Mediziner, Naturforscher und Psychologe. Neben der Liebe sei Ehrfurcht die »Spitze und reinste Blüte der Achtung«, »die reinste Verklärung des Empfindens der Seele«, die, anders als beim rohen Menschen, der die Natur fürchte, Bildung voraussetze.6 Wenn der Mensch die Natur und das Leben in »wahrer« Ehrfurcht betrachte, sei »ihm ein heiliges Asyl bereitet, in welchem er gegen manche Stürme sicheren Schutz und beseligende Ruhe findet«.7 Tatsächlich sprechen die wenigen einschlägigen psychologischen Studien dafür, dass Ehrfürchtige psychisch stabiler sind.8 Dass die Psychologie ausblendete, was aus der Sicht Goethes den Menschen nach allen Seiten hin Mensch sein lasse, ist dadurch bedingt, dass »Ehrfurcht« alsbald kirchlich besetzt wurde. PsychologInnen stellten sich in zahlreichen Umfragen als die am wenigsten religiösen Akademiker heraus. Sofern die Psychologie die »Seele« also wiedergewinnen will, die sie in ihrer Gründungsphase demonstrativ verabschiedete (»Psychologie ohne Seele«), kommt sie an Ehrfurcht nicht vorbei.
Zaghaft mehren sich die Ansätze zu einer Psychologie der Ehrfurcht, im angelsächsischen Raum intensiver als hierzulande, möglicherweise weil »awe« dort verbreiteter ist, speziell das auch von Jugendlichen verwendete »awesome«, was nicht nur »ehrfurchtgebietend« bedeuten kann, sondern auch »super« und »affengeil«. Der Ehrfurcht angenommen hat sich die Positive Psychologie. Emotionen wie Ehrfurcht (awe) und Erhebung (elevation) tiefer zu verstehen, sei eine vordringliche Zukunftsaufgabe.9 Kirk Schneider plädierte dafür, zu einer Psychologie aufzuwachen, die auf Ehrfurcht gegründet ist...